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Neuanfänge

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Emma

"Emma, du musst aufstehen! Wir müssen in einer Stunde los. Ich habe dir dein Lieblings-Frühstück gemacht: frische Himbeer-Waffeln mit Nougatsahne. Das magst du doch so gerne. Ich dachte, zum Abschied noch ein letztes Mal..."

Die Stimme meiner Mutter riss mich aus dem kurzen Schlaf.

"Ach Mama, noch fünf Minuten. Bitte..."

Ich versuchte, mir die Ohren mit meinem Kissen zuzudecken und kuschelte mich enger in meine herrliche Bettwäsche mit dem beleuchteten Eiffelturm-Druck.

Jetzt begann sie energisch die Jalousien hochzuziehen.

"Nichts da, Schatz, wenn du nicht aufstehst, kommst du zu spät zur Einführung und musst außerdem eines der verbliebenen Zimmer im Wohnheim beziehen, weil die Guten alle schon weg sind."

"Okay, ich komme gleich runter", brummte ich verschlafen und krabbelte aus meinem Bett.

Gähnend schnappte ich mir meine Kleidung, die ich schon am Vorabend rausgelegt hatte, von meinem Sessel und verschwand damit im Bad. Ich duschte schnell, trocknete mich ab, schlüpfte in meine Unterwäsche und streifte meine Lieblingsjeans über. Das Ganze rundete ich mit einem schlichten weißen Trägertop und einem roten, nicht zu feinen, aber dennoch schicken Blazer ab. Meine schulterlangen Haare ließ ich offen, zupfte lediglich ein paar meiner honigblonden Locken zurecht.

Meine Haare waren von Natur aus gewellt, etwas, worum mich meine Freundin Bettina schon immer beneidet hatte. Sie hatte glattes, feines Haar, deshalb hielten Locken bei ihr nicht einmal eine Stunde lang.

Eilig trug ich etwas Mascara auf und rannte die Treppe hinunter in unsere kleine, aber gemütliche Küche. Nur meine Mutter saß noch am Frühstückstisch und wartete auf mich. Als ich mich setzte, reichte sie mir einen Teller mit den Waffeln und eine Schüssel mit der Nougatsahne.

"Mmh, danke Mum. Die Waffeln sehen fantastisch aus!", lobte ich sie und stellte mit Wehmut fest, dass dieser Luxus, den ich gerade noch genoss, bald ein Ende hatte. Aber natürlich freute ich mich trotzdem auf mein neues Abenteuer!

Mein Vater war leider schon außer Haus. Von ihm hatte ich mich schon am Vorabend verabschieden müssen. Er war Bäcker und musste schon um halb vier auf der Arbeit sein, damit die Backwaren rechtzeitig fertig wurden, bis die ersten Kunden kamen und die frisch duftenden, noch lauwarmen Brötchen mitnehmen konnten.

Meine Mutter war die einzige Person, die von meinem Männer-Problem wusste. Natürlich bin ich nicht einfach zu ihr hingegangen und habe gesagt:

"Du Mama, ich muss dir etwas erzählen..."

Nein. Das wäre mir viel zu peinlich gewesen! Sie hat mehr oder weniger so lange nachgebohrt, bis es aus mir herausgebrochen ist. Wann es passiert ist, weiß ich noch genau:

Es war in der Woche, in der ich meine Verabredung mit Danny hatte. Zum Frühstück brachte ich damals keinen Bissen hinunter, weil mein Magen vor Anspannung schon wieder Achterbahn fuhr. Da ich selbst meine heißgeliebten Himbeer-Waffeln am Frühstückstisch verschmähte, wurde meine Mutter langsam misstrauisch und wollte wissen, was denn mit mir los sei.

Meinen Beteuerungen, dass alles in bester Ordnung sei und ich einfach in der Schule viel um die Ohren und deswegen keinen Appetit frühmorgens hatte, schenkte sie keinen Glauben. Wahrscheinlich sah sie mir an der Nasenspitze an, dass ich log oder aber auf meiner Stirn stand in dicken, schwarzen Buchstaben das Wort "LÜGNER".

"Emma, das glaube ich dir nicht. Die Schule kann nicht der Grund sein, du hast gute Noten. Und wegen Mathe brauchst du dich auch nicht zu sorgen. Das Schuljahr ist bald zu Ende und deine Vier wirst du halten."

Sie nahm meine zierliche Hand in ihre und sah mich aus ihren haselnussbraunen Augen besorgt an.

"Ich kann in deinen Augen sehen, dass da noch etwas anderes ist, das dir Kummer bereitet."

