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BEI DEN WÖLFEN
ОглавлениеBeim Holzholen ist Gunda heute Morgen ein großes Scheit auf den Handrücken gefallen. Jetzt hat sie einen Bluterguss mit einer kleinen, dunkelroten Blase obendrauf. Christian mag nicht hinsehen. Schon ohne Bluterguss nicht. Er sieht Gunda lieber als Ganzes. Einzeln betrachtet jagen ihre Körperteile ihm Angst ein, ganz besonders die Hände, trocken und fleckig; solche Hände haben alte Frauen, solche Blutergüsse auf dem Handrücken haben alte Frauen von den Infusionsnadeln, solche Hände mit solchen Blutergüssen werden über hellgelb bezogenen Krankenhausdecken gefaltet, wenn alte Frauen tot sind.
Christian fegt den Kamin in der Küche aus. Wenn die anderen vom Spaziergang kommen, muss das Feuer brennen. Im Schein des Feuers und als Ganzes betrachtet, sieht Gunda keinen Tag älter aus als vierzig.
Er knüllt Papier zum Anzünden zusammen. Hochglanzpapier brennt nicht gut, aber deutsche Zeitungen gibt es nicht im Supermarché in Gérardmer, nur den Stern und die Bunte. Vielleicht könnte er es morgen mit einer Libération versuchen, schließlich sind sie jetzt vier Tage hier und hören beim Autofahren immer französische Sender.
»Lass mich«, hat Gunda heute Morgen gesagt, als Christian in den Schuppen gelaufen kam, um zu sehen, was passiert war. Entweder sie weiß, wie viel Überwindung es ihn kostet, sie zu pflegen, oder sie hat irgendeine dumme Vermutung, was vergangene Nacht im linken Schlafzimmer vor sich gegangen sein könnte. Christian stochert in dem matt kokelnden Zeitschriftenpapier. Schwarze Flocken steigen hoch; natürlich ist nichts passiert, darum geht es auch nicht beim allