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Der Skipper und die Einschleicherin

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Peter hatte lange abgewartet. Er war der Meinung, dass die Große Katze sich ihm vorzustellen hatte, und wenn das Wort »vorstellen« auch ein wenig hochgestochen klang, so fand er doch, dass sie langsam etwas von sich geben sollte. Er hatte auf Autopilot gestellt, sodass der eingegebene Kurs beibehalten und jede seitliche Abdrift durch Wind oder Strömung verhindert wurde.

Seit einigen Stunden wartete er nun schon auf ein Wort von ihr, aber die fremde Frau war nur wortlos aus dem Stauraum der Sitzbank hervorgekrochen, und saß seitdem breitbeinig auf dem Boden, mit dem Rücken an die Sitzbank angelehnt. Es hatte keinen Blickkontakt gegeben. Sie hatte sich einen Kaugummi aus ihrer Gürteltasche genommen, auf dem sie laut herum kaute und hin und wieder Blasen damit erzeugte, und war einmal vor sich hin hüstelnd zur Toilette gegangen. Sonst nichts. Meist hielt sie ihre Augen geschlossen, und wenn sie diese mal öffnete, starrte sie auf die vielen Bücher, die Peter in speziell angefertigten Vitrinen untergebracht hatte.

Er hatte am Nachmittag den Anker vor der Insel Susac geworfen und wartete an Deck geduldig auf das erste Wort, das nicht aus seinem Mund stammen würde. Er hatte Zeit. Viel Zeit. Nun, die Große Katze hat wohl ebenso viel Zeit wie ich, dachte er schmunzelnd, mal schauen, wer den längeren Atem hat in puncto Schweigen.

»Miau, miau«, machte die kleine Katze, und so begab sich Peter erneut hinunter in die Pantry, um ein paar Fleischreste für sie zurechtzumachen. Er würde sich beim nächsten Stopp mit Katzenfutter eindecken müssen, wenn sie auf dem Boot bleiben würde. Eine Katze an Bord zu haben, gefiel Peter wesentlich besser als eine Frau, die kein Wort sagte.

Während Kleine Katze mit ihrem Futter beschäftigt war, schaltete Peter Musik ein, um der Spannung, die auf dem Boot herrschte, ein Ende zu setzen. Die Musik schien der Frau zu gefallen, sie wippte mit dem Fuß, und nun meinte er sogar zu hören, dass sie eine Zeile des Tina-Turner-Songs leise mitsang.

Kleine Katze sprang nach dem Essen auf den Schoß der Frau, streckte und reckte sich, ließ sich am Hals streicheln und schnurrte. Die merkwürdige Fremde schien einen guten Draht zu Katzen zu haben. Während Peter mit der Zeit innerlich immer gereizter wurde, schien das Kätzchen sich mit der großen Katze regelrecht anzufreunden. Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie die dicke Frau ihre Gürteltasche zum Spielen mit der Katze benutzte und einmal dabei auch leise kicherte. Dann aber schloss sie ihre Augen wieder und nuschelte: »Scheiße.«

Jetzt reichte es Peter. Das erste Wort war gefallen, nun war es an der Zeit zu reden. Die Frau konnte bisher nicht ahnen, dass er Deutsch verstand, als Peter knapp antwortete: »So scheiße ist es hier doch gar nicht, oder?«

Die Frau zuckte erstaunt zusammen, fing aber laut an zu lachen, schüttelte sich und lachte im Liegen weiter. Sie schien eine scheue, große Katze zu sein, denn sie warf ihm kaum einen Blick zu und vermied jeglichen Augenkontakt. Als sie endlich aufhörte zu lachen, fragte sie ihn noch immer nicht nach seinem Namen.

»Ist das dein Boot?«

»Ja. Oder glaubst du vielleicht, das Boot gehört dem Kätzchen?«

Wieder schüttelte sich die Frau vor Lachen, wich aber nach wie vor seinem Blick aus. Peter konnte sehen, dass die Frau schrecklich schlechte Zähne und sogar zwei deutlich sichtbare Zahnlücken hatte.

»Wir liegen hier noch an der Adriaküste und können weitersegeln in Richtung Dubrovnik. Willst du auf meinem Boot bleiben?«, fragte Peter, stellte seine Tasse ab, und setzte sich nun ebenfalls auf den Boden der Kajüte.

»Na ja, ich kann ja hier schlecht aussteigen, mitten auf dem Meer, oder?«

Diese Retourkutsche ließ Peter schmunzeln. Das Eis schien gebrochen zu sein.

»Ich habe Durst, hast du was zu trinken?«, fragte die Frau, ohne ihn dabei anzuschauen.

»Es ist alles vorhanden. Wasser, Orangensaft, Apfels…«

»Hast du Bier?«, unterbrach sie ihn.

»Auch das«, sagte Peter, lief in die Pantry und öffnete zwei Flaschen Bier. Er genoss das Bier, denn normalerweise trank er nur an sehr heißen Hochsommertagen gelegentlich ein Bier. Heute aber war kein Tag wie jeder andere. Ein merkwürdiger Tag

Sie saßen nun zu dritt auf dem Boden, Kleine Katze sprang zwischen den beiden hin und her, miaute ab und zu, aber Große Katze bevorzugte es, wieder zu schweigen, und leerte ihre vier Flaschen schneller als Peter seine beiden.

Die Secret schaukelte sanft im Wind und trieb sachte in Richtung der Insel. Mit Ausnahme eines zarten, knarrenden Geräuschs, das vom Mast ausging, war kaum etwas zu hören. Es gab kaum Wellen, und nur ab und zu kreischte eine Möwe.

»Da drüben liegt die Insel Susac, sie scheint nach dir benannt zu sein.«

Die Frau runzelte fragend die Stirn und kicherte.

»Es gibt in der Medizin ein sogenanntes Susac-Syndrom. Die Menschen, die daran leiden, neigen zu geschlossenen Augen und mitunter zu unerklärbarer Schwerhörigkeit, so weit ich mich erinnere. Sie antworten daher nie und …«

Die Frau lachte auf, und endlich schaute sie ihm kurz und schüchtern in die Augen.