Ich traute mich nicht, sie anzusehen und so hielt ich meinen Blick auf die blau gesprenkelte Tischdecke gesenkt.

"Emma, Schatz, dir ist seit Tagen morgens schlecht und du hast keinen Hunger. Ich weiß rein gar nichts über dein Liebesleben, weil du bei dem Thema immer abblockst, aber kann es sein, dass... dass du..."

"Oh Gott, Mama, du meinst doch nicht etwa, ob ich schwanger bin??", beendete ich ihren Satz und sah sie entsetzt an.

"Nein, natürlich nicht!... Naja, irgendwie kam mir der Gedanke in den Sinn eben wegen der Morgenübelkeit. Aber ich hoffe nicht! Du bist mit deinen 17 Jahren viel zu jung und hast noch nicht einmal eine abgeschlossene Schulausbildung!"

Traurig dachte ich darüber nach, dass ich mit meinem Problem sowieso nie schwanger werden würde und sprach den Gedanken aus Versehen laut aus.

"Was hast du gesagt? Wieso glaubst du, dass du nie Kinder haben wirst?"

Ich stützte die Ellenbogen auf dem Tisch ab und ließ meinen Kopf hineinfallen.

"Weil ich niemals einen Freund haben werde. Deswegen!"

"Ach Schatz, sag doch so was nicht."

Dann nahm sie mich in ihre tröstenden Arme und ich erzählte ihr schluchzend von meiner unbändigen Angst vor Beziehungen, Männern, meiner ständigen Übelkeit und auch von Danny. Sie reagierte so, wie ich es mir erhofft hatte.

An diesem Tag ging ich nicht in die Schule, weil mir ohnehin hundeelend war. Meine Mutter hatte donnerstags immer frei, da sie die Chefin ihrer Gärtnerei war und sich ihre Zeit mehr oder weniger selbst einteilen konnte. So machten wir es uns auf dem Sofa gemütlich, wo wir stundenlang über meine Ängste redeten. Ich versicherte ihr, dass ich nicht schwanger war, da ich ja noch nie Sex hatte und sie gab mir Ratschläge, wie ich das bevorstehende Date mit Danny lockerer angehen lassen könnte.

Trotz ihres lieben Rates ging mein Rendezvous mit meinem damaligen Herzblatt dank meiner Spei-Attacke und der anschließenden überstürzten Flucht aus seinem Auto leider in die Hose.

Als ich ihr davon berichtete, meinte meine Mutter dazu:

"Wenn er dich wirklich interessant findet, wird er mit dir über den Vorfall reden wollen und dich nicht einfach in der Schule ignorieren. Sollte er dir dennoch aus dem Weg gehen, kannst du ihn sowieso vergessen! Er sollte dich nämlich so akzeptieren, wie du bist!"

Von ihren Worten war ich sehr gerührt. Dass ich mich ihr anvertraut hatte, hat uns, meiner Meinung nach, enger denn je zusammengeschweißt.

Leider hatte mich Danny seit diesem Abend nicht einmal mehr mit seinem, bestimmt äußerst knackigen, Allerwertesten angeschaut, was mich damals sehr traurig stimmte, mir jetzt aber an meinem, mindestens genauso knackigen, Frauen-Po vorbeiging.

Während des Frühstücks unterhielten meine Mutter und ich uns darüber, welchen Wahlkurs ich noch belegen sollte. Ich wollte gerne Italienisch nehmen, da ich schon ein paar Mal in Italien Urlaub gemacht hatte und mir die Sprache sehr gut gefiel.

Sie hingegen war der Meinung, Chinesisch wäre später für den Beruf sinnvoller und außerdem könne ich schon so viele romanische Sprachen, da wäre diese Exotische mal etwas ganz anderes.

"Das mit dem Wahlkurs muss ich ja erst in der nächsten Woche entscheiden. Viel wichtiger ist, dass ich mir schon wieder Gedanken mache, wenn ich jemanden kennenlerne und dann wieder Übelkeit verspüre. Am allerwichtigsten ist mir natürlich die Ausbildung, aber es kann ja immer möglich sein, dass ich mich verliebe und mein Problem die Sache dann wie immer kompliziert macht."

"Ach Emmalein, denk einfach nicht so viel vorher darüber nach und lass es auf dich zukommen. Ich weiß, das ist leichter gesagt als getan, aber einen anderen Ratschlag habe ich nicht für dich! Ich weiß nur, dass du ein bildschönes, junges und kluges Mädchen bist und der Junge, der dich bekommt, sich glücklich schätzen kann."

Zuversichtlich lächelte ich sie an.

"Danke, Mama! Du bist die Beste!"

Sie schenkte mir ein Strahlen zurück.

