Читать книгу Wenn Träume wahr werden - Anja Michl - Страница 6
Aller Anfang ist schwer
Оглавление"Hey! Nicht so stürmisch", sagte eine tiefe, männliche Stimme überrascht. Plötzlich wurde ich von zwei starken Armen festgehalten. Der Griff war zwar fest, aber in keinster Weise so, dass es wehtat.
"Geht es wieder?", fragte mich mein Retter.
Ich hob den Kopf, um ihm zu versichern, dass mit mir alles in Ordnung sei und mich zu bedanken, dass er mich aufgefangen hatte, doch als ich ihm ins Gesicht sah, verschlug es mir mit einem Mal die Sprache.
Ich blickte in ein wunderschönes Gesicht mit hohen Wangenknochen und sonnengebräunter Haut. Der junge Mann besaß dichtes, kurzes, braunes Haar, das zum Durchwuscheln einlud und ozeanblaue Augen, in denen wohl jedes Mädchen heillos ertrinken würde. Diese Augen schauten mich jetzt mit einem sorgenvollen Blick an, als ich auf seine Frage nicht antwortete. "Geht es dir gut? Hast du dir wehgetan?", fragte er erneut.
Ich glotzte ihn weiterhin nur an. Hätte nur noch gefehlt, dass ich zu Sabbern anfing. Ich war wie gelähmt. In meinem Kopf schrie eine energische Stimme, ich solle ihm doch gefälligst antworten, dass es mir gut ginge, um dann schnellstmöglich meinen Koffer zu schnappen und pünktlich zu meiner Einführungsveranstaltung zu kommen.
Doch da war noch eine zweite innere Stimme. Eine Stimme, die sanfter war. Geradezu gefühlsbetont. Jene Stimme wollte auch nicht, dass der Fremde mich losließ. Sie wollte weiter von ihm festgehalten werden und dabei in seine fesselnden, wunderschönen Augen blicken.
Gleichzeitig spürte ich aber auch, wie Übelkeit und Nervosität aufstiegen, da ich in diesem Moment realisierte, dass mein Gegenüber mir unheimlich gut gefiel. Dass er mir so durchdringend in die Augen sah, machte es definitiv nicht besser.
Gerade gewann meine Vernunft die Oberhand und ich wollte mich von ihm losmachen, da ertönte eine verärgert klingende Frauenstimme hinter dem jungen Mann, der mich daraufhin selbst losließ.
Verschreckt machte ich einen Schritt zurück und wäre um ein Haar rückwärts über meinen Koffer geflogen. Mit hochrotem Kopf richtete ich mich wieder auf, als auch schon ein bildschönes Mädchen Anfang zwanzig an mir vorbeirauschte, den Fremden im Schlepptau. Ich sah den beiden hinterher.
"Baby, jetzt komm. Ich habe um viertel nach Elf den Termin bei Sonya und den darf ich nicht verpassen! Weißt du, wie schwer es war so kurzfristig einen Termin bei der angesagtesten Nageldesignerin der Stadt zu bekommen?"
"Ja, ich weiß, Victoria!", entgegnete der Mann etwas genervt.
"Ich brauche unbedingt diese Gel-Nägel in Rosé. Die passen doch perfekt zu meinem Kleid für Christins Hochzeit am Samstag. Und du möchtest doch auch, dass ich die Hübscheste bin..."
Das Mädchen drückte ihm einen Kuss auf den Mund. Dann zog sie ihn an der Hand weiter und die zwei verließen das Schulgelände.
Oh man! Das hätte ich mir ja wohl denken können, dass so ein hübscher Typ vergeben ist. So einer will doch nichts von einem Tollpatsch wie mir, ärgerte ich mich und zog energisch an meinem Koffergriff. Meine Übelkeit, die schon wieder etwas nachgelassen hatte, vergaß ich in diesem Moment ganz, denn die Eingangshalle der Schule nahm mich voll und ganz gefangen. Dass sie pompös war, wusste ich noch vom Tag der offenen Tür, aber so pompös…
Links von mir befand sich eine Art Empfang, wie man ihn normalerweise nur aus Hotels kannte. Seine Front war mit dunklem Holz getäfelt. Dahinter stand eine schick angezogene Dame mittleren Alters mit dunklem Pagenschnitt und Brille. Sie musterte mich, sagte jedoch nichts.
Den Boden der gesamten Halle zierte ein edler Marmorboden. Rechts von mir war eine schnuckelige Sitzecke mit kleinen, runden Tischen und gemütlichen Sesseln. Obenauf lagen Zeitschriften in verschiedenen Sprachen. Ich konnte das Wort Comprendre erkennen, was verstehen auf Französisch, bedeutet. Dies war der Titel der Zeitschrift, die ich zuhause auch schon des Öfteren gelesen hatte. Am anderen Ende der Halle wand sich eine gigantisch breite Holztreppe ins obere Stockwerk, wobei man dann die Wahl hatte nach rechts, links oder geradeaus zu gehen. Die weiteren Etagen konnte man von hier aus noch gar nicht sehen.
"Wahnsinn, ich kann es kaum abwarten, in diesen heiligen Hallen hier zu studieren!", staunte ich und lächelte dabei in mich hinein.
"Kann ich Ihnen helfen?", riss mich die Stimme der Empfangsdame aus meinen Träumereien. Ich wandte mich ihr zu.
"Äh, ja..." Ich schluckte nervös. "Ich muss zur Einführung für die Erstklässler. Können Sie mir sagen, wo ich hinmuss?" Ich lächelte. "Bitte?", fügte ich noch hinzu.
"Nach dem Empfang nach links und dann die zweite Tür auf der rechten Seite. In diesem Gang." Die Dame deutete auf den entsprechenden Gang. "Aber an Ihrer Stelle würde ich mich etwas beeilen. Die Direktorin sieht es nicht gerne, wenn man zu spät kommt!"
So, wie sie mich mit Nachdruck ansah, war das kein gut gemeinter Ratschlag, sondern ein Befehl!
"Vielen Dank!", war alles, was ich herausbrachte.
"Den Koffer lassen Sie bitte hier bei mir. Sie bekommen ihn nach der Veranstaltung wieder." Wortlos übergab ich ihr meinen Koffer.
"Name?", fragte sie und holte eine Liste hervor.
"Von meinem Koffer?", entgegnete ich verblüfft.
"Nein, von Ihnen!", blaffte sie mich an.
"Achso..."
Obwohl ich es nicht zulassen wollte, verunsicherte mich diese Frau total durch ihre gehässige Art.
"Emma Hallstedter", murmelte ich.
Schon jetzt hasste ich sie. Ich konnte mich nicht erinnern, diese Tussi am Tag der offenen Tür hier gesehen zu haben. Damals waren alle sehr nett gewesen.
"Ich habe keine Emma Hallstedter auf meiner Liste", sagte sie und sah mich herausfordernd an.
"Das kann nicht sein. Ich habe mich für dieses Schuljahr angemeldet. Ich habe auch eine schriftliche Einladung erhalten." Ich hielt ihr meine Einladung hin.
Ein kurzer Blick auf meine Handyuhr sagte mir, dass ich nur noch zwei Minuten hatte. Na super! Wenn ich noch länger mit dieser Kuh diskutierte, kam ich wirklich zu spät.
Leon
Die Straßenbahn kam zum Stillstand. Ein paar Leute stiegen aus und Victoria und ich traten ein. Um diese Zeit war nicht viel los und wir bekamen fast immer einen Sitzplatz. Die meisten Menschen waren bei der Arbeit und die Schüler noch im Unterricht.
Ich setzte mich ans Fenster und Victoria ließ sich auf den freien Platz neben mir fallen. Sie drehte den Kopf zu mir.
"Sag mal, dieses Provinzweib vorhin, das dir in die Arme getaumelt ist, was war denn das für eine? So ein Tollpatsch! Einfach nur peinlich, findest du nicht auch? Und hast du ihre Kleidung gesehen?" Sie lachte verächtlich.
Ich antwortete nur mit einem Schulterzucken.
"Offenbar ist sie eine neue Schülerin. Ich hoffe nur, sie kommt pünktlich zur Einführung, sonst bekommt meine Mutter wieder einen Tobsuchtsanfall..."
Victoria lächelte spöttisch.
"Na und, dann wird sie halt schneller wieder von der Schule geschmissen als sie überhaupt FREMDSPRACHENSCHULE sagen kann. Ich verstehe sowieso nicht, wieso man freiwillig an einer Sprachenschule studieren möchte…"
Sie zog die Nase kraus, als ob sie in eine saure Zitrone gebissen hätte. Victoria hasste Sprachen. Eigentlich interessierte sie sich nur für Kleidung, Make-Up und sämtliche Hochglanzmagazine.
"Nur weil du eine Abneigung gegen Fremdsprachen hast, müssen nicht alle so eingestellt sein", verteidigte ich die Unbekannte. Selbst war ich leider nicht sprachbegabt, bewunderte jedoch die Menschen, die sich problemlos neue Vokabeln einprägen konnten, die Grammatik der Sprache verstanden und am Wichtigsten, keine Probleme hatten sich in unterschiedlichen Ländern in der jeweiligen Sprache zu verständigen.
"Pff, mir doch egal", entgegnete Victoria, nahm ihr Handy aus ihrer Tasche, rief eine Seite auf und begann zu lesen. Ich linste verstohlen auf das Display. "DER NEUESTE KLATSCH UND TRATSCH UNSERER BELIEBTESTEN PROMIS" stand da in großen, pinken Lettern. Genervt verdrehte ich die Augen und schalt mich selbst innerlich dafür, dass ich ernsthaft geglaubt hatte, sie würde ein E-Book lesen. Echte Literatur hasste sie nämlich ebenfalls. Ich hingegen las viel und hätte ihr hin und wieder gerne von meinem Gelesenen erzählt, was sie jedoch nicht gerne hörte, da Lesen in ihren Augen etwas für Langweiler sei.
Darauf erwiderte ich immer, dass sie mich damit auch als Langweiler abstempelte. Dann kam sie zu mir, nahm mein Gesicht in ihre Hände und versuchte mich mit einem Kuss zu besänftigen, den ich nur halbherzig erwiderte. Ich sei kein Langweiler, sagte sie, da ich gut aussah und Markenkleidung trug. Das war ihre Definition!
Zugegeben, unsere Beziehung war nicht einfach und in letzter Zeit fühlte ich mich auch nicht mehr so wohl mit ihr. Allerdings war das nicht immer so gewesen. Wir waren nun fast drei Jahre zusammen und ich erinnerte mich immer noch – als wäre es erst gestern gewesen – an den Tag, an dem ich sie zum ersten Mal sah und hin und weg von ihr war.
Total frustriert kam sie damals in die Speicherstadt Kaffeerösterei, in der ich als Barista arbeitete, und ließ sich niedergeschlagen auf einem Hocker am Tresen nieder. Seufzend bestellte sie einen Cappuccino, rührte ihn aber kein einziges Mal an.
Sie hatte glänzendes, hellblondes Haar, das sie auf Kinnlänge trug. Ihre Nase war eben und glich der einer Puppe und ihren Mund zierten perfekt geschwungene Lippen, die in einem fast hautfarbenen Ton bemalt waren. Ein todschicker, bestimmt sündhaft teurer Hosenanzug umschmeichelte ihre gertenschlanke Figur.
Ich wunderte mich, warum eine so bildhübsche junge Frau so traurig dreinsah. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und fragte sie, ob alles in Ordnung sei. Sie hob den Kopf und sah mich mit einem Blick an, der vermuten ließ, dass sie gerade ganz woanders mit ihren Gedanken gewesen war. Da sah ich zum ersten Mal ihre Augen. Eisblaue Augen, die mich erschöpft ansahen.
"Hm, ja, alles in Ordnung...", antwortete sie mit schleppender Stimme, hielt kurz inne und meinte dann kopfschüttelnd: "Nein, eigentlich nicht. Nichts ist in Ordnung."
"Ich habe mal gehört, dass Barista gute Zuhörer sein sollen", versuchte ich sie aufzumuntern und zwinkerte ihr zu.
"Waren das nicht eigentlich Barkeeper?", entgegnete sie und musste ein bisschen schmunzeln.
"Es hat funktioniert!"
"Was hat funktioniert?", fragte sie verwirrt.
Ich sah sie mit einem intensiven Blick an.
"Dich zum Lächeln zu bringen."
Sie streckte mir ihre Hand hin und ich ergriff sie.
"Victoria", stellte sie sich vor.
"Leon. Freut mich dich kennenzulernen."
"Ebenfalls, Leon!" Sie sah mir tief in die Augen.
"Nun erzähl mal, was verschlägt dich in diese" – ich machte eine ausholende Handbewegung – "Kaffeerösterei in unserer wunderschönen Speicherstadt?"
Sie lächelte verkniffen.
"Naja, ich hatte hier in der Gegend ein Vorstellungsgespräch. Aber das ging leider völlig nach hinten los. Ich komme ursprünglich aus Frankfurt und bin vor meinem kontrollsüchtigen Vater geflohen. Er ist dort ein erfolgreicher Anwalt und wollte schon immer, dass sein einziges Töchterchen auch Jura studiert und in seine Fußstapfen tritt, im besten Falle sogar seine Kanzlei übernimmt. Doch ich hatte von Anfang an andere Pläne für mein Leben. Ich hatte schon immer den Traum, als Fotomodell Karriere zu machen. Für meinen Vater ist dieser Beruf natürlich nicht tragbar, ich solle was Anständiges lernen!"
Victoria verdrehte die Augen und machte eine wegwerfende Handbewegung.
"Jedenfalls hat mir zuerst so ein Vollpfosten seinen Kaffee im Aufzug auf meine Bluse geschüttet, dann durfte ich drei Stunden auf den Modelagenten warten, nur um von ihm mitgeteilt zu bekommen, dass sie schon ein anderes Model gefunden haben!"
Frustriert stützte sie den Kopf auf ihren Arm.
"Oh je, das ist bitter! Tut mir leid, dass es so blöd gelaufen ist. Wenn du möchtest, kannst du versuchen deine Bluse zu retten. Den Gang runter geht es zu den Toiletten."
Ich deutete hinter mich.
Sie winkte ab.
"Ach lass nur, das hab ich in der Agentur schon versucht. Die Bluse ist hinüber. Genauso wie mein Selbstbewusstsein."
Ich tätschelte ihren Arm.
"Hey, wenn das Modeln wirklich dein Traum ist, wirst du eine andere Agentur finden, bei der du unter Vertrag kommst."
"Jetzt muss ich erst einmal eine Pension oder ein Hostel finden und mir dann überlegen, was ich als Nächstes mache. Zurück zu meinem Vater gehe ich sicherlich nicht!" Sie schüttelte energisch den Kopf.
Mir kam eine Idee. Ich wusste nur nicht, ob ich zu forsch vorging. Aber ich wollte diese attraktive Frau einfach nicht wieder gehen lassen.
Ich räusperte mich: "Also, wenn du möchtest, kannst du gerne mit zu mir kommen. Du kannst in meinem Bett schlafen und ich nehme die Couch. Morgen überlegen wir gemeinsam, wie es weitergeht. Na, was meinst du?"
"Hast du denn keine Freundin, die zuhause auf dich wartet?", fragte sie und lächelte dabei verführerisch.
Ich zog eine Augenbraue hoch.
"Nicht, dass ich wüsste."
Wir lächelten uns beide vielsagend an.
Nach meiner Schicht nahm ich sie mit zu mir. Ich besaß eine kleine Altbauwohnung in der Altstadt von Altona mit schnuckeligem Balkon und Blick auf einen kleinen Park. Ein klein wenig Grün in so einer großen Metropole musste sein!
Nachdem sie sich umgezogen hatte – die dreckige Bluse warf sie sofort in den Müll – machte ich uns beiden etwas zu essen. Ich kann ganz gut kochen und mein Nudelauflauf schien ihr zu schmecken.
Nach dem Essen machten wir es uns mit einem Glas Rotwein im Wohnzimmer auf dem Sofa gemütlich und unterhielten uns über Gott und die Welt. Im Laufe des Abends erfuhr ich, dass sie es nie leicht hatte. Ihre Mutter hatte die Familie verlassen, als Victoria neun Jahre alt war. Da ihr Vater nie darüber hinwegkam, von seiner großen Liebe abserviert worden zu sein, und er sich gleichzeitig Sorgen um sein Image als erfolgreicher, aber sitzengelassener Anwalt machte, begann er abends seinen Frust mit Alkohol zu bekämpfen. Am Anfang war es nur zwei- bis dreimal die Woche ein Glas.
Doch mit der Zeit wurde es immer mehr. Für Victoria war es damals eine harte Zeit. Ihre Mutter brach den Kontakt zu ihrer Tochter ab, da sie sich mit ihrem neuen Freund ein Leben abseits ihres Kindes und ihres Exmannes aufgebaut hatte. Dadurch musste Victoria schon früh lernen, für sich selbst zu sorgen, aber das hatte sie nur stärker gemacht.
Ihre Geschichte schockte mich. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es war, wenn die eigene Mutter nichts mehr von ihrem Kind wissen wollte. Was für Ängste man haben musste. Wahrscheinlich suchte man den Fehler für das Verschwinden der Mutter bei sich, da man noch zu jung war, um zu verstehen, dass ein unschuldiges Kind rein gar nichts dafür konnte! Das musste schrecklich sein. Sie gab mir aber auch zu verstehen, dass sie kein Mitleid wollte. Sie sei damit durch und lebe jetzt ihr eigenes Leben. Nach Mitternacht kamen wir uns näher und küssten uns zum ersten Mal.
Emma
"Können Sie bitte noch einmal nachsehen? Ich muss auf der Liste stehen! Ich habe mich ganz sicher für dieses Schuljahr angemeldet", flehte ich die ungehobelte Dame an.
Sie seufzte genervt.
"Ich habe es Ihnen doch schon gesagt, hier befindet sich keine Emma Hallstedter!"
Ich blickte verstohlen auf ihre Liste. Angestrengt versuchte ich zu erkennen, welche Klasse als Überschrift darauf stand. Da ich auf dem Kopf lesen musste, war das gar nicht so leicht. Ich entzifferte eine "1" und dahinter ein "a_3". Das kleine "a_3" irritierte mich. Ich sah hastig auf mein Einladungsschreiben. Tatsächlich. Da stand, dass ich in der Klasse 1a_2 war. Ich räusperte mich.
"Kann es sein, dass Sie die falsche Liste haben? Auf meiner Einladung steht, dass ich in der Klasse 1a_2 bin, nicht in der 1a_3", versuchte ich sie sanft darauf hinzuweisen.
Die Frau hob den Kopf und sah mich mit böse funkelnden Augen an.
"Wollen Sie mir jetzt auch noch sagen, wie ich meinen Job zu machen habe?"
Sie riss mir den Brief aus der Hand, checkte kurz die Klasse auf dem Schreiben und überprüfte dann ihre Liste. Sie schien den Fehler zu bemerken. Ganz kurz huschte ein verwirrter Blick über ihr Gesicht, bevor sich ihre Züge wieder in die selbstgefällige Miene verwandelten, die sie an den Tag legte. Sie griff nach einem Stift und hakte mich auf der Liste ab.
"Sie können gehen" war alles, was sie zu mir sagte. Keine Entschuldigung. Nicht mal ein Lächeln.
Jetzt war jedoch keine Zeit, um mich über sie zu ärgern. Ohne ein Wort darauf zu erwidern, rannte ich den Gang entlang. Eine Minute nach Elf Uhr. Ich kam vor einer dunklen Doppeltür aus Holz zum Stehen. Ich atmete tief durch und stieß die Tür auf.
Sämtliche Köpfe fuhren wie auf Kommando herum und musterten die Person mit einer Mischung aus Neugier und Entsetzen, die es sich erlaubte, zu spät zur Einführung zu kommen: mich. Ich schluckte. Na, wenn das mal kein peinlicher Auftritt ist, den du hier hinlegst!, dachte ich betreten und schloss die Tür. Es war totenstill.
Während ich hektisch den Mittelgang auf der Suche nach einem freien Platz entlangschritt, starrten mich alle an. Ich hasste es, wenn sich alle Augen auf mich richteten und ich im Mittelpunkt stand. Am liebsten wäre ich ganz tief im Erdboden versunken! Warum ist denn hier nirgendwo ein freier Platz?, fluchte ich innerlich.
Die Frau, die vorne auf einer kleinen Bühne an einem Rednerpult stand, blickte erwartungsvoll auf mich herab.
"Und Sie sind?", fragte sie genervt.
"Emma Hallstedter", druckste ich kleinlaut.
"Ich bin in der 1a_2", fügte ich noch hinzu. Meine Stimme zitterte.