Die Augen sind das einzig Schöne an der Großen Katze.

»Was soll ich denn schon sagen? Ich bin hier einfach als blinder Passagier auf deiner Jacht, bist du nicht sauer?«

»Bis jetzt noch nicht. Aber du könntest etwas dazu sagen, oder mir deinen Namen verraten. Du könntest deine Augen etwas häufiger öffnen, um kein blinder Passagier mehr zu sein.«

»Ich bin Josephine und auf der Suche nach Atlantis«, kicherte sie und reichte ihm ihre schwarze Hand.

»Ich bin Peter. Das da unten ist Kleine Katze. »

Josephine lächelte. »Kleine Katze? Heißt sie einfach Kleine Katze?«

»Ja.«

Josephine zog die rote, weiche Decke unter der Bank hervor, legte sie sorgfältig zusammen, sodass Kleine Katze es sich darauf bequem machen konnte.

»Hier, Kleine Katze, das war deine Decke«, sagte sie in alberner Babysprache, »die hatte ich Monster dir schon wieder zum Schlafen weggenommen.«

»Möchtest du endlich auch mal etwas essen? Die Katze hat schon gegessen, und ich auch. Du hast nur Bier getrunken.«

»Ich trinke morgens oft Bier zum Frühstück. Aber wenn du was hast, gerne.«

»Du weißt ja, wo die Küche ist, bediene dich. Ich habe mich in Split reichlich eingedeckt, der Kühlschrank ist voll bis obenhin.«

Josephine überhörte diese Anspielung, nahm ihren Kaugummi aus dem Mund und rollte ihn zwischen den Fingerspitzen hin und her. Peter hatte den Eindruck, als wolle sie dadurch den Dreck aus den Fingern in die klebrige Masse ziehen. Danach stand sie auf, schaute Peter ungläubig an, immer noch unsicher und verblüfft, dass er nicht böse auf sie war.

Sie tat es ihm gleich und stippte etwas unvorsichtiger als er ein Croissant in den heißen Milchkaffee, so wie es auch die Franzosen taten, wenn sie frühstückten. Den Schinken, den Peter ihr hingelegt hatte, gab sie der Katze und sagte zu ihm, als er sich wieder zu ihr gesellte: »Kleine Katze hat dort drüben hingemacht. Wo ist ihr Katzenklo?«

Daran hatte Peter überhaupt noch nicht gedacht, denn seine Gedanken waren immerzu bei der fremden Frau gewesen.

»Oh, sie hat noch gar keins, aber natürlich, du hast recht! Weißt du, sie ist erst hier, seit auch du hier an Bord bist, und deshalb habe ich euch Kleine Katze und Gr…«

Josephine unterbrach ihn.

»Ich hatte früher Katzen, ich kenne mich aus. Wenn du mich irgendwo bei einer Stadt rausschmeißt, mache ich euch vorher noch ein schönes Katzenklo zurecht, okay? Ich habe kein Geld und kann mich nicht anders bei dir bedanken.«

»Okay«, antwortete er nur, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, Josephine einfach wieder irgendwo zurückzulassen. Er verspürte Neugier und wollte mehr über die Frau erfahren, die jetzt am Kajütenfenster stand und rief:

»Es dämmert schon. Ich möchte schwimmen gehen. Das Wasser sieht total klar aus, durchsichtig, wollen wir zur Insel schwimmen?«

»Nein. Erstens möchte ich bald weitersegeln, und zweitens kann ich nicht schwimmen!«

Josephine schüttelte sich, wie immer, wenn sie lachte.

»Du hast eine Jacht, und kannst nicht schwimmen?«

Peter zeigte beiläufig hinüber zu den Rettungsmitteln und rief Josephine von der Reling aus zu:

»Ich habe Angst vor Fischen. Ich mag sie mehr als gerne essen, aber kann nicht ertragen, wenn sie neben mir im Meer schwimmen. Das kommt von einer Erfahrung, die ich mit fünf Jahren machte. Meine Eltern waren mit mir an der Mosel im Sommerurlaub, ich wollte mir die Füße kühlen, und habe um mich herum plötzlich Tausende toter Fische gesehen. Es gab damals ein großes Fischsterben. Seitdem wollte ich nie mehr in einen Fluss oder ins Meer und habe darauf verzichtet, erneut schwimmen zu lernen.«

Josephine lachte nun nicht mehr. Sie wusste jetzt, warum Peter andauernd eine dieser Westen trug. Sie legte ihre viel zu große Hose ab, danach ihre Bluse und die Unterwäsche.

Sie stand ungeniert nackt vor Peter, weiß war ihre Haut, und ihre Brüste hingen herab. Sie nahm ihre Unterwäsche und warf sie in den Abfallbehälter, lief zur Reling und sprang grinsend ins offene Meer.

Sie schlenderten gemeinsam durch die nächtlichen Straßen von Dubrovnik und wirkten auf die Passanten wie ein merkwürdiges Gespann. Peter, von Natur aus hellhäutig, hatte durch seinen ständigen Aufenthalt auf dem Meer eine gesunde Hautfarbe. Josephine hatte von Natur aus relativ dunkle Haut, und auch sie verbrachte die meiste Zeit im Freien. Trotzdem wirkte ihre Haut blass und ungesund. Das künstliche Licht der Laternen mochte diesen Unterschied noch ein wenig verbergen, alles andere aber war nicht zu übersehen, sodass die beiden die Blicke auf sich zogen.

Peter war nicht wesentlich größer als sie, seine Gestalt aber schlank und sportlich, was man von Josephine nicht behaupten konnte. Sie trug keinen BH, und Peter bemerkte, dass die jungen Frauen entsetzt auf ihre fülligen, hängenden Brüste starrten. Josephines Gestalt und ihre Art, sich gänzlich über kritische Blicke hinwegzusetzen, war wie ein Schlag ins Gesicht für die modebewussten jungen Mädchen, die sich ohne Schminke nackt und hilflos fühlten, ja, geradezu verloren. Fast noch mehr aber wurde ihre Glatze entsetzt beglotzt. Josephine war nach ihrem mutigen Sprung ins Meer lange im kalten Nass geschwommen, hatte an Bord nach einer Schere gefragt, sich bald darauf eine Stunde ins Bad zurückgezogen, um geschoren wieder herauszukommen. Peter hatte zur Glatze nichts gesagt, und ihr nur wortlos eine seiner Unterhosen hingelegt, mit mehr hatte er nicht dienen können. Seine Shirts und Hosen waren ihr zu eng.

Josephine trug hier in Dubrovnik noch immer die schmutzige Hose, die ihr zu weit war, und um die sie ihre altersbrüchige, schwarze Gürteltasche schnürte, damit sie nicht rutschte. Peter hingegen war bestens gekleidet und trug einen flotten Kurzhaarschnitt. Er hatte Hunger und war der Meinung, dass Josephine dieses Gefühl teilen müsse. Sie aber sagte wieder kein Wort. Sie hatte herzergreifend geweint, als sie am Hafen von Dubrovnik angelegt hatten, so als würde sie mit dieser Stadt etwas verbinden, dass sie zum Weinen brachte. Es war zu früh, um Fragen zu stellen, sodass er sich entschlossen hatte, zu warten, bis sie fertig mit Weinen war. Schließlich hatten sie ohne Worte die Secret verlassen und waren an der Stadtmauer entlang gelaufen, wo hoch über ihnen die Festung thronte.

»Eine schöne Stadt«, sagte er nun vorsichtig, aber schon sah er erneut Tränen in ihren warmen und verletzlichen Augen, und so lenkte er das Thema auf das Abendessen.

»Was würdest du gerne essen? Du bist eingeladen, such dir ein Restaurant aus, okay?«

»Danke, wir können sogar draußen sitzen, es wird immer wärmer«, sagte sie leise, und nahm sogleich am erstbesten Tisch Platz.

Sie bestellten einen Vorspeisenteller, Riesengarnelen für Peter und Muscheln für Josephine, Salat und eine Flasche Weißwein. Josephine aß neben den Muscheln auch die Salatblätter und den Schafskäse nur mit ihren dunklen Fingern, und als sie den Wein probierte, atmete sie genüsslich aus.

»Guter Wein, oh, was für ein Wein! Ich habe so lange keinen richtig guten Wein mehr getrunken, kannst du noch eine Flasche bestellen?«

Peter lächelte, bestellte eine zweite Flasche des teuren Weins und auch eine weitere Flasche Wasser. Josephine wechselte einige Sätze mit dem Kellner auf Kroatisch, dann aber wandte sie sich wieder Peter zu.

»Wenn du mich nicht fortschickst, könnte ich mich um die Katze kümmern. Sie ist ein weibliches Jungtier. Ich könnte sie erziehen, wenn wir ein Katzenklo besorgen. Ich kenne mich wirklich gut mit Katzen aus. Anders kann ich mich nicht nützlich machen oder bedanken, ich habe kein Geld. Ich kann aber auch putzen und so …«

»Ich brauche keine Putzfrau, Josephine. Das mit Kleine Katze ist eine gute Idee. Das ist dann deine Aufgabe, deine Schiffsrolle sozusagen. Ich werde dich nicht fortschicken. Bist du im Besitz von Papieren? Ich meine: Kannst du dich ausweisen?«

»Ja, ich habe einen Ausweis, er ist noch ein paar Monate gültig.«

Peter trank sein stilles Wasser und dachte nach. Er war Gesellschaft an Bord nicht gewöhnt, und er konnte nicht einmal genau sagen, ob er die Frau nun mochte oder nicht. Er wusste nichts über sie, sein Gefühl aber sagte ihm, dass es keinen Ärger geben würde. Er vertraute darauf.

»Du bist Arzt, stimmt’s?«, fragte Josephine aus heiterem Himmel.

»Arzt? Nein, wie kommst du denn darauf?«

»Das Susac-Syndrom und all die vielen Bücher an Bord. Darunter befinden sich etliche Medizinbücher.«

»Ich bin kein Arzt. Ich lese viel, alle erdenklichen Bereiche interessieren mich. An Bord ist es ganz gut, nachschlagen zu können, wenn es einem nicht gut geht. Ich bin ja immer auf mich allein gestellt.«

»Jetzt nicht mehr«, sagte Josephine, und schenkte ihm sogar ein Lächeln. Danach stand sie auf, sagte, sie gehe zum Jachthafen und wolle nachdenken, und verabschiedete sich.

Auch Peter dachte nach. Er nahm Stift und einen Block zur Hand und notierte: Katzenklo, Katzenfutter, Bier, Wein, Unterwäsche, Klamotten, Lesebrille, Kaugummi, Toilettenartikel etc. für J.

Sie würde in einer der Kabinen schlafen können, anstatt unter der Bank. Es gab genug Platz auf der für eine Segeljacht geräumigen Secret, sodass man sich aus dem Weg gehen konnte, wenn es mal Streit gab. So etwas wie Streit kannte er überhaupt nicht mehr, sein letzter war schon viele Jahre her. Er kannte nur noch Small Talk. Gemeinsam nur zu zweit Essen zu gehen, das war ihm auch vollkommen fremd vorgekommen, aber es hatte ihm gefallen.

Zufrieden fragte er nach der Rechnung, die er mit einer seiner drei Platinkarten beglich. Als er wenig später am Hafenbecken landete, sah er Josephine bereits von Weitem. Sie saß auf einem Felsbrocken, ließ ihre Beine baumeln und weinte schon wieder. Peter ließ sie in Ruhe und zog es vor, sich ein kühles Glas Wasser auf dem Deck zu gönnen, aber auch von hier aus konnte er hören, was Josephine von sich gab. Da sie betrunken war, ließ sie sich gehen. Vassilis, Vassi, konnte er verstehen, sie schien mit einem Griechen zu reden, und schon merkte er, dass es sich tatsächlich um die griechische Sprache handelte, in der sie sprach.