"Und jetzt los, in 20 Minuten müssen wir fahren. Sonst fängt dein neues Abenteuer ohne dich an."

Zusammen hievten wir meinen Koffer in unseren Kombi und dann ging es auch schon los. Der Abschied von unserem Haus fiel mir schwer. Immerhin hatte ich 19 Jahre hier gelebt. Ich liebte dieses Haus mit seiner roten Fassade und dem für den Norden typischen Flachdach.

Mit einem Schmunzeln erinnerte ich mich daran zurück, wie ich als kleines Mädchen im Sommer immer aus meinem Fenster auf unsere angrenzende Garage, die genau unter meinem Fenster endete, geklettert bin und es mir da oben mit einer Decke, einem guten Buch und einem Becher unserer selbstgemachten Himbeermilch gemütlich gemacht hatte. Hier konnte ich oft Stunden verbringen und einfach vor mich hinträumen. Dort oben fühlte ich mich, als könnte ich alles schaffen.

Irgendwann, als ich älter wurde, war es mir jedoch zu lästig geworden, immer diese ganzen Dinge auf das Dach zu schleppen und so suchte ich mir einen neuen Ort zum Lesen: unsere Hängematte.

Die drängende Stimme meiner Mutter riss mich aus meinen Gedanken.

"Emma, komm jetzt endlich. Los, steig ein."

Ich strich mir eine Strähne meiner honigblonden Locken hinters Ohr, warf noch einen letzten Blick auf unser Haus und stieg dann ein.

Die Fahrt von Ostereistedt nach Hamburg dauerte ungefähr eineinhalb Stunden. Je näher wir der Stadt kamen, desto nervöser wurde ich. Meine zukünftige Schule lag zentral in der Altstadt von Hamburg. Nur fünf Gehminuten von der Schule entfernt fand man die Haltestelle der U-Bahn, mit der man nur ein paar Minuten fuhr, ehe man die für Hamburg berühmten Landungsbrücken erreichte. Auch die Kaufhäuser und Geschäfte musste man nicht lange suchen. Lediglich ein Straßenseitenwechsel und das Überqueren einer Brücke waren nötig und schon befand man sich am Anfang einer wunderbaren Einkaufspassage, die nur darauf wartete, von neugierigen Konsumenten entdeckt zu werden.

Das alles hatte ich schon herausgefunden, als ich mit meiner Mutter am Tag der offenen Tür der Schule hier gewesen war. Aufgeregt stellte ich mir vor, wie ich nach dem Unterricht mit meinen neu gewonnenen Freundinnen die Läden unsicher oder in einem Café mit ihnen Latte Macchiato trinken und plaudern würde. Alleine würde ich einen Ausflug zu den Landungsbrücken unternehmen und dort in all den kleinen Souvenirläden, die ich nur kurz am Besichtigungstag gesehen hatte, bummeln gehen. Der verlockende Duft von frischen Krabbenbrötchen würde mir in die Nase steigen und ich würde mir wünschen, nie mehr aus Hamburg wegzugehen...

"So Schatz, wir sind da."

Ich hatte so sehr in meinen Vorstellungen gehangen, dass ich gar nicht mitbekommen hatte, dass wir unser Ziel in diesem Moment erreichten.

Vor uns erstreckte sich ein langer Gebäudekomplex mit großzügigen Fenstern und einer einladenden Dachterrasse. Die Fassade des Hauses war in einem blassen, nicht auffälligen Orangeton gestrichen und trotzdem stach es von den umliegenden in Grau gehaltenen Nachbarbauten heraus. In weißen Großbuchstaben waren die Wörter Impresa Fremdsprachen- und Dolmetscherschule Hamburg zu lesen. Davor befand sich ein weitläufiger Pausenhof mit ein paar hochgewachsenen Kastanienbäumen und Sitzgelegenheiten, die zwischen den Unterrichtseinheiten zum Verweilen einluden. ‚Oder man verbringt seine Freizeit lieber auf der tollen Dachterrasse und lässt sich die Sonne auf den Bauch scheinen‘, dachte ich mit einem Grinsen und spürte innerlich Vorfreude.

Ungefähr 200 Meter weiter befand sich ein weiterer Bau in demselben Farbton, allerdings hatte dieser kleinere Fenster und keinen Schriftzug. Die beiden Gebäude waren durch einen verglasten überirdischen Gang miteinander verbunden, in dem sich, wie ich jetzt sah, Schüler bewegten. Denselben Durchgang gab es auch noch etwas weiter oben, ungefähr im zweiten oder dritten Stock.

