Читать книгу SECRET - Anke Jablinski - Страница 7
Secret
ОглавлениеAlles wurde immer auswegloser. Josephine atmete genervt aus. Sie hatte eine Nacht am Strand von Podstrana unter geklauten Handtüchern geschlafen, eine weitere auf einer Parkbank, nun aber plagten sie unerträgliche Rückenschmerzen, gegen die sie Unmengen Wein trank, was zur Folge hatte, dass sie verkatert oder betrunken zu arbeiten versuchte, was nur misslingen konnte. Zum ersten Mal seit langer Zeit wollten die Kunden nicht von ihr porträtiert werden, obwohl sie neue Reklamebilder gemalt und von Andrea Schutzhüllen geschenkt bekommen hatte, und nach ihrem Bad im Meer auch nicht mehr so ungewaschen roch. Vom Alkoholkater bekam sie zusätzlich Kopfschmerzen, und die Augen bereiteten ihr beim Zeichnen mehr Probleme, als sie sich anfänglich hatte eingestehen wollen. Zwar hatte sie für nur fünfzehn Kuna eine Lesebrille erworben, diese war aber gleich wieder kaputtgegangen, wie auch der Schirm der Frau, über den sie sich so sehr gefreut hatte.
Sie wunderte sich längst schon nicht mehr darüber, dass so viele Dinge bei ihr immer gleich wieder verschwanden oder kaputtgingen. Es machte einen Unterschied, ob man Anfang dreißig oder Anfang vierzig war, musste sie sich eingestehen, und zum ersten Mal bekam sie ernst zu nehmende Zukunftsängste. Während sie sonst immer versuchte, ihre gegenwärtigen Probleme in den Griff zu bekommen, und gar keine Zeit fand, lange über die Zukunft nachzudenken, rissen sie ihre Ängste seit zwei Tagen geradezu aus der Gegenwart heraus, sodass sie erstarrte und unfähig war, sich beim Porträtieren zu konzentrieren und Mühe zu geben. Die Kunden waren unzufrieden mit ihren Bildern, fanden sich in ihnen nicht wieder, ja, es gab sogar solche, die schimpften und die Bilder zerrissen, natürlich ohne zu zahlen. Sie wurde gedemütigt, beleidigt und einmal auch getreten, und so kam es, dass sie vom Porträtieren auf der Straße innerlich Abstand nahm.
Ja, plötzlich fragte sie sich, warum sie so viele Jahre nichts anderes zustande gebracht hatte, obwohl sie die Antwort eigentlich kannte. Sie hatte es satt. Sie konnte die anderen Porträtzeichner nicht mehr ertragen, wollte keinem von ihnen begegnen, und erst recht keine Kunden mehr zeichnen. Sie zerknüllte ihre Kohle- und Bleistiftzeichnungen, und warf sie mit den Worten »Scheiß Promis« zum anderen Müll im Hafenbecken. Sie wollte sich sammeln, endlich einmal nachdenken, ohne vom Alkohol benebelt zu sein, obgleich sie sich fragte, ob sie dazu überhaupt noch in der Lage war.
Sie lief den Hafen in Richtung Norden entlang und machte sich auf den Weg, um den kleinen Berg zu besteigen, den jeder mit der Stadt in Verbindung brachte, und von dem aus man Split von oben betrachten konnte. Insgeheim wollte sie sich selbst von oben betrachten, mit einem Abstand, der es möglich macht, neue Pläne zu schmieden.
Sie atmete schwer, denn es ging steiler bergauf, als sie es in Erinnerung hatte. Nun fingen auch noch ihre Knie zu schmerzen an, der Körper schien mit ihrem Leben nicht mehr einverstanden zu sein und rebellierte. Endlich oben angekommen setzte sie sich in das Café und bestellte einen Kaffee und ein Glas Leitungswasser.
