Читать книгу SECRET - Anke Jablinski - Страница 6
Peter
Оглавление»Cheers!«, sagte Peter mit kräftiger, männlicher Stimme, die zu seinem auf den ersten Blick scheuen Wesen und seiner sportlichen und dennoch zarten Gestalt eigentlich gar nicht so recht passte. Die anderen erwiderten den Trinkspruch, hoben ihre Gläser und setzen zum Genuss des hochwertigen Champagners an. Als Freunde konnte er die elf anderen, die er um sich versammelt hatte, nicht bezeichnen, aber es war nett, nach langer Zeit wieder einmal in Gesellschaft zu sein, und so hatte er spontan einige Leute im Restaurant am Jachthafen zu einem Gläschen der Marke Moët & Chandon eingeladen.
»Bringen Sie uns bitte auch verschiedene Platten Antipasti«, rief er dem Kellner zu.
»Gerne, was soll es sein?«
»Alles, was Sie anzubieten haben. Meeresfrüchte auf jeden Fall, Garnelen sind wichtig, dazu bitte diverse Salatplatten. Sie können auch gerne drei Platten gemischten Fisch und ein paar Platten Käse bringen. Stellen Sie bitte einfach etwas für zwölf Personen zusammen, Sie machen das schon«, sagte Peter und zwinkerte dem Kellner zu.
Der Kellner wusste, was zu tun war. Er arbeitete lange genug in der Marina und wusste, dass Geld hier keine Rolle spielte. Zwar gab es geizige Reiche, aber es gab auch solche wie Peter, denen es eine Freude war, ihr vieles Geld zum Fenster hinauszuwerfen oder einfach mit Fremden zu teilen. Mittlerweile erkannte er an der Nasenspitze, um welche Sorte Millionär es sich handelte, sobald der Gast den Raum betrat. Der schlanke, weißblonde Mann mittleren Alters, der fließend Englisch sprach und einen deutschen Akzent hatte, war einer von diesen sympathischen Reichen, die viel Trinkgeld gaben, und denen es darauf ankam, zu genießen und vom Essen nicht enttäuscht zu werden. Er ging in die Küche, wo der Chef kochte, und flüsterte ihm zu: »Platten vom Feinsten, bitte, für zwölf Leute, mit allem, was wir zu bieten haben.«
»Okay, hvala. Dann können wir endlich unseren besten Tintenfisch servieren, und die Riesengarnelen. Die Leute haben Glück, besser als heute geht es nicht!«
»Es hat endlich aufgehört zu regnen«, rief ein Ire aus der bunt gemischten Runde, »wollen wir draußen sitzen? Die Sonne lacht, es ist warm, was meint ihr?«
Sofort eilte ein anderer Kellner herbei, rückte drei Tische zusammen, legte rote Tischdecken auf und deckte den Tisch mit Oliven, Pistazien, Besteck, Gläsern und Servietten in den kroatischen Farben Blau, Weiss und Rot.
»Bevorzugen die Herrschaften, die Mahlzeit unter der Markise einzunehmen?«, fragte er in die Runde, schaute Peter zielgenau dabei an, der antwortete: »Nein, nein, danke, ich glaube, wir alle freuen uns in diesen Tagen über ein wenig Sonne, oder?«
Man war sich einig und nahm Platz, es wurde laut, alle lachten, tranken und nannten ihre Namen und das Land, aus dem sie kamen. Peter mochte eine solch bunte Gesellschaft und mehr noch liebte er es, derjenige zu sein, der alle einlud. Nach langer selbst gewählter Einsamkeit endlich wieder unter Menschen zu sein, tat ihm so gut, dass er sich mitunter dabei ertappte, alle Menschen zu mögen, denen er begegnete. Zwar war er der einzige Single in der Runde, denn die meisten Skipper waren in Begleitung unterwegs, aber auch das störte ihn wenig. Er lauschte den Geschichten der Paare, die fast alle der englischen Sprache mächtig waren, genoss den Champagner und den fantastischen Wein, den er nun servieren ließ, und sonnte sich anschließend ein wenig, indem er die Beine ausstreckte und den Kopf nach hinten fallen ließ. Das Leben war schön!
Nach dem ausgiebigen Mittagessen verabschiedete man sich herzlich, tauschte Visitenkarten aus, um sich vielleicht irgendwann einmal woanders auf der Welt wieder zu begegnen.
Es war längst noch nicht so heiß, dass man einen Sonnenschutz benötigte, Peter aber kramte einen Hut aus seiner Tennistasche und setzte ihn auf, denn er bekam jetzt eine Glatze, und seine Kopfhaut war empfindlich. Zu seinem hellblonden Haar gehörte diese helle Haut, die ihm oft schon das Leben ein wenig schwerer gemacht hatte, aber das alles war nicht der Rede wert.
Er schlenderte am Meer entlang und kam zu einem der wenigen Hotels, die es in der Umgebung von Split gab. Sein Herz schien zu hüpfen, oh ja, dachte er, ich werde mir mal wieder ein Hotelzimmer nehmen.
Vom Strand aus musste er eine hohe, alte Treppe emporsteigen, um zum Eingang zu gelangen, und schaute auf das Schild. Hotel Split. Vier Sterne. Peter machte sich nichts aus den Sternen eines Hotels. Zwei, drei, vier oder fünf, das waren nur Zahlen, die niemals die Atmosphäre der jeweiligen Unterkunft widerspiegelten, und daher keine Rolle spielten. Freundlich sollte es sein, er wollte mit fremden Menschen reden und abends in geselliger Runde an der Bar sitzen. Dinge wie Ausstattung oder Sauberkeit interessierten ihn wenig. Umso größer war die Freude über die Wände, die in Violett gehalten waren. Zufälle gab es bekanntlich nicht, und ein Zimmer in Weiß und Violett war ihm mehr als nur vertraut. Auf dem Bett lagen Handtücher in den Farben Pink und Violett. Besonders hier in Kroatien konnte die Wahl für ihn nicht besser sein. Volltreffer! Die Freude nahm noch zu, als er bemerkte, dass die Balustrade durchsichtig war, und man nichts anderes als das Meer sah. »Memories, memories, …, wo ich bin, ist das Meer, das Meer, das Meer, das schöne Meer«, sang er, öffnete alle Türen, legte sich auf das große Bett und schlief durch die Wirkung des Weins sofort ein.
Als er erwachte, dämmerte es, und Peter schaute zu den kroatischen Inseln hinüber, sah den roten Himmel über ihnen liegen, und war einfach nur glücklich. Dieses Land gefiel ihm, er würde sich einige der Inseln anschauen, vielleicht sogar die eine oder andere Stadt, obwohl er Städte nur in Ausnahmefällen besichtigte. Sie mussten klein sein, und die Straßen leer, nur so mochte er sie.
Er ging duschen, begutachtete seinen weißlich gelben Dreitagebart, zog sich an und ging in die Bar, um anderen Menschen zu begegnen. Die Bar aber war noch leer, und zu Peters Bedauern hörte er vom Rezeptionsmitarbeiter, dass es außer ihm hier zurzeit nur vier Gäste gab. Er hatte nicht an die Vorsaison gedacht. Er schaute sich den Fitnessraum im Keller an, denn er wollte gerne eine Hantelbank und einige Geräte für die Arme benutzen, aber die Geräte waren in keinem guten Zustand. Einen Tennisplatz gab es nicht, und so ging er erneut auf sein Zimmer, machte einige Yogaübungen, kramte Sportkleidung hervor und ging die lange Promenade entlangjoggen, drei oder vier Kilometer Richtung Süden und wieder zurück. Am Jachthafen, der einen Kilometer von seinem Hotel entfernt lag, herrschte reger Betrieb.
Peter hatte keine Lust, sich extra umzuziehen, blieb in seinen Sportsachen, und holte nur rasch ein Büchlein aus seiner Kabine. Er nahm im selben Restaurant wie zur Mittagszeit Platz und bestellte einen Kaffee, eine Dorade und eine Karaffe des guten Weißweins vom Mittag.
»Schön, dich wiederzusehen, wo sind die anderen?«, fragte der Kellner.
»Oh, keine Ahnung. Wir sind uns alle nur zufällig hier begegnet. Wir wollten alle gut essen, und das nicht allein. Bald sind wir alle wieder in der Welt verstreut«, lachte er.
Ein wenig geknickt darüber, nun allein zu Abend essen zu müssen, beobachtete er wie so oft die Leute in den unterschiedlichen Bars und Restaurants. An einem Tisch saß eine Gruppe kroatischer Mädchen. Sie alle trugen dieselbe Frisur, langes, gefärbtes Haar, alle waren stark geschminkt, sogar die Augenbrauen, und die Fingernägel sowieso. Das gab es nicht, als wir jung waren, dachte er, damals waren die Mädchen viel natürlicher. Schöner war das, es hatte etwas Wirkliches, die Mädchen waren keine Barbiepuppen. Die Globalisierung gefiel ihm, denn die Menschen mischten sich; weniger aber gefiel ihm daran, dass alles immer gleicher wurde, auch das Aussehen der Menschen, die Mode.
Die Mädchen am Tisch kicherten, und jedes spielte an einem der kleinen Spielzeuge herum, wie immer sie auch hießen, Tablets, Smartphones oder iPhones, all die Dinger, die er noch nie besessen hatte. Neben jedem Stuhl stand ein kitschiges Handtäschchen. Die Brüste der Mädels fielen fast aus den Blusen und Shirts heraus. Den Kopf fassungslos wiegend, trank Peter seinen Kaffee. An einem anderen Tisch saßen zwei junge Männer, die bekifft aussahen und es wahrscheinlich auch waren. Er konnte nicht verstehen, was sie sagten, denn auch sie sprachen Kroatisch.