Der Tag der offenen Tür lag schon fast ein Jahr zurück und meine Anmeldung für die Ausbildung hatte ich damals per Post geschickt, deshalb war ich nun über die Größe der Schule etwas verblüfft.

"Wow, so riesig hatte ich sie gar nicht mehr in Erinnerung...", sagte ich mehr zu mir selbst.

“Möchtest du, dass ich mit reinkomme? Oder willst du lieber alleine gehen?", fragte mich meine Mutter zaghaft.

"Du kannst mich noch bis zur Eingangstür begleiten, wenn du möchtest."

Wir hatten gegenüber dem Gelände einen Parkplatz gefunden und gingen nun auf die Schule zu. Ich sah auf meine Armbanduhr. Viertel vor Elf. In 15 Minuten begann die Einführung, bei der die Direktorin die neuen Schüler begrüßte und eine Rede hielt. So stand es zumindest auf dem Einladungsschreiben, das ich per Post erhalten hatte.

Darauf war ebenfalls das Lehrmaterial aufgelistet, das ich das Schuljahr über benötigte. Für den Englischunterricht hatte ich die meisten Bücher kaufen müssen - vier verschiedene. Für Französisch waren es zwei und für Spanisch nur eins, da diese Sprache im ersten Jahr nur nebensächlich war.

Wir erreichten die andere Straßenseite und mit jedem Schritt wurde ich unruhiger. Zögerlich ging ich auf das orangefarbene Gebäude zu. Meine Mutter, der meine Anspannung nicht entgangen war, begleitete mich, worüber ich jetzt doch ganz froh war.

"Bist du sehr nervös, Schatz?", fragte sie mich und legte mir beruhigend ihre Hand auf die Schulter.

Ich schluckte aufgeregt.

"Ja, schon etwas. Was ist, wenn ich keine Freunde finde? Oder mir mein Problem wieder in die Quere kommt?"

"Ach Schätzchen, das wird schon. Alles der Reihe nach, du wirst sehen!"

Sie nickte mir aufmunternd zu. Ich lächelte sie skeptisch an.

Vor der Eingangstür hatten sich mehrere Schüler versammelt, die teilweise auch von ihren Eltern gebracht wurden, teilweise aber auch alleine kamen. Es war zwar sehr nett von meiner Mutter gewesen, dass sie mich bis zum Eingang begleitete, jedoch wollte ich nicht, dass sie mit hineinkam. Nein, von hier an wollte und musste ich es auf eigene Faust schaffen.

Wir hielten am Treppenabsatz an und ich drehte mich zu ihr.

"So Mum, ab hier schaffe ich es allein."

"Bist du sicher, Mäuschen?"

Sie sah mich zögerlich an.

"Klar! Grüß Papa von mir. Und bitte vergiss nicht, meine Fische zu füttern, solange ich weg bin."

Ich umarmte sie.

Sie drückte mich liebevoll an sich.

"Ich bin so stolz auf dich, Emma. Du wirst dich bestimmt schnell einleben. Genau wie Valentina damals. Melde dich heute Abend kurz, wie der erste Tag gelaufen ist, okay?", sagte sie. "Und keine Sorge wegen der Jungs", fügte sie flüsternd hinzu.

"Ja, ich gebe Bescheid. Danke für alles, Mama. Jetzt muss ich aber los. Mach's gut!", sagte ich, nahm meinen Koffer, straffte die Schultern und stieg die wenigen Stufen zur Eingangstür hinauf.

Die anderen Schüler, die vorhin noch draußen standen, waren in der Zwischenzeit alle hineingegangen. Hoffentlich kam ich nicht zu spät. Mein Herz klopfte wild vor Aufregung. Ich war bereit für mein neues Leben in der Großstadt.

Ich atmete noch einmal tief durch und legte meine Hand auf die kunstvoll verzierte Klinke der großen Holztür. Ich drückte sie herunter und zog daran. Nichts geschah. Da kapierte ich, dass ich nicht ziehen, sondern drücken musste. Typisch ich, so etwas passierte mir ständig, wenn ich unterwegs war.

Bettina sagte nicht ohne Grund zu mir "Emma und die Türen..." und sah mich jedes Mal mit einem belustigten Blick an. Dieses Mal drückte ich dagegen und wieder geschah nichts.

"Das gibt's doch nicht! Wahrscheinlich klemmt sie bloß", murmelte ich vor mich hin und stemmte mich mit meinem ganzen Gewicht dagegen. In diesem Moment merkte ich, wie jemand die Tür auf der anderen Seite schwungvoll aufriss, sodass ich hineingezogen wurde und direkt in die Arme eines Fremden taumelte.

Wenn Träume wahr werden

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