Die Frau hob herausfordernd eine Augenbraue.
"Nun, Frau Hallstedter, Sie sind zu spät!"
Ich strich mir eine Haarlocke hinters Ohr.
"Entschuldigen Sie. Das wird nicht wieder vorkommen. Es gab ein Missverständnis am Empfang", brachte ich heraus. Mein Herz pochte wie verrückt, denn ich fürchtete schon, gleich wieder den Heimweg antreten zu müssen.
"Soso, ein Missverständnis. Na gut, ich drücke noch einmal ein Auge zu, da heute Ihr erster Tag ist. Suchen Sie sich bitte einen freien Platz, damit wir dann endlich anfangen können." Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. In der zweiten Reihe fand ich einen freien Stuhl. Ich entschuldigte mich bei allen, die wegen mir aufstehen mussten, damit ich durchkam und schob mich erleichtert auf den Platz.
"Mein Name ist Helena Ahrens und ich bin die Direktorin dieser Schule. Ich heiße Sie alle ganz herzlich Willkommen an unserer Impresa Fremdsprachen –und Dolmetscherschule hier in Hamburg! Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Anreise!
Welcome, Bienvenue, Bienvenidos, Benvenuto, Huānyíng guānglín, Bem vindo und Добро пожаловать!", begann die Frau zu sprechen.
"Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Chinesisch, Portugiesisch und Russisch sind alles Fremdsprachen, die Sie hier erlernen können, beziehungsweise, in denen Sie hier ausgebildet werden, um später im Beruf damit zu arbeiten. Das ist es, was unsere Schule auszeichnet. Internationalität! Aber darüber erfahren Sie später mehr. Ich werde Ihnen nun etwas zum heutigen Ablauf erzählen:
Die Einführung dauert in etwa eine Stunde. Um 12.30 Uhr gibt es für Sie alle das erste Mittagessen in unserer Kantine. Natürlich ist es kein Muss, in der Schulkantine mitzuessen, viele unserer Schüler, die schon länger hier sind, gehen in der Mittagspause oder in den Freistunden in die nahegelegene Innenstadt und essen dort etwas. Das können Sie frei entscheiden.
Zurück zum Ablauf:
Nach dem Mittagessen bekommen Sie Ihre Koffer zurück und werden sich im Wohnheim ein Zimmer aussuchen. Das wird um 13.30 Uhr stattfinden. Es gibt überwiegend Zweierzimmer, aber auch ein paar Einzelzimmer. Dann haben Sie erstmal ein wenig Zeit, um auszupacken und anzukommen. Heute findet noch kein Unterricht statt – erst ab morgen – aber um 16 Uhr erwarte ich Sie alle wieder hier. Dann bekommen Sie Ihren Stundenplan ausgehändigt und eine Führung durch die Schule, damit auch jeder von Ihnen morgen sein Klassenzimmer findet. Danach haben Sie den restlichen Tag zu Ihrer freien Verfügung. Morgen beginnt der Unterricht für alle Schülerinnen und Schüler um Punkt acht Uhr."
Das Wort "Punkt" betonte sie extra. Bildete ich es mir ein, oder blickte sie bei diesem Satz ausgerechnet in meine Richtung?
"Nun erfahren Sie von mir noch etwas über die Entstehung und Gründung unserer Schule. Sie wurde im Jahre 1976 von Professor Dr. Marco Impresa-Fleischhauer und seinem Sohn Professor Tommaso Impresa-Fleischhauer gegründet. Professor Dr. Marco Impresa-Fleischhauer erwarb 1966 in Italien – seinem Heimatland – seinen Doktortitel in Sprachwissenschaften und ist der Liebe wegen nach Deutschland ausgewandert."
Die Direktorin sprach noch weiter über die Entstehungsgeschichte, jedoch hörte ich nicht mehr zu. Zum ersten Mal nahm ich meine Umgebung richtig wahr.
Der Saal, in dem ich mich befand, war groß und eindrucksvoll. Der Boden war aus hellem Marmor und die Wände waren in Weiß gehalten. Dadurch wirkte der Raum insgesamt sehr hell und freundlich. Das Rednerpult, hinter welchem die Direktorin mit Inbrunst sprach, hatte einen warmen Nussbaumton. Ich richtete meinen Blick nach oben. Dort über unseren Köpfen hing ein imposanter Kronleuchter. Rechts und links von mir saßen Schüler, die alle aus demselben Grund hier waren wie ich.
Einige hörten Frau Ahrens aufmerksam zu, andere sahen sich ebenfalls um oder unterhielten sich leise miteinander. Im Sitzblock gegenüber erblickte ich ein Mädchen, das mir ein aufmunterndes Lächeln zuwarf. Ich lächelte freundlich zurück. Sie sah mich noch einen kurzen Moment an und richtete dann ihren Blick wieder auf die Direktorin. Ich tat es ihr gleich.
Die Frau, die hinter dem Podium stand, war schätzungsweise um die 50 Jahre alt und ziemlich groß gewachsen. So, wie sie dastand – aufrecht und die Hände lässig zu beiden Seiten des Pultes – strahlte sie sehr viel Selbstsicherheit aus. Der untere Teil ihres Körpers wurde von dem Podium verdeckt, aber ich konnte sehen, dass sie einen eleganten, dunkelblauen Blazer trug, den silberne Pailletten am Revers und an den Ärmeln zierten. Ihre Haare waren dunkelbraun und zu einem strengen Dutt frisiert und auf ihrer Nase saß eine schwarze Hornbrille, durch die sie noch selbstbewusster wirkte. Ich konnte mir vorstellen, dass diese Frau sehr streng, aber dennoch fair war. Hoffentlich würde ich gut mit ihr klarkommen.
Nachdem ich mit der Begutachtung der Direktorin fertig war, entdeckte ich an der Wand hinter ihr eine große Uhr. Sie zeigte 12.01 Uhr. Mir fiel auf, dass viele Schüler mittlerweile auf die Uhr blickten, aus dem Fenster sahen oder anfingen, auf ihren Stühlen herumzurutschen. Auch mir wurde es allmählich zu lange, über die Geschichte der Schule informiert zu werden. Meine Gedanken schweiften ab und landeten bei dem Jungen, mit dem ich vorhin zusammengestoßen war.
Jetzt musste ich über meine Tollpatschigkeit schmunzeln. Und an seine wunderschönen blauen Augen denken, die direkt in meine sahen, als er mich fragte, ob es mir gut gehe. Ein warmes Gefühl breitete sich in meinem Bauch aus, welches gleich darauf von meiner altbekannten Übelkeit zunichte gemacht wurde.
Schlag ihn dir aus dem Kopf, du könntest sowieso nicht mit ihm zusammen sein, da du dieses nervige Problem hast und außerdem hat er schon eine Freundin!, ermahnte ich mich selbst.
Applaus donnerte durch den Saal und riss mich jäh aus meinen Gedanken. Die Rede war zu Ende, alle Schüler standen von ihren Plätzen auf und eilten zum Ausgang. Auch ich setzte mich in Bewegung. Jedoch wusste ich gar nicht, wo sich die Mensa befand. Allerdings hatte ich sowieso keinen Appetit mehr, da mir schon wieder schlecht war.
Ich fragte trotzdem ein Mädchen mit langen dunklen Haaren, ob sie wüsste, wo die Schulkantine sei. Sie antwortete, dass Frau Ahrens das doch gerade gesagt hatte, am Ende ihrer Rede. Das hatte ich gar nicht mitbekommen, weil ich so vertieft in meine Gedanken war. Das Mädchen gab mir aber dennoch die gewünschte Information.
Die Schulkantine befand sich im Erdgeschoss, rechts neben der breiten Holztreppe, die in die oberen Geschosse führte. Ich trat zusammen mit einer Traube von anderen Schülern durch die Tür hindurch und sogleich schlug mir ein starker Geruch nach frittierten Pommes Frites entgegen. Die Kantine war – ebenso wie der Saal, in dem die Einführung stattgefunden hatte – eher in hellen Tönen gehalten. Einzig eine Wand war in demselben Orange gestrichen, wie die Außenfassade des Gebäudes. Vor dieser Wand waren Sitzgruppen angeordnet, an denen die Schüler Platz nehmen konnten. Gegenüber befand sich eine lange Theke, an der verschiedene Gerichte ausgegeben wurden.
Zielstrebig steuerte ich nur die Salatbar an und setzte mich an einen freien Platz am Fenster. Lustlos fing ich an in meinem Salat herumzustochern. Ich war frustriert darüber, dass mir meine Übelkeit, noch bevor der Unterricht überhaupt angefangen hatte, schon wieder in die Quere kam. Aber ich konnte es nicht leugnen, der Junge von vorhin gefiel mir ausgesprochen gut! Jedoch war es aussichtslos, mit ihm zusammen zu kommen…
"Hi, du bist Emma, richtig?", wurde ich plötzlich angesprochen. Ich sah auf. Mir gegenüber saß ein Mädchen. Genauer gesagt war es das Mädchen, das ich zuvor nach der Mensa gefragt hatte. Ich musterte sie genauer. Sie hatte fast schwarzes Haar, das in sanften Wellen über ihren Rücken fiel und trug ein gelb-pink geblümtes Spaghettiträger-Top mit tiefem Ausschnitt, welches sie bei ihrer Oberweite auch locker tragen konnte. Sie war sehr hübsch. Ich räusperte mich und erwiderte:
"Ja genau. Und du bist?"
Sie hielt mir ihre Hand hin. Ich ergriff sie.
"Lucía Flores", stellte sie sich vor.
"Hey, dein Name klingt spanisch! Wo kommst du denn her?", wollte ich wissen. Meine schlechte Laune von eben rückte in den Hintergrund.
Ich erntete ein Grinsen.
"Sí, ich bin Spanierin, aber in Deutschland geboren. Ich komme aus Hannover. Meine Eltern sind auch Spanier und kommen ursprünglich aus einer kleinen Stadt nahe Sevilla. Sie sind nach Deutschland ausgewandert, weil dort die Arbeitssituation besser ist als in Spanien." Ein klein wenig sprach sie mit spanischem Akzent, was aber sehr schön klang.
"Achso, aber kennst du trotzdem deine Heimat in Spanien? Und wurdest du dann zweisprachig erzogen?"
Auf einmal war ich ganz euphorisch, mehr über Lucía zu erfahren. So war das immer mit mir. Sobald es um Fremdsprachen ging, war ich wie in einer anderen Welt!
Sie nickte.
"Ich war die Sommerferien über bei meiner Familie in Santiponce. Meine Großeltern wohnen dort immer noch in einem großen Haus, das genügend Platz für die ganze Familie bietet. Sogar mein Bruder und meine zwei Schwestern mit Familie und Kindern sind gekommen und wir haben stundenlang gegessen und Ausflüge unternommen. Bei uns ist es immer sehr lustig und laut." Sie lächelte versonnen. Offenbar erinnerte sie sich an die schöne Zeit.
Ihre Augen, die die Farbe von dunkler Schokolade hatten, glänzten vor Freude. Dadurch kam ihr schwarzer Lidstrich noch mehr zur Geltung.
"Klingt toll!", sagte ich und meinte es auch so.
Das Mädchen strahlte.
"Und ja, ich bin zweisprachig aufgewachsen", fügte sie hinzu. "Meine Eltern haben von Anfang an viel Wert darauf gelegt, dass ich meine Heimat und die Traditionen – eben auch die Sprache – kennenlerne und beibehalte, auch wenn ich in Deutschland geboren bin."
Lucía legte den Kopf schief und sah mich an.
"Und wo kommst du her?"
"Ich komme aus Ostereistedt – einem kleinen Dorf, das ungefähr 90 Kilometer von Hamburg weg ist", antwortete ich.
"Und du interessierst dich offensichtlich für Spanisch!", schlussfolgerte sie.
"Ja, total! Ich liebe Sprachen! Naja, deswegen bin ich ja auch hier."
Sie nickte.
"A mí también!", sagte sie, was "ich auch" bedeutete. Wir lachten beide.
Die Schulklingel ertönte mit einem lauten "Ding Dong" und läutete das Ende der Pause ein. "Wir müssen unsere Koffer holen. Vorne am Empfang", bemerkte Lucía.
"Juhu, bei der unfreundlichsten Schnepfe auf der ganzen Welt!", entgegnete ich theatralisch und verdrehte die Augen.
Fragend sah mich meine neue Freundin an. Ich winkte ab.
"Erzähl ich dir später!"
Wir sprangen auf, brachten unsere Tabletts zum Essenswagen und eilten aus der Cafeteria.