Nach ungefähr einer Stunde kam sie zu ihm an Bord, kümmerte sich liebevoll um Kleine Katze, und lümmelte sich vor die Bank, unter der sie geschlafen hatte.

»Möchtest du auch ein Wasser, Josephine?«, fragte Peter freundlich und ein wenig besorgt.

Josephine gefiel seine tiefe Stimme, und sie war fast ein wenig gerührt über seine Fürsorge. »Gerne, Wasser ist immer gut. Ich trinke viel zu viel Alkohol.«

»Ich konnte dich hören«, traute sich Peter zu sagen, »du vermisst einen Mann, der Vassilis heißt, stimmt’s?«

Josephine lachte und weinte zugleich.

»Er ist tot. Vassi ist tot. Ich habe ihn so sehr geliebt. Scheiße!«

»Er ist tot? Was ist geschehen?«, fragte Peter und zündete einige Kerzen an, damit Josephine sich wohlfühlen konnte, und weinen ohne helles Licht, in dem man ihre Tränen sah.

»Vassi und ich sind uns vor ein paar Jahren auf Korfu begegnet, wir haben uns sofort ineinander verknallt. Er war auch Porträtzeichner, so wie ich …«

»Du bist Porträtzeichnerin?«, unterbrach Peter, dem nun ein Licht bezüglich ihrer schwarzen Finger aufging.

»Ja, ach, ja, das weißt du ja noch gar nicht«, lallte sie und redete plötzlich wie ein Wasserfall, während Peter sich zurücklehnte und lauschte.

»Wir waren beide nicht nur Alkis, sondern auch Kettenraucher, und Vassi hat mich dazu gebracht, mit dem Rauchen aufzuhören, weil ich ständig hustete. Ich glaube, ich wäre sonst selbst schon tot, oder zumindest total krank. Er hat mir die Zigaretten einfach immer weggenommen, und mir anstelle einer Zigarette einen langen Kuss gegeben. Das hat gewirkt«, sagte sie lächelnd und fuhr fort:

»Vassi hatte irgendeinen Ärger auf Korfu, aber darüber hat er nie gesprochen. Er hatte seine Wohnung verloren, und wir sind in ein verfallenes, leeres Haus gezogen. Abends am Hafen haben wir die Touristen gezeichnet, aber immer zu viel getrunken. Er wollte dann fort von Korfu, und da sind wir über Bari in Italien mit der Fähre nach Dubrovnik gereist. Vassi hatte plötzlich viel Geld, und er hat immer gesagt, dass er ein Meister des Sparens sei. Jedenfalls hatten wir einen guten Start hier. Wir waren glücklich, vor allem ich, denn ich hatte zum ersten Mal seit langer Zeit einen Freund, dem ich blind vertraute. Ich weiß bis heute nicht, aus welcher Richtung der Ärger kam, den er immer hatte, aber auch hier fühlte er sich bald verfolgt, und eines Tages war er tot!«

»Was? Wie …?«

»Ich weiß es nicht. Es wurde nicht geklärt. Er wurde leblos im Hafenbecken aufgefunden, und angeblich ist er vorher erstickt, also umgebracht worden. Jemand soll ihm Nase und Mund zugehalten und ihn danach ins Wasser geworfen haben. Ich musste ständig zur Polizei, sie haben mich sogar andauernd dort behalten, weil sie mich verdächtigten. Ich weiß nicht, warum ich dann plötzlich in Ruhe gelassen wurde. Danach wollte ich nur noch fort von hier und habe den Bus nach Split genommen«, lallte sie, schluchzte laut und hörte gar nicht mehr auf.

Als sie erwachte, weinte sie sofort wieder. Nicht über ihren verlorenen Freund und auch nicht, weil sie sich schlecht und verkatert fühlte, sondern vielmehr aus Rührung, als sie den Zettel las, der neben ihrem Bett lag:

Liebe Josephine, ich hoffe, du hast gut geschlafen. Ich war in der Stadt und habe eingekauft. Die Sachen für das Katzenklo findest du im Bad, vielleicht machst du es ihr zurecht und versuchst ihr alles beizubringen?

Ich habe dir einen meiner Schapps freigeräumt. Ein paar neue Anziehsachen habe ich auch besorgt, und auch Toilettenartikel.

Jetzt bin ich Mittagessen am Hafen, wenn du magst, kannst du dich zu uns gesellen. Bis später, Peter

Peter musste sie am Vorabend zugedeckt und ihren Kopf auf ein Kissen gebettet haben. Kleine Katze wollte gleich mit ihr spielen und riss an der Decke herum. Josephine lief gähnend und über die eigenen Füße stolpernd in die Küche, setzte Wasser für einen Kaffee auf, und sah zum Fester hinaus. Die Sonne lachte, das Meer schimmerte, und als sie den Kaffee auf dem Deck trank und die salzige Meeresluft in sich aufsog, verspürte sie ein verloren geglaubtes Glücksgefühl.

Im Badezimmer stand ein Kulturbeutel auf einem Handtuch bereit, in dem sich ein Duschgel, Bodylotion, ein Deodorant für Damen, Handcreme, Sonnencreme, zwei schicke Sonnenbrillen, Kaugummis und sogar eine Schachtel Tampons befanden. Er hatte wirklich an alles gedacht!

Als sie nach der Dusche in dem geöffneten Schrank Unterhosen, Socken, jeweils zwei BHs und Badeanzüge, Badelatschen, ein Paar Turnschuhe, Shorts, eine Jeans und eine Sommerhose, diverse Blusen und Shirts, einen Pullover, eine dicke Jacke und eine Regenjacke vorfand, ließ sie angesichts dieser Aufmerksamkeit ihren Tränen freien Lauf.

Auf dem Tisch lagen zwei große, lustige Sonnenhüte für sie bereit. Sie konnte es nicht abwarten, all die neuen Sachen anzuprobieren. Es war verblüffend, dass Peters Auswahl ihr nicht nur recht gut gefiel, sondern dass ihr alles bis auf die Turnschuhe perfekt passte! Die Schuhe waren ein wenig eng, würden sich aber vielleicht noch eintragen. Mit allem hatte er richtig gelegen, sogar der BH war groß genug.

Markensachen zu tragen, war sie nicht gewöhnt, und so stellte sie sich immer wieder vor den eigentlich viel zu kleinen Spiegel, um sich zu betrachten. Ihr gefiel das, was sie sah. Eine Frau mit Glatze und Zahnlücken, deren Gesichtszüge verlebt waren, die aber doch auch schick ausschaute in den neuen Klamotten. Sie machte eine Blase mit ihrem Kaugummi, lächelte und sagte zu sich selbst: Wenn du abnimmst und die Haare wieder wachsen, könntest du wieder ganz gut aussehen.

Nach ihrer ganz privaten Modenschau wurde sie neugierig. Was war dieser Spießer für ein Mann, und warum tat er all das für sie? Wohlwissend, dass sich das nicht gehörte, öffnete sie auch seinen Kleiderschrank. Alles lag ordentlich sortiert und zusammengelegt in den Schapps. Anders als erwartet, hatte er nicht sonderlich viele Anziehsachen.

In einem der vielen Schapps lagen Tennis-, Badminton- und Golfschläger, und davor stand ein kleines Ergometer, der durch ein interessantes System aus Schlössern so gesichert war, dass er bei Wind und Wetter nicht verrutschen konnte. Einige Hanteln lagen verstreut im Salon umher, und in einer Kabine war ein allem Anschein nach sehr teures Fahrrad festgezurrt. Er schien sportbegeistert zu sein, der Peter.

Seine zweite große Leidenschaft war eindeutig das Lesen. In den Vitrinen lagen Bücher aus allen erdenklichen Sparten. Kriminalromane, Romane, Thomas Mann – gesammelte Werke, Sachbücher zu den unterschiedlichsten Themen, darunter viele Bücher über Boote und die Schifffahrt, aber auch Kunstkataloge, Bücher über Pferde, Foto- und Gedichtbände, Psychologie- und Medizinbücher, Bücher über Yoga und sogar esoterisches Allerlei und Bücher über Astrologie. Mit Ausnahme der Sammlung über Boote, die abseits der anderen Bücher untergebracht war, erschien ihr die Sammlung wie die einer Frau, und sie überlegte, ob Peter vielleicht schwul sei. Das konnte ihr nur recht und sympathisch sein.

Just in diesem Moment fiel ihr Blick auf eine weitere Vitrine, in dem etwa zwanzig rot eingeschlagene Bände horizontal gestapelt lagen. Sie öffnete die Vitrine, zog einen Band heraus und sah sofort, dass es sich um so etwas wie ein Tagebuch handeln musste, mit Texten in einer schönen Handschrift. Auf jedem Band war für Ivo eingraviert, und alles war durchnummeriert. Es sah ganz danach aus, als ob Peter für seinen vermeintlichen Freund seine Reiseerinnerungen aufschrieb. Sie klappte das Buch rasch wieder zu, denn es ging zu weit, heimlich in fremden Tagebüchern zu lesen.

Überall herrschte Ordnung auf der Secret, auch in Peters Koje, in der ein blau bezogenes Bett stand, auf dem einige Bücher und Zeitschriften lagen.

Nachdem sie die Schüssel für die Katze im Bad aufgestellt und den ersten pädagogischen Versuch mit der Jungkatze unternommen hatte, bereitete sie sich ein ausgiebiges Frühstück aus Aufbackbrötchen, verschiedenen Käsesorten und zwei Eiern. Peters Kühlschrank war gut gefüllt, vor allem das riesengroße Gefrierfach. Er hatte beim Einkaufen aber auch an Kleine Katze gedacht, denn Josephine zählte dreißig Dosen Katzenfutter unterschiedlichster Sorten: Pute, Hähnchen, Garnelen, Thunfisch, Lachs und Rind, es war alles dabei. Peter musste mehrmals einkaufen gegangen sein, vielleicht hatte ihm dieser ominöse Ivo geholfen, oder er war mit dem Fahrrad unterwegs gewesen? Sie lief zum Frühstück auf das schattige Deck, wo der Tisch bereits für sie gedeckt worden war. Auf einer verankerten, alten Seemannstruhe war ein Zettel angebracht worden, auf dem stand: Für Josephine. Als sie diese öffnete, traute sie ihren Augen kaum. Bleistifte, Kohlestifte, ein Aquarellkasten, Pinsel und diverse Blöcke kamen zum Vorschein, und daneben lagen Lesebrillen in unterschiedlichen Stärken, wohl, weil sie nebenbei einmal flüchtig ihre schlechter werdenden Augen erwähnt hatte. In der Ecke der Truhe lag eine neue Gürteltasche aus hellem Leder.

Dieser Peter schien alles daran zu setzen, ihr den Aufenthalt an Bord so schön wie möglich zu gestalten. Beim Frühstück auf dem Deck setzte sie eine der neuen Sonnenbrillen und den Sonnenhut auf, beobachtete die kreisenden Möwen und fühlte sich ausgezeichnet. Sie aß ihr Frühstück mit Messer und Gabel, aus einer Art Dankbarkeit gegenüber Peter und seinen netten Gesten. Danach machte sie den zweiten Versuch mit Kleine Katze, schimpfte ordentlich, und las noch einmal den Brief von Peter. Wenn du magst, kannst du dich zu uns gesellen, stand da geschrieben.

Wir, das sind bestimmt Peter und sein Freund Ivo, wer sonst?, schoss es ihr durch den Kopf. Sie warf endlich ihre ausgeleierte Hose in den Müll, zog die schönsten Sachen an, und klapperte wenig später beinahe gestylt die Restaurants ab, um Peter zu suchen. Von Weitem sah sie bald eine große Gruppe verschiedener Menschen am Hafen sitzen, in der sich auch Peter befand. Es mussten an die zwanzig Leute sein, die es sich bei Speis und Trank gut gehen ließen. Champagner wurde serviert, und alle lachten und redeten durcheinander, vor allem eine Gruppe Italiener. Von einem Ivo keine Spur, wie es aussah, schade.