Wo ich mich auch aufhalte, überall sitzen Mädchen und Jungs getrennt, dachte er. Was sind das für Entwicklungen? Als wir Teenager waren, saßen wir oft in gemischten Gruppen zusammen, schön war das. Die Mädchen wollten sich befreien von all dem Druck, immer gut auszusehen, gestylt, geschminkt, zurechtgemacht. Sie trugen Jeans und Shirts, wie die Jungs. Ist das alles nun vorbei?
So war es wohl. Wo er auch hinschaute, sah er entweder kroatische Männer oder kroatische Frauen an einem Tisch sitzen. Von Touristen war weit und breit keine Spur. In der hintersten Ecke saß eine verwahrloste Frau undefinierbarer Herkunft in einer zu großen Hose und mit wüst abstehendem Haar, trank Wein und starrte in sich gekehrt und leer in die Luft.
Peters Fisch wurde serviert, seine Leibspeise. Er genehmigte sich ein Eis zum Nachtisch, öffnete das in rote Rohleinen gebundene Büchlein und schrieb:
Endlich in Kroatien, wie oft hatte ich das schon vor? Immer habe ich mich davor gedrückt. Nun aber ist viel Zeit vergangen, mein Lieber. Ich habe nicht mehr das Gefühl, es nicht zu dürfen. Das Wetter wird endlich besser, es klart auf und ich freue mich auf einen griechischen Frühling. Heute sitze ich schon wieder alleine beim Dinner. So sehr ich die Einsamkeit suchte und liebte, die einsamen Abende nagen an mir. Ich habe mir ein Hotelzimmer genommen, um ein paar Leute einzuladen, aber das Hotel ist leer. Mein Glas auch. Tschüss! Bis bald!
Er schlenderte in Richtung Hotel zurück und verweilte noch ein paar Minuten nachdenklich auf einem Felsen. Wenig später zog er seine Chipkarte hervor, die er zum Öffnen seines Zimmers brauchte. Im Flur des Hotels sah er eine Frau an sich vorbei huschen, ganz flüchtig, wie einen Schatten. Neugierig schlich er ihr nach, denn es schien sich um die heruntergekommene Frau zu handeln, die er am Jachthafen aus der Ferne gesehen hatte.
Sie war um die Ecke gebogen. Peter versteckte sich, nahm aber ihren Geruch wahr. Sie roch ungepflegt und ein wenig nach Hund. Das Licht ging aus. Peter hörte es rascheln, die Frau schien etwas in Plastiktüten zu stecken. Vorsichtig schaute er um die Ecke. Tatsächlich. Die Frau war dabei, etliche Proben Shampoo von dem hier vergessenen Wagen der Putzkolonne einzustecken, ein Handtuch verschwand bald in einer Tüte, und auch eine Rolle Toilettenpapier.
Peter schlich den Flur zurück und ging auf sein Zimmer. Die Frau schien ihn nicht bemerkt zu haben, oder es war ihr egal. Im Hotelzimmer ließ er das Licht aus, schenkte sich wie jeden Abend ein großes Glas Wasser ein, und nahm auf seinem geräumigen Balkon Platz.
Es war ein milder Abend, und klar war der Himmel, er konnte den Stuhl zurückklappen und die Sterne betrachten. Neugierig stand er auf, als er hörte, dass dort unten jemand im Meer zu schwimmen schien. Er hatte ein lautes Planschen vernommen, und hörte nun eine Frau vor Kälte stöhnen. Ihm war sofort klar, dass es sich wieder um die Frau mit dem wüsten Haar handelte, deren Namen er nicht kannte. Sein Zimmer befand sich im zweiten Stock, sodass er alles gut erkennen konnte. Die Frau riss mehrere Shampooproben auf, seifte sich übergründlich ein, sichtlich froh darüber, endlich wieder ein Seifenbad zu nehmen. Sie stöhnte immer wieder, denn das Meer war noch sehr kalt, Peter schätzte die nächtliche Temperatur auf elf oder zwölf Grad, und er kannte sich diesbezüglich bestens aus. Die Frau schüttelte sich wie ein Hund, als sie aus dem Wasser kam. Sie trocknete sich ab, zog sich warm an und band sich eine Gürteltasche um die Hüfte. Dann setzte sie sich beim kleinen Kieselsteinstrand auf ein Handtuch. Mit einem weiteren Handtuch auf dem Kopf sah sie zum Meer hinaus.
Nun konnte er sehen, dass sie eine Flasche Wein mitgebracht hatte, die schon entkorkt worden war. Sie trank in großen Schlucken aus der Flasche, so wie es nur Menschen tun, die an reichlich Alkohol gewöhnt sind. Peter holte sich ein zweites Glas Wasser, um die Frau weiter zu beobachten. Sie sprach, schimpfte lauthals und haderte mit sich selbst, und da hörte er, dass sie deutsch sprach, so wie er selbst auch vor langer Zeit und heute mit sich selbst.