Читать книгу Wenn Träume wahr werden - Anja Michl - Страница 8
Der erste Tag
ОглавлениеEmma
Geschafft, aber glücklich, ließ ich mich rückwärts auf mein neues Bett in meinem Wohnheimzimmer fallen. Es war mein erster Abend in Hamburg und ich war gerade damit fertig geworden, es ein bisschen wohnlicher zu gestalten. Eben hatte ich eine kurze Nachricht an meine Mutter geschickt.
Ich verschränkte die Arme hinter dem Kopf und seufzte zufrieden auf. Mein neues Zimmer, das ich mir mit Lucía teilte, gefiel mir echt gut. Es war weiß gestrichen und besaß moderne Möbel aus hellem Holz. An der einen Wand stand mein Bett und neben meinem, an der anderen Wand, Lucías. Dazwischen war ein großes Fenster, das uns Licht spendete. Von meinem Bett aus konnte ich auf unseren geräumigen Schrank blicken, in dem wir vorhin schon unsere Kleidung verstaut hatten und rechts neben dem Schrank ging es in unser kleines Bad mit Dusche und WC. Es war zwar winzig klein, aber ich war sehr froh darüber, dass ich mir die Dusche nicht mit zwanzig anderen Mädels teilen musste.
Dann gab es noch zwei kleine Schreibtische. Auf einem von beiden lag mein Stundenplan, den ich vorhin bei Frau Ahrens abgeholt hatte. Neben meinem Bett hatte ich an der Wand ein paar Fotos angebracht, um meinem Bereich des Zimmers eine persönliche Note zu verleihen. Ein Foto zeigte Bettina und mich. Es wurde vor dem Konzert unserer Lieblingsband aufgenommen. Noch bevor ich die neuen Schuhe von Bettina vollgekotzt hatte. Wir waren darauf in Fanshirts und mit dem Namen der Boyband zu sehen, den wir uns mit schwarzem Stift auf die Stirn geschrieben hatten.
Auf einem anderen waren meine Eltern, Valentina und ich am Strand von Sizilien zu sehen. Wir Frauen trugen alle bunte Sommerkleider und mein Vater hatte glücklich die Arme um uns geschlungen. Die Aufnahme war ein Jahr alt. Ein warmes Gefühl breitete sich in meinem Bauch aus und ging über in meinen ganzen Körper, als ich daran dachte, wie wunderschön dieser Urlaub gewesen war.
Dann gab es noch ein Bild, das meine Schwester und mich bei einem unserer Mädelsabende zeigte – wir schnitten Grimassen und hatten eine selbstgemachte Avocado-Maske im Gesicht. Valentina streckte der Kamera frech ihre Zunge heraus.
Auf der letzten Fotografie war ich zu sehen, wie ich auf einer flauschigen Decke auf unserem Dach saß, ein Buch auf den Knien liegen hatte und meinen Becher Himbeermilch grinsend in die Kamera hielt, meine geflochtenen Zöpfe flogen nur so umher. Auf dem Bild war ich ungefähr sieben Jahre alt. Ich musste lächeln als ich das Foto nun betrachtete.
Die Tür flog auf. Lucía kam herein, ihr langes dunkles Haar wallte um sie herum.
"Chica", begrüßte sie mich. "Werf dich in deinen schärfsten Fummel und dann machen wir Party!"
Sie lief immer noch im Minirock herum, obwohl es mittlerweile echt frisch war.
"Sag mal, frierst du gar nicht?", überging ich ihre Forderung.
Sie ließ sich auf ihr eigenes Bett nieder und wippte auf und ab, wie als würde sie auf einem Gymnastikball sitzen. Dieses Mädchen war wie ein Flummi, ständig in Bewegung. Sie schüttelte den Kopf.
"Nö. Und jetzt komm! Ich will Hamburg unsicher machen."
Sie warf mir ein Kissen zu, das mich mitten ins Gesicht traf. Ich setzte mich auf und zahlte es ihr mit gleicher Münze heim.
"Ach Lucía, ich weiß, dass du es liebst zu feiern, aber können wir das bitte auf morgen Abend verschieben? Ich will heute früh ins Bett gehen, damit ich morgen ausgeschlafen bin." Sie schürzte gespielt beleidigt die Lippen und seufzte tief.
"Na gut. Aber dann musst du mir jetzt erklären, was deine Fotos an der Wand bedeuten."
Ich grinste und fing an zu erzählen.
Am nächsten Morgen standen wir zeitig auf und machten uns für den ersten Schultag zurecht. Ich kam viel schlechter aus dem Bett als Lucía – sie pfiff schon morgens um sieben Uhr gut gelaunt ein spanisches Lied vor sich hin.
Ich entschied mich für eine dreiviertellange weiße Jeans, ein pinkes Top, darüber eine Jeansjacke und schlichte weiße Ballerinas. Rasch packte ich meine Tasche zusammen und kurz darauf verließen wir beide unser Zimmer.
Bei der Teeküche, die für unsere gesamte zweite Etage gedacht war, legten wir einen Zwischenstopp ein, um uns aus dem Kühlschrank unser Frühstück – belegte Brötchen, die Lucía gestern Abend für uns in der Cafeteria besorgt hatte – zu holen. Diese aßen wir im Gehen, wobei ich sowieso fast nichts herunterbrachte, weil ich wegen der neuen Situation etwas nervös war. So ließ ich das Brötchen angebissen in die Verpackung zurückgleiten und verstaute es in meiner Tasche.
Da wir im zweiten Stock wohnten, hatten wir das Glück direkt über den überirdischen Gang in die Schule gehen zu können. Die Schüler, die jedoch im ersten Stock wohnten, mussten entweder ein Stockwerk hoch oder ein Stockwerk runter, um in die Schule zu gelangen. Eine Glastür schwang automatisch auf, als wir näherkamen und schon trennten mich nur noch ungefähr 30 Meter von meinem ersten Schultag. Vor und hinter uns waren ebenfalls Schüler, die auch auf dem Weg in den Unterricht waren. Vorfreude erfüllte mich und mischte sich mit meiner Aufregung.
So lange hatte ich davon geträumt, endlich Fremdsprachenkorrespondentin zu werden und nun hatte ich die Chance, diesen Traum zu verwirklichen. Das fühlte sich toll an. Ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Ich sah zu Lucía und mein Lächeln verblasste. Sie war kreidebleich und blickte ängstlich. Ich fasste sie am Arm.
"Hey Lucía, was ist denn? Du bist ja ganz blass."
"Äh, ja, ähm…der Gang…ist…er ist hoch…er ist ganz schön hoch…", stotterte sie.
Nanu? Ich kannte sie erst den zweiten Tag, aber in dieser kurzen Zeit war sie kein einziges Mal um einen flotten Spruch verlegen gewesen. Doch nun war ihr Selbstbewusstsein wie weggeblasen.
"Hast du Höhenangst?"
Sie nickte nur.
Ich beruhigte sie: "Hey, ganz ruhig. Sieh einfach nicht nach rechts oder links. Nur geradeaus. Gleich haben wir es geschafft."
Wir waren in einem weiteren Korridor angelangt, von dem verschiedene Räume abzweigten. Lucía hatte sich wieder beruhigt, jetzt, nachdem sie den Gang überwunden hatte. Sie steuerte unser Klassenzimmer an, warf dabei selbstbewusst ihre Haare über die Schulter.
Bei der vierten Tür auf der rechten Seite – Raum E214 – blieben wir stehen. Nervös – oder in Lucías Fall weniger nervös – traten wir durch die angelehnte Tür.
Der Raum war groß. Es gab überwiegend Zweierbänke, nur die letzte Reihe war hufeisenförmig angeordnet. Diese anscheinend beliebte Sitzreihe war schon komplett besetzt. Deshalb schnappten Lucía und ich uns einen Tisch in der vorletzten Reihe, bevor es jemand anderes tun konnte. Logisch, dass wir nebeneinander sitzen wollten. Was war ich erleichtert, dieser unangenehmen Situation, sich neben jemand Fremdes setzen zu müssen, entgehen zu können.
Ich sah mich um. Links von mir waren mehrere große Fenster, durch die uns jetzt schon die Sonne kräftig begrüßte. So wie es aussah, würde es ein angenehm warmer Tag werden. An den restlichen Wänden waren bunte Plakate angebracht. Da dies hauptsächlich unser Englischzimmer war, waren die Poster in englischer Sprache – Verbentabellen, Karten von Großbritannien und Amerika, Redewendungen und Sprichwörter.
"Good Morning, Ladies and Gentlemen! My name is Mary Bolt and I am your teacher for English Correspondence and Business Translation."
Eine kleine, schlanke Frau Anfang vierzig war zur Tür hereingerauscht, stellte schwungvoll ihre Sachen auf dem Lehrerschreibtisch ab und wandte sich uns zu. Sie blickte strahlend in die Klasse. Sie hatte dunkelbraune, kurze Haare und war, ihrem Namen und ihrer Aussprache nach zu urteilen, Muttersprachlerin. Tatsächlich entpuppte sie sich als Britin.
Nach einer kurzen Vorstellungsrunde unsererseits stiegen wir auch schon in den Unterrichtsstoff ein. Begeistert schlug ich mein großes Buch für Correspondence auf und tauchte augenblicklich in die englische Geschäftswelt mit all ihren Anfragen, Angeboten, Aufträgen und Reklamationen ein. Wobei wir mit der Anfrage starteten. In null Komma Nichts hatte Mrs. Bolt die ganze Tafel vollgeschrieben. Sie legte schon jetzt ein zügiges Tempo an den Tag und gab uns Hausaufgaben für nächste Woche auf.
Als nächstes hatten wir spanische Grammatik bei Señora Carmen García. Señora García war eine kleine, freundlich dreinblickende Frau, die mir sofort sympathisch war. Sie bestand ebenfalls darauf, dass wir uns kurz vorstellten - "En español, por favor!" -, was für Lucía selbstverständlich ein Leichtes war. Selbstbewusst ratterte sie in fließendem Spanisch ihren Namen, ihr Alter und ihre Herkunft herunter.
Nach ihr war ich an der Reihe. Zwar nicht ganz so selbstbewusst, aber dennoch sicher präsentierte ich mich der Klasse. Beeindruckt über meine Spanischkenntnisse nickte Señora García und lächelte mir zu. Entspannt lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück. Meine Aufregung von vorhin war vorbei. Bis jetzt lief alles sehr gut. Ich sah mich in der Klasse um. Auf den ersten Blick waren keine allzu hübschen Jungs zu sehen, die mich nervös werden lassen könnten. Sehr gut. So konnte ich mich voll und ganz auf den Unterricht konzentrieren.
Der unbekannte Mann, dem ich gestern bei meiner Ankunft sprichwörtlich in die Arme gestolpert bin, kam mir wieder in den Sinn. Tja, so einen schmucken Kerl gab es halt nur einmal!
Hui, mein Magen machte einen Satz, sobald ich an seine meerblauen Augen dachte. Schnell lenkte ich meine Gedanken auf etwas Unverfängliches – auf die Tatsache, dass der Großteil unserer Klasse weiblich war. Insgesamt waren wir 16 Schüler, davon zwölf Frauen und vier Männer.
Der Tag zog sich so durch, nach Grammatik folgte Textverarbeitung im Keller bei einer blutjungen, blonden Referendarin, die einen sehr naiven Eindruck auf mich machte. Ständig strich sie sich ihre Haarsträhnen aus dem Gesicht und - entweder bildete ich es mir ein oder es war tatsächlich so – sie kümmerte sich besonders viel um den männlichen Part der Klasse und brachte dabei extrem ihr ausladendes Dekolleté zur Geltung.
Lucía machte sich über sie lustig und flüsterte mir amüsiert zu:
"Wenn sie sich noch weiter nach vorne lehnt, fallen ihre Titten gleich auf den Tisch. Offenbar hat die einen sexuellen Notstand."
Ich lächelte nur verkniffen und sagte nichts dazu. Meine sexuellen Erfahrungen beschränkten sich auf einen einzigen Kuss von Danny. Das konnte man nicht einmal ‚sexuell‘ nennen.
In der Mittagspause saß ich mit Lucía und einem Mädchen aus unserer Klasse, die Pauline hieß, zusammen an einem Tisch. Zum ersten Mal hatte ich richtig Appetit und verdrückte ein paniertes Schnitzel mit Pommes.
Pauline Lanton war zwar Halbfranzösin, hatte jedoch wenig mit den sonst so schlanken, grazilen Französinnen gemeinsam. Sie war sehr klein, mit fraulichen Kurven, großer Oberweite und einem rundlichen Gesicht. Schulterzuckend erklärte sie uns, dass sie einiges von ihrer deutschen Mutter geerbt hatte, bis auf die blonden, fast schulterlangen Haare, die hatte sie von ihrem französischen Vater. Sie nahm sich selbst nicht zu ernst, ein Charakterzug, der mir sehr sympathisch war.
Vor der Mittagspause hatten wir eine Doppelstunde Übersetzung in Französisch bei Frau Lenk gehabt. Über besagte Frau diskutierten wir nun hitzig. Denn Frau Lenk, eine hochgewachsene Mittvierzigerin mit blondem Wuschelkopf, hatte leider eine ganz schreckliche Aussprache. Man konnte bei ihr den deutschen Akzent so stark hören, dass die sonst so melodisch und weich klingende Sprache sogar in Lucías Ohren, die auf Anfänger-Niveau trainiert waren, hart klang.
"Das ist doch grausam!"
Pauline fasste sich entsetzt an die Stirn.
"Wie sollen wir das nur zwei Stunden die Woche aushalten? Ich habe das Gefühl meine Ohren sterben ab, wenn ich diesen schlimmen Akzent noch länger ertragen muss! C'est une maladie!"
Ein bisschen kam ihre französische Ader also doch durch, die Lucía allerdings nicht verstand.
"Mala…was?", fragte sie und lachte.
"Maladie. Das heißt "Krankheit", antwortete ich ihr wie aus der Pistole geschossen.
"Streber!", neckte mich Lucía.
Ich streckte ihr spielerisch die Zunge heraus. Pauline lachte.
Als Dreiergespann machten wir nachmittags ein wenig die Stadt unsicher und gönnten uns ein Eis. Die Sonne brannte auf uns herunter und ich musste mich beeilen, die leckere Erfrischung schnell genug zu schlecken, bevor sie mir auf die Hand tropfte.
Lucías Blick ruhte auf mir.
"Sag mal Emma, hast du einen Freund?"
Auch Pauline schaute nun interessiert zu mir. Unwillkürlich tauchte vor meinem inneren Auge das Bild des hübschen Fremden auf.
"Ähm, nein. Und du?"
Ich versuchte schnell die Aufmerksamkeit von mir zu lenken. Dieses Thema war mir immer unangenehm.
"Warum nicht? Du bist so hübsch!"
Sie beugte sich zu mir und berührte meine Haare.
"Ich liebe diese Farbe! Como miel!"
Ich lachte verlegen.
"Miel bedeutet Honig, oder?", wollte Pauline wissen.
Ich nickte und war froh über den Themenwechsel. Doch meine spanische Freundin beließ es nicht dabei.
"Dann müssen wir für dich einen Freund finden! Lasst uns heute Abend ausgehen!"
Ihre dunkelbraunen Augen fingen an zu leuchten. Offenbar fand sie ihre Idee großartig!
"Und ich habe übrigens einen Freund. Leider lebt er in Spanien. Er heißt Tulio und ist der tollste Mann im ganzen Universum!"
Als sie "im ganzen Universum" sagte, breitete sie ihre Arme aus und warf den Kopf in den Himmel. Dadurch zog sie die Blicke aller umstehenden Passanten auf sich, was sie aber überhaupt nicht zu stören schien. Ein älteres Ehepaar blickte neugierig zu uns. Lucía bemerkte es und lächelte ihnen freundlich zu. Überrascht und etwas zögerlich erwiderten sie ihr Lächeln.
Wahnsinn, wie Lucía die Leute in ihren Bann zog. Ich wünschte ich wäre auch nur im Entferntesten so selbstbewusst wie sie…