Sie würde sich in dieser Runde nicht wohlfühlen, außerdem hatte sie überhaupt keinen Hunger, und so beobachtete sie das bunte Treiben noch eine Weile, um sich dann auf Spurensuche in ihre Vergangenheit zu begeben.

Zuerst wurde sie von einem Hund begrüßt, der einem Kumpel von Vassi gehört hatte. Er sprang wüst an ihr hoch, obwohl zwei Jahre seit ihrer gemeinsamen Zeit in Dubrovnik vergangen waren. Der Hund schien herrenlos zu sein, verlassen, so wie die Baracke, in der sie damals eine Zeit lang zu mehreren gehaust hatten.

Im Inneren des alten, verfallenen Hauses stank es nach Urin, und durch den Kontrast zum Aufenthalt auf der Jacht konnte sie plötzlich kaum noch verstehen, dass sie so viele Jahre in Baracken dieser Art gewohnt hatte. So sehr sie sich auch bemühte, kamen keine schönen Erinnerungen zurück, keine Gefühle, an denen sie hing, nichts. Sie betrachtete die vielen leeren Flaschen, die in den Ecken lagen, und wischte genervt die Scherben mit dem Fuß beiseite. Ein Hocker, der ihr gehört hatte, stand dreibeinig in dem Haus, eine alte Matratze lag daneben, aber die Verbindung zu ihren Emotionen blieb aus.

Ich brauche ein Bier, dachte sie, und in dem Moment wurde ihr klar, dass sie nüchtern die Dinge anders betrachtete. Sie wusste plötzlich, dass sie Vassi alkoholisiert nur wieder nachweinen würde, und beschloss, bis zum Abend nüchtern zu bleiben.

Bis zum Abend blieb sie ihren Vorsätzen treu, nun aber spülte sie Peters Weißwein in großen Schlucken hinunter, schneller noch als sonst. Die Gefühle und Gedanken der Vergangenheit mischten sich mit der Unsicherheit, die sie Peter jetzt entgegenbrachte, nachdem er ihr so viele Geschenke gemacht hatte. Verzweifelt nach Worten ringend goss sie sich das nächste Glas ein, und auch eins für Peter, der eigentlich bereits bei seinem stillen Wasser zur Nacht war. Verlegen schaute sie zum Boden und zog ihre Turnschuhe aus, denn die Füße schmerzten von dem langen Weg, den sie zurückgelegt hatte.

Als Peter ihre Blasen an den Füßen bemerkte, fragte er besorgt: »Sind die Schuhe etwa zu klein? Das tut mir leid!«

»Ach, du«, brach es jetzt aus ihr heraus, »lass das bitte! Ich weiß nicht, wie ich mich bei dir bedanken soll. Es gibt keine Worte dafür, warum tust du das alles für mich?«

»Halb so wild. Wir haben doch besprochen, dass ich dich eine Weile mitnehme, und ich habe nur das Nötigste gekauft, das ist doch selbstverständlich, denn du hast ja nun einmal kein Geld!«

»Du bist echt ein netter Typ, so wie du heute den Tisch gedeckt hast und so. Und sogar an Zeichenutensilien hast du gedacht, dabei kennst du mich doch gar nicht.«

»Ich kann dich jederzeit auch wieder an Land schmeißen«, scherzte Peter und zwinkerte, »aber ich habe mich mit dem Gedanken angefreundet, einen Passagier an Bord zu haben, oder besser gesagt zwei, mit Kleine Katze

»Wo ist sie?«

»Sie ist unterwegs, aber ich bin mir sicher, dass sie zurückkommt.«

»Hoffentlich! Ich liebe Kleine Katze, und ich habe mit der Erziehung schon angefangen. Ich glaube, sie lernt schnell.«

»Siehst du, das ist unser Deal. Ich will damit nichts zu tun haben«, sagte er und erhob seine Hand, um mit Josephine abzuklatschen. Ihre Finger waren jetzt nicht mehr so schwarz, sondern eher gräulich. Es würde nicht mehr lange dauern, bis ihre Hände wieder sauber waren.

»Was hast du den ganzen Tag lang gemacht?«, wollte er wissen.

»An alte Zeiten gedacht. Ich war auf Spurensuche. Es war frustrierend, oder auch nicht. Ich weiß nicht. Mir war plötzlich, als ob ich neben mir stand. Alles war so unwirklich, als ob ich das damals gar nicht war. Ein Tag auf deiner Jacht scheint meine Sichtweise auf viele Dinge verändert zu haben, das kannst du dir gar nicht vorstellen! Die Zeit kommt mir ganz komisch vor, so als würde ich schon eine Woche hier sein, oder länger. Ich denke auch anders über Vassi. Ich habe ein paar Bekannte von ihm getroffen, und alle sagen, dass er lauter krumme Dinger gemacht haben soll. Er war gar nicht der liebe Vassi, für den ich ihn damals gehalten habe, wie es scheint. Er soll alle abgezockt haben.«

Peter war müde. Er klappte seinen Laptop auf, und es erschienen Tabellen und Karten, die Josephine rein gar nichts sagten. Sie hasste Computer.

»Wir müssen Pläne schmieden, Josephine. Wo soll die Reise hinführen?«

»Egal«, sagte sie nur, und schenkte sich das nächste Glas Wein ein.

»Für mich bitte nichts mehr, Josephine. Ich trinke abends meist Wasser. Welches Land oder welche Stadt interessiert dich?«

»Mich interessiert nur, was Yassi angestellt hat, dieser Mistkerl!«

»Na gut, dann steuern wir Korfu an, wenn du nichts dagegen hast. Da kommen wir sowieso fast zwangsläufig vorbei. – Keine Angst, du brauchst dich weder um solche Dinge wie das Logbuch zu kümmern, noch um Radar oder Karten. Du wirst rein gar nichts mit Computern und Seemannsgerät zu tun haben«, sagte er, weil er bemerkte, dass Josephine schlechte Laune von diesen Dingen bekam, »aber ich muss mich darum kümmern. Sonst geht's nicht weiter, verstehst du? Wir können nicht einfach so auf dem Meer umhersegeln, es gibt Pflichten, Gefahren, Strömungen, Winde, und wir müssen funken, bevor wir irgendwo anlegen. Ich muss uns an- und abmelden, okay?«

Verwirrt darüber, dass es auf hoher See Regeln und Gesetze gab und nicht nur das Meer, Freiheit und Abenteuer, sagte sie gar nichts mehr, kaute auf ihrem Kaugummi herum und blieb stumm sitzen. Es war Mitternacht, und Peter verschwand in seiner Kabine.

Fünf Tage waren verstrichen, als Peter und Josephine endlich an der Marina Gouvia in Korfu anlegten. Peter, der selbst noch nie auf hoher See krank geworden war, hatte gleich einen kranken Passagier an Bord gehabt, was sich nicht einfach gestaltete. Als Einhandsegler auf dem Mittelmeer unterwegs zu sein, war eine Ausnahme, und eine zweite Person war normalerweise hilfreich. Schwer hingegen wurde es, wenn diese – wie Josephine – krank war, denn Peter hatte sich neben den Segelmanövern zusätzlich auch um sie und die Katze kümmern müssen. Zunächst war er verärgert gewesen und hatte wütend an den altmodischen Aberglauben gedacht, der besagte, dass Frauen an Bord Unglück brächten. Er war der Meinung gewesen, dass sie lediglich seekrank war, was ihn verstimmt hatte, denn eine seekranke Fremde an Bord konnte er auf Dauer nicht gebrauchen. Zu ihren Magen-Darm-Problemen gesellte sich aber rasch ein hohes Fieber, und so konnte eine Seekrankheit bald ausgeschlossen werden. Schließlich nahm er wohlwollend zur Kenntnis, dass sich Josephine die größte Mühe gab, ihn nicht allzu sehr zu belasten. Sie putzte am ersten Tag trotz des Fiebers ihre Koje, und entsorgte das Erbrochene aus dem Eimer ins Meer, und sie kümmerte sich sogar um Kleine Katze, die wieder an Bord war und sich langsam an ihre Schüssel gewöhnte. »Erst kotzt du, und nun ich«, hatte Peter Josephine zur Katze sagen hören.

Er hatte mehrfach den Kurs wechseln müssen. Ursprünglich hatte er in Albanien anlegen wollen. Seit ungefähr zwei Jahren war dieses Land keine Sperrzone mehr für Segler, es gab endlich einen Jachthafen, bei dem er schon einmal einklariert hatte. Er hatte gute Erinnerung an die Zöllner, Hafenangestellten und die lustigen Polizisten, die ihm beim Manövrieren geholfen hatten. Damals war er herzlich aufgenommen worden, gerade, weil selten nur ein Jachteigner aus einem EU-Land an der albanischen Küste anlegte. Er konnte die kleinen Bars noch vor sich sehen, und die Freude in den Augen der Arbeiter über seine Spendierhosen. Zwar hatte das Hinterland schauderhaft ausgesehen, denn die Plattenbauten aus der Zeit des Kommunismus drohten einzustürzen und waren bereits zu geisterhaften Stätten geworden, und eine Reihe neuer Klötze waren nie fertig geworden und fügten sich in das trostlose Bild der Küste. Er aber hatte die meiste Zeit mit den Männern am Hafen verbracht und abends beim Schreiben und einem Glas Wein den Rufen des Muezzins gelauscht.

Peter war neben der Europaflagge in Besitz des gesamten Flaggenalphabets: Frankreich, Monaco, Spanien, Gibraltar, Italien, Kroatien, Albanien, Griechenland, Türkei, Zypern, Nordzypern, Syrien, Israel, Libanon, Ägypten, Malta, Tunesien, Libyen, Algerien und Marokko. Lediglich vier Mittelmeeranrainerstaaten war er bisher nicht angelaufen, davon gehörten drei zum ehemaligen Jugoslawien. Die slowenische Flagge lag über denen von Bosnien Herzegowina, Montenegro und der des Gazastreifens unbenutzt und sorgfältig zusammengefaltet im Karton.

Peter hatte vor nunmehr zwei Wochen zum ersten Mal in Kroatien einklariert, und das auch nur sehr zögerlich. Er hatte Angst vor einem Gefühl, das einem Schuldgefühl ähnelte, Angst vor dem Aufflammen der Erinnerungen, die langsam verblassten, von Jahr zu Jahr mehr. Sie besaßen nicht mehr die Kraft wie damals, und das war der Grund dafür, dass er es gewagt hatte, dieses Land endlich einmal zu bereisen.

Er strich sich über die Augenbrauen und widmete sich wieder den Flaggen. Er hatte schon die Gastflagge für Albanien in der Hand, als ihm der Gedanke kam, dass es dort vielleicht Probleme mit Josephine geben würde. Unter den Gastlandflaggen hatte er die inzwischen selten verwendete, gelbe Flagge Q gesichtet, die zum Einklarieren in ein fremdes Land angebracht wurde. An Bord alles gesund, ich bitte um freie Verkehrserlaubnis, war ihre Bedeutung. Nicht im Klaren darüber, um welche womöglich schwere Erkrankung es sich bei Josephines handelte, kamen ihm Zweifel bezüglich eines Liegeplatzes in Albanien. Sie hatten sich beim Zoll zu melden, da sie aus einem anderen Land kamen. Im schlimmsten Fall würde es Ärger mit Josephine geben, und man würde die Secret durchsuchen. In einem Hafen, der einem Land der Europäischen Union angehörte, fühlte er sich im Allgemeinen bei den Behördenangelegenheiten wesentlich sicherer, und so hatte er das Schiff eine Weile einfach treiben lassen, um nachzudenken.

Zum Glück hatte er in Dubrovnik nicht nur Lebensmittel, sondern jede Menge Wasser und Diesel gebunkert. Der große Fäkalientank der Secret würde für lange Zeit ausreichen. Das Schiff besaß einen Volvo-Dieselmotor mit einem Sechshundert-Liter-Tank, sodass man auch längere Etappen bewältigen konnte. Er könnte auch erst beim Einklarieren auf Korfu einen Gast an Bord melden, und wahrscheinlich würde dort nichts weiter passieren.

Als er sich wieder der Arbeit widmete, und sich mit den Seekarten beschäftigte, musste er feststellen, dass er sich bereits in albanischen Gewässern befand. Als er den Kurs ändern wollte, flaute der Wind ab, und Patrouillenboote näherten sich, ohne jedoch Signale zu geben. Mit Ausnahme der Küstenwache herrschte so gut wie kein Schiffsverkehr, nur ein Schwarm Delfine sprang neben der Secret umher. Als er das Schiff nicht mehr sehen konnte, schaltete er den Motor ein, um das albanische Hoheitsgebiet möglichst rasch wieder zu verlassen.

Er wunderte sich über diese für ihn untypische Schwierigkeit, klare Entscheidungen zu treffen. Seit er einen Gast an Bord hatte, fühlte er sich einerseits leicht, und seine vielen Selbstgespräche nahmen ab. Andererseits ertappte er sich dabei, alles zu erwägen, wo Entschlüsse vonnöten waren. Vielleicht, dachte er, ist es auch nur ein anderer Blickwinkel auf die eigenen Entschlüsse. Die Entscheidungen haben ein anderes Gewicht und ein anderes Gesicht, wenn ein anderer Mensch dabei ist, ein Gegenüber, ein Spiegel. Es ist schwerer, für zwei zu entscheiden als für sich selbst.

Als es dämmerte und er noch immer keine Entscheidung zur Frage des Kurses getroffen hatte, aktivierte er die Positionslaternen und holte die Segel ein. Auch die Flaggen wurden für die Nacht geborgen. Eine Weile schaute er aufs Meer und dachte über Josephine nach, die in ihrer Koje lag und sich wahrscheinlich in düsteren Fieberträumen gefangen sah. Unzählige Sternschnuppen fielen vom Himmel, und da er selbst keine Wünsche hatte, wünschte er ihr, dass sie bald genesen würde.

Er lief den Niedergang hinab, um einen Blick auf sie zu werfen. Sie lag ruhig auf der Seite und schnarchte ganz leise. Kleine Katze lag an ihrem Bauch und schnurrte. Sie öffnete ihre müden Augen zu Schlitzen, als sie ihn kommen hörte.

Er sah sich noch die Bilder auf dem Radar an, kontrollierte alle Tanks, das Gas und die Batterien, weil ihn eine merkwürdige Unsicherheit erfasste, ergänzte das Logbuch und fiel in einen einstündigen Schlaf.

Seit seiner Kindheit besaß er diese Gabe, nicht nach dem Wecker, sondern vielmehr nach einer inneren Uhr schlafen und wieder erwachen zu können. Später hatte er diese seltsame Gabe ausgebaut, und hier auf See war sie sehr von Vorteil, gerade als Einhand- und Wandersegler. Während all der vergangenen Jahre hatte er seine innere Uhr trainiert und perfektioniert. Er konnte es sich nur leisten, ein wenig zu schlafen, wenn wenig Schiffsverkehr herrschte, so wie es hier der Fall war. Wie durch ein Wunder aber wachte er bei einer Gefahr, wie einem sich nähernden Schiff, automatisch auf und konnte, da er nicht in der Kabine, sondern im Cockpit schlief, sofort eingreifen.

Als der innere Wecker, wie er ihn nannte, klingelte, hatte das Wetter schon wieder gewechselt. Es hatte wieder geregnet, und Wind war aufgekommen, nicht wie hier üblich der Northwester, mit dem Peter schon gerechnet hatte, sondern ein ungünstiger Wind aus Südost. Auch die Meeresströmung hatte deutlich zugenommen. Es würde unter diesen Umständen keinen Sinn haben, in Richtung Korfu zu segeln. Er meldete sich über Funk in Otranto an, und nahm Kurs auf Apulien.

Die Straße von Otranto wurde nach einigen unglücklichen Fluchtversuchen in den Neunzigerjahren zwar Kanal der Tränen genannt, normalerweise aber ließ es sich hier gut segeln, da die Strömungen nicht sehr stark waren. An diesem Tag aber staunte Peter nicht schlecht, denn er hatte es nicht nur mit unterschiedlichen Strömungen, sondern auch mit ständig wechselnden Wetterverhältnissen und Winden zu tun. Nachdem er für eine kurze Zeit recht gut vorangekommen war, wenn auch nach Norden abgedriftet, wurde die See jetzt kabbelig, und die Secret dümpelte oder schlingerte eine geraume Zeit. Er kam kaum voran und musste ständig Kurskorrekturen vornehmen.

Schließlich wurde es immer kälter, und der Wind nahm stetig zu. Dann hagelte es, und Bora kündigte sich an, der Wind, mit dem er gerechnet hatte, und den er bei einer Peilung auf Korfu hätte gebrauchen können. Peter reffte die Segel, kam aber trotzdem weiter vom Kurs ab, da der Wind so stark war. Bei den hohen Windgeschwindigkeiten lag das Boot wie ein Brett auf dem Wasser.

Als er Stunden später die Fender auslegte, die Segel barg und sich zum Einlaufen in den Porto di Otranto bereit machte, war der Wind plötzlich ablandig, was das Einlaufen erschwerte. Freudig nahm er zur Kenntnis, dass ihm einige Skipper beim Anlegen zu Hilfe kamen. Peter übergab die Vorleine und warf die Achterleine aus, und mithilfe der anderen Skipper waren beide Leinen und sicherheitshalber auch die Springs bald dichtgeholt. Nach dem Anlegemanöver bedankte er sich bei den Skippern und meldete sich beim Hafenmeister, der ihn erkannte und in die Arme schloss. Er bezahlte einen Sonderpreis, wie der Chef des Hafens es nannte, ging mit ihm einen Kaffee trinken und erzählte Paolo die Geschichte von Kleine Katze und Große Katze.

SECRET

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