Nachdenklich schaute sie hinab zur schönen Stadt Split, die sie einst so sehr geliebt hatte, nun aber nicht mehr mochte. Auch die schöne Aussicht, bei der die Touristen ins Schwärmen gerieten, konnte nichts dagegen tun. Es war mild, die Sonne hatte sich endlich durchgesetzt, es roch nach Nadelbäumen, und die Vögel sangen. Sie wünschte sich, auch singen und fliegen zu können, weit fort, neu anzufangen, leicht sein, federleicht, vogelfrei.
Sie aber wurde immer schwerer, und das, obwohl sie oft Hunger und nichts zu essen hatte. Sie aß manchmal einen Tag lang gar nichts, auch heute hatte sie nichts als eine Banane zum Frühstück gehabt, die ihr am Obststand geschenkt worden war.
Sie spuckte ihren Kaugummi aus, als der Kellner die Getränke brachte. Spatzen kamen und flogen frustriert wieder fort, als sie merkten, dass der Kaugummi nichts für sie war. Josephine lächelte müde.
»Habt ihr ein paar alte Brotreste, womit ich die Spatzen füttern kann?«, fragte sie den Kellner, der verneinte. Sie sah wohl zu heruntergekommen aus, um ihr diesen Wunsch zu erfüllen.
Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, jedenfalls keinen, der sie weiterbrachte. Sie fühlte sich wie in einem Gefängnis und wollte fort von hier, ohne den Hauch einer Ahnung zu haben, wo sie hin wollte. Neu anfangen, aber wie? Wo?
»Merda«, sagte sie immer wieder und schimpfte und haderte in verschiedenen Sprachen mit sich und der Welt, wobei ein Kauderwelsch aus Kroatisch, Englisch, Deutsch, Italienisch, Griechisch und Spanisch herauskam. Vielleicht könnte sie in Zukunft mit ihren Sprachkenntnissen etwas anfangen? Ach, nein, sie verwarf diesen Gedanken sofort wieder, das war Unsinn ohne jegliche Ausbildung und mit Kenntnissen, die für Übersetzungen nicht ausreichend waren. Ich müsste mich mit irgendetwas selbstständig machen, dachte sie, wohl wissend, dass sie zu kaputt hierzu war und nicht in der Lage, so viel Geld zu sparen, um überhaupt eine Chance zu haben. Selbstständig hatte sie sich anfangs auch beim Zeichnen der Porträts gefühlt; in letzter Zeit aber fühlte sich die Arbeit weder nach ihr selbst an, noch wollte sie dies ständig und auf Dauer weiter betreiben. Nein, es war endgültig vorbei. Dieser Entschluss stand fest. Kein einziges Porträt würde sie noch zeichnen. Nie wieder Menschen …
Sie erwachte auf einer der Bänke der Aussichtsplattform, auf die sie sich nach dem Kaffee gelegt hatte, um ein wenig Sonne zu tanken. Eine Uhr besaß sie nicht mehr, seitdem ihr Mobiltelefon zwei Tage nach dem Kauf spurlos verschwunden war. Dem Licht nach zu urteilen, musste es bereits vier oder fünf Uhr nachmittags sein. Sie hatte Hunger, kramte einen Kaugummi aus der Gürteltasche hervor und fluchte leise auf Deutsch vor sich hin, weil ihr auch der Schlaf keine Erleuchtung hinsichtlich ihrer Zukunft gebracht hatte. Sie hatte einfach keine Idee, wie sie ihr Leben in den Griff bekommen sollte, und schaute mit leeren Augen zum Himmel hinauf.
Durch einen groben Schlag mit der Handfläche auf ihren Rücken wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. An der Lache erkannte sie, dass es sich bei dem Störenfried um den alten Spanier handelte, der sie entdeckt hatte. Auch das noch!
»Hola, qué tal?«, fragte er wie immer, sie aber antwortete nicht, sondern nuschelte Undeutliches vor sich hin, um ihm zu vermitteln, dass er hier zurzeit nicht erwünscht war. Er aber ignorierte ihre kläglichen Versuche und schubste sie zur Seite, um es sich neben ihr gemütlich zu machen.
»Geh nach Hause«, sagte sie und zeigte in Richtung der Hütte, die er sich neben einem kleinen Zoo aus Brettern gezimmert hatte, so gut unter Büschen und Bäumen versteckt, dass sie seit Monaten nicht entdeckt worden war.
»No, no, da komme ich doch gerade erst her, meine Süße, ich habe dir aber ein Bier mitgebracht, hier, salud!«
Die beiden tranken ein paar Biere, wobei der Spanier es absichtlich ordentlich spritzen ließ, bei jeder Dose, die er öffnete. Laut lachend freute er sich über diese sexuelle Anspielung, die er mit unterschiedlichen Gesten unterstrich. Josephine ärgerte sich darüber, dass sie ihre guten Vorsätze so schnell über Bord warf, genoss aber das Bier, das ihr das quälende Hungergefühl nahm, dennoch in vollen Zügen.
Der Spanier war eigentlich ganz nett, manchmal sogar lustig, vor allem spendierte er ihr seit langer Zeit Getränke, aber er war ein unverbesserlicher Grapscher. Seine Lüsternheit wurde von Bier zu Bier größer, und es kam vor, dass er sich hemmungslos befriedigte, während er trank und versuchte, dabei ihre Brust zu spüren oder diese zumindest zu sehen. Manchmal zeigte sie ihm ihre Brüste freiwillig, damit er nicht nach ihnen grapschte. Es war ein Tauschgeschäft, auf das sie sich eingelassen hatte, als er sie einmal völlig durstig und hungrig vorgefunden hatte, vor vielen Monaten.
Er hatte ihr sein Leid geklagt, seit Jahren keine Frau mehr besitzen zu können, wie er es genannt hatte, und der Gestrandete hatte ihr irgendwie leidgetan. Der Spanier hatte ihr damals angeboten, für sie zu sorgen, wenn sie regelmäßig Sex hätten, darauf jedoch hatte sie sich nicht eingelassen. Er war alt und hässlich, und sie war in einem anderen Leben einmal eine Schönheit gewesen, zumindest gut aussehend.
Wie so oft wurde der Nachmittag quasi einfach weggetrunken. Wie viele Stunden, Tage, Wochen, Monate und Jahre habe ich nun schon zum Zeitvertreib und zum Vergessen getrunken, dachte sie, als sie die Sonne untergehen sah, traurig über ihr Leben und wütend auf den Spanier und auf alle anderen in Split.
»Ich fahre jetzt nach Podstrana«, sagte sie entschlossen und stand auf.
»Was zum Teufel willst du denn da?«, lachte der Spanier, »etwa Porträts für die Millionäre zeichnen?«
»Ach, halt’s Maul. Ich will am Hafen sitzen und etwas essen, wenn du mir ein bisschen Geld gibst.«
Der Spanier griff in seine ausgebeulten Hosentaschen, und es kamen genug Scheine zum Vorschein, um gemeinsam essen zu gehen. Weder Josephine noch irgendjemand am Hafen konnte sich einen Reim darauf machen, woher der Spanier sein Geld hatte. Vermutlich ging er betteln, aber niemand konnte das bestätigen. Er schien ein Geheimnis in sich zu tragen, denn niemand kannte seinen Namen oder wusste, wo genau er herkam und was ihn nach Split verschlagen hatte. Er war älter als die anderen am Hafen, sein Haar war bereits ergraut und wurde immer länger.
»Ich komme mit und lade dich ein«, sagte er und erhaschte ihre linke Brust, als er ihr aufhalf.
»Na gut«, antwortete sie wohl wissend, dass es ohne seine Gesellschaft kein Abendessen geben würde.
Sie schlenderten die Hafenpromenade entlang, grüßten die Porträtzeichner. Andrea streckte ihr wütend die Zunge entgegen, wie immer, wenn er sie mit dem Alten sah. Heute konnte es sich Josephine nicht verkneifen, ihm »Grazie, Cyrus!« entgegen zu schmettern, und alle lachten über diese gelungene Retourkutsche, selbst Andrea.
Der Bus Nummer 60 war voll, und viele der Sitze dem Vandalismus zum Opfer gefallen, sodass die Menschen stehen mussten. Der Spanier ergriff die Gelegenheit der Nähe zum Schmusen, wie er es nannte.
In Podstrana liefen sie eine große Treppe hinab zum Jachthafen und zu dem Restaurant, in dem man Josephine schon einmal bedient hatte, und auch heute trotz ihres ungepflegten Äußeren freundlich grüßte, was bei Weitem nicht immer der Fall war. Sie teilten sich ein Nudelgericht und bestellten einen Tafelwein, und da Josephine sich über die Gesellschaft des Spaniers ärgerte, trank sie die erste Karaffe in einem Zug aus, sodass der Spanier danach einen Liter Rotwein bestellte, den billigsten, der hier zu bekommen war. Bald stritten sie sich, und da forderte der Kellner die beiden doch auf, das Restaurant zu verlassen.
Nachdem sie den Spanier endlich losgeworden war, steckte sie sich einen Kaugummi in den Mund, der ihr gegen das Sodbrennen half, das zwangsläufig nach so viel Rotwein auftrat. Elend fühlte sie sich, schon wieder betrunken! Sie torkelte hinüber zu den Jachten. Ihre Beine waren schwer und spiegelten ihre Stimmung wider. Sie setzte sich eine Zeit lang auf die Hafenmauer, schaute zum Meer hinaus, um bald darauf wieder aufzustehen. Beide Kniegelenke knacksten.
Sie schaute zu den Jachten, lief zu ihnen hinüber, und las die Namen leise vor. Eine große Motorjacht hieß Joy. Unpassend. Daneben lag eine schöne, kleinere Jacht namens Valletta. Sie kannte Valletta nicht, nicht einmal Malta, und konnte damit nichts anfangen. Nun kam sie zu einer Segeljacht, die sie auf mindestens vierzehn Meter schätzte, ein Schmuckstück. Secret las sie. Secret in schöner, geschwungener Schrift. Darüber war ein bunter Schmetterling zu sehen. Das gefiel ihr.
»Hello?«, rief sie fragend. Niemand antwortete, obwohl die Tür zum Salon offen stand. Kein Licht brannte. Sie kletterte auf das Boot, torkelte über das Deck zur Reling und sah dort eine knallrote Fleecedecke liegen. Diese kam wie gerufen! Sie war aus dickem Stoff, weich und sauber. Sie kuschelte sich in die Decke, legte sich ihre Jacke als Kopfkissen unter, und schlief sofort ein, glücklich, einen schönen Schlafplatz unter dem Sternenhimmel gefunden zu haben.
Peter war ein Frühaufsteher. Kein überzeugter, sondern vielmehr einer, der abends zu früh ins Bett ging, um bis in den Tag hinein schlafen zu können. Als er zum Kajütenfenster hinausschaute, hatte der Tag sich gerade erst angekündigt. Er gähnte, reckte sich und wollte die Straßenkatze noch vor dem Duschen füttern. Die hatte es sich seit einigen Tagen am Bug seiner Jacht gemütlich gemacht und es sichtlich genossen, ein Deckchen und täglich die leckersten Essensreste aus einer Schüssel zu erhalten. Die zarte, grau getigerte Katze mit ihren großen Ohren hatte hier auch ein Versteck vor den anderen Katzen gefunden, die sich auf Schiffen normalerweise nicht so schnell wohlfühlten.
Peter lief barfuß in die Pantry, wo er seine Essensreste für die Katze sorgfältig in einer Tupperdose aufbewahrte. Nachdem ihm kein anderer, passender Name für das Kätzchen eingefallen war, taufte er sie nun in Gedanken einfach Kleine Katze, denn entweder war sie zarter als die anderen oder noch ein Jungtier, was wahrscheinlicher war.
»Kleine Katze«, rief er, als er mit der gefüllten Schüssel den Salon verließ, und traute seinen Augen nicht. Die Katze hatte sich erbrochen und lag beleidigt zwei Meter von ihrer Decke entfernt, in der sich ein Mensch eingewickelt hatte. Nun miaute sie, und als Peter ihr die Schüssel hinstellte, schien sie wieder versöhnt zu sein, denn es gab allerlei gemischtes Eiweiß vom Feinsten.
Peter ging auf die Fleecedecke zu, es regte sich nichts. Er vernahm den Geruch einer Alkoholfahne, der aus der Decke strömte, und als er sich dem Kopfende näherte, sah er Dreadlocks aus der Decke lugen.
Die Frau aus dem Meer, schoss es ihm durch den Kopf, das ist sie! Er weckte sie nicht, sondern spannte einen Sonnenschutz über ihren Körper. Laut der Wettervorhersage sollte heute der bisher wärmste Tag des Jahres werden, der Himmel war blau, und die Sonne schien bereits. Die Frau konnte im Schatten weiter schlafen. Die Katze legte sich an das Fußende der Decke, schmollte noch ein wenig, ließ sich aber schnurrend von Peter streicheln.
»Kleine Katze«, sagte er liebevoll zu ihr, »hier liegt jetzt auch eine große Katze, so ist das nun mal. Damit müssen wir leben.«
Er ging duschen, cremte sich mit reichlich Sonnencreme ein und verließ in Jeans und Poloshirt seine Jacht, um in einem der Cafés an der Marina zu frühstücken. Von hier aus würde er die seltsame Frau an Bord beobachten können. Anders, als es hier Sitte war, bestellte er ein ausgiebiges Frühstück mit Baguette, Käse, Schinken, Oliven und einem starken Mokka dazu.
Nach zwei Stunden hatte sich noch immer nichts getan, keine einzige Bewegung der vermeintlichen Deutschen hatte er zur Kenntnis genommen. Er sah Kleine Katze vorsichtig vom Schiff springen, sonst nichts. Bald verlor er die Geduld, zog sich im Salon seine Joggingsachen an, und lief wie jeden Tag die Promenade in Richtung Dubrovnik entlang.
Er hatte seine Jacht absichtlich offen gelassen. Peter hatte keine Angst vor Dieben. Seine Börse, Karten, Papiere und einen Schlüsselbund trug er immer bei sich, auch beim Sport, und um etwas anderes sorgte er sich nicht. Alles, was er besaß, konnte er sich wieder anschaffen, oder es waren Dinge, die Diebe nicht entfernen würden, Bücher, seine eigenen Aufzeichnungen, Anziehsachen. Soweit er wusste, war es noch nie zuvor vorgekommen, dass jemand seine Jacht heimlich betreten hatte, egal, wo sie lag. Schließlich gab es überall einen Hafenmeister, und die Marinas wurden meist videoüberwacht. Nur ab und zu schloss er ab, und zwar immer dann, wenn er ihr lange Zeit fernblieb, über Nacht etwa, oder wenn er neu in einem Jachthafen war, und er die Nachbarn noch nicht kannte. In der Marina Lav bei Podstrana aber kannte man ihn mittlerweile und er war sich sicher, dass so leicht nichts passieren würde.
Als er vom Joggen zurückkam, lag Kleine Katze auf ihrer Decke. Große Katze war verschwunden, hatte aber die Decke für die Katze ordentlich zusammengefaltet, genau so, wie sie vorher gelegen hatte. Peter roch an der Decke und war froh darüber, dass sie nicht stank, denn damit hatte er gerechnet. Er stieg nach unten in die Pantry und sah sofort, dass die Große Katze sich ein wenig Proviant mitgenommen hatte. Soweit er übersehen konnte, fehlten eine Flasche Mineralwasser ohne Kohlensäure, Brot, Bananen und Äpfel. Sie hatte wohl in einem der Schapps nach einer Plastiktüte gesucht, und diese schließlich gefunden. Eine der Tüten lugte noch hervor. Andere Unordnung hatte sie nicht gemacht.
Auf dem großen Tisch war alles aufgeräumt. Nichts war entfernt worden, auch nicht sein Laptop, auf dem er gelegentlich im Internet surfte, wenn es in einem Hafen W-LAN gab.
Nur im Badezimmer hatte sie eindeutige Spuren hinterlassen. Sie hatte geduscht, Peters Handtuch lag nun im Wäschekorb, und sein Shampoo stand offen neben der Dusche. Im Waschbecken waren schwarze Spuren zu sehen, ja, beinahe das ganze Waschbecken war von einer undefinierbaren schwarzen Schicht überzogen. Peter konnte sich überhaupt keinen Reim darauf machen. Was zum Teufel hatte diese Große Katze hier zu reinigen versucht?
Er holte das Handtuch aus dem Wäschekorb und sah, dass die schwarzen Spuren auch auf dem Textil zu finden waren. Er roch daran, aber alles roch neutral oder nach seinem Shampoo. Entfernt hatte sie auch hier rein gar nichts, höchstens eine Rolle Toilettenpapier. Seine teure Armbanduhr oder andere Kleinigkeiten, die sie hätte zu Geld machen können, hatte sie nicht entwendet, sodass Peter beschloss, sie eine weitere Nacht am Bug des Schiffes schlafen zu lassen, wenn sie denn wiederkäme.
Sie war nicht gekommen. Fast schon ein wenig enttäuscht kümmerte sich Peter am nächsten Morgen wieder rührend um Kleine Katze, bevor er selbst frühstückte. Danach wollte er klar Schiff machen, es war mal wieder an der Zeit. Peter war sehr sauber und ordentlich und scheute nicht davor zurück, diese Aufgabe selbst zu übernehmen. Er nahm sich zuerst die Nasszelle vor, und putzte vor allem das Waschbecken mit den seltsamen schwarzen Hinterlassenschaften der Frau, die einen Tag später wie ein Zeichen auf ihn wirkten. Er meinte, ein Gesicht in den Schmutzresten zu erkennen, verwarf den Gedanken aber sofort wieder und bezeichnete sich selbst lachend als Spinner.
Nachdem er die Kajüte geputzt hatte, machte er sich an den wesentlich größeren Teil der Arbeit, die er lange vor sich hergeschoben hatte. Es war an der Zeit, die gesamte Jacht von außen zu putzen, die Außenhaut, das Deck, die Plicht, aber auch den Mast, die Gangway, Poller, Fenster und Luken. Immerhin hatte er die Sitze aus Teakholz schon vor einigen Tagen geölt, und im selben Zuge auch das Teakdeck. Es glänzte wie neu. Nun aber wartete der Teil der Arbeit auf ihn, den er vor sich hergeschoben hatte.
Gegenüber sah er einen Nachbarn seine Jacht mit Wasser reinigen, aber Peter putzte die Secret nicht ausschließlich mit Wasser. Nach der Trocknung würden sich die mineralischen Rückstände in allen Vertiefungen und Kapillaren niederschlagen und danach kontinuierlich eine mineralische Kruste bilden. Die Verkrustung würde noch mehr Schmutz auffangen, und saurer Regen, Abgase und dergleichen den Zustand des Bootes verschlechtern. Er holte einen Autoreiniger aus der Kammer, mit dem er hervorragende Ergebnisse erzielt hatte, und ein Mikrofasertuch, das so weich war, dass es keinerlei Spuren hinterließ. Ausgerüstet mit Gummihandschuhen, einem Eimer Wasser, einem Schrubber, den unterschiedlichsten Reinigern und Tüchern in den Händen stieg er die Treppe hinauf und begann mit der Arbeit, als ihm Joe zuwinkte, sein Nachbar auf der Valletta.
»Endlich schönes Wetter, und du hast nichts Besseres zu tun als zu putzen«, lachte Joe.
»Ach, kein Problem. Wo Arbeit anfällt, muss sie getan werden, oder? Ich habe erst kürzlich in Italien eine Crew beauftragt, mein Prachtstück komplett zu sanieren, hatte ordentlich mit Fouling zu tun. Ich hatte extra ein Antifouling bestellt, das ökologischer ist als die normalen. Nun, Schiffsrumpf, Elektrik, Elektronik, Motoren, Takelage, alles wie neu! Den Rest muss ich aber selbst erledigen.«
Joe lachte. Er gehörte zu dem mediterranen Menschenschlag, der sehr viel lachte, und das Gesicht des alten Mannes bestand fast gänzlich aus Lachfalten.
»Du steckst mich an! Wenn ich dich so sehe, bekomme ich direkt Lust, meine Valletta auch zu schrubben. Ich sehe sie gerne glänzen, aber die Arbeit …«
»Ich putze mein Boot, weil ich demnächst aufbrechen will«, rief Peter dem sympathischen Nachbarn zu.
»Wohin soll es denn gehen? Nach Malta vielleicht?«
»Nein, da werde ich wohl erst später wieder anlegen. Ich möchte erst mal Griechenland ansteuern.«
»Auch schön. Hast du dir Kroatien überhaupt richtig angeschaut?«
Peter zögerte. Es fiel ihm nicht leicht, über den Kroatienbesuch zu sprechen. Er hatte niemanden aufgesucht, war ganz allein für sich geblieben.
»Ich war in den letzten Tagen unterwegs auf einigen Inseln und in Split, mehr habe ich nicht gesehen, aber es war alles sehr schön«, rief Peter von Boot zu Boot.
»Auf der Insel Brač gibt es diese tollen Steinbrüche mit weißem Kalkstein, hast du die gesehen?«, rief Joe.
»Ja, und den Leuchtturm von Hvar. Auf Vis habe ich mir den U-Boot-Bunker angesehen. Das Beste aber war, dass mich jemand auf der Gajeta Falkuse mitgenommen hat, es war ein kurzer Törn um die Inseln.«
Joe strahlte. Er kannte diese alten Fischerboote, war aber nie zu einem Törn eingeladen worden. Die beiden Männer verabredeten sich zum Dinner, und als es Abend wurde, klopften sie bei den anderen Jachten an, damit Peter in geselliger Runde seinen Abschied feiern konnte. Viele hatten sich noch nie vorher gesehen. Joe und er hatten dreizehn Leute zusammengetrommelt, und der Malteser, der es von seiner Heimat gewohnt war, abends an großen Tafeln zu speisen, freute sich über die Kunst des Deutschen, diese geselligen Runden zu organisieren. Da ein Geburtstagskind dabei war, war die Stimmung besonders heiter und ausgelassen, und am Ende stritt man spaßig darüber, wer die Rechnung begleichen würde. Peter setzte sich durch. Gegen Mitternacht war er ein wenig beschwipst, machte zur Verdauung noch einen kleinen Abendspaziergang, und fiel müde in seine Koje und Träume.
Er hatte nach einem frühmorgendlichen Kaffee und einem Croissant nur wenige Kilometer entlang der kroatischen Adriaküste Richtung Süden zurückgelegt, als er plötzlich neben sich und dem Ruder ein »Miau« vernahm. Kleine Katze?
Seit dem letzten Frühstück hatte er sie nicht mehr gesehen und war froh darüber gewesen, denn das Abschiednehmen wäre ihm schwergefallen. Sie lief auf ihn zu, schmiegte sich an ihn und forderte ihn auf, sie zu streicheln und für sie zu sorgen.
»Miau, miau, miau«, antwortete Peter, »wo hattest du dich denn versteckt, he? Und was soll ich nun mit dir tun?«
Er wollte gerade das Essen für Kleine Katze zurechtmachen, als er ein dumpfes Geräusch aus Richtung der Sitzecke vernahm.
»Miau«, machte die Kleine Katze wieder.
»Ja, ja, gleich«, antwortete Peter, »eine Minute Geduld noch!«
Wahrscheinlich, dachte er, höre ich langsam Gespenster. Da aber das Geräusch auf keinen Fall vom Deck kam, und er die Geräusche der Takelage sowieso im Schlaf erkannte, bewegte er sich auf die gepolsterte Sitzbank zu. Er bückte sich, und als er ein Stückchen der roten Decke sah, die er ganz sicher nicht hier versteckt hatte, war ihm alles klar!
Kleine Katze und Große Katze an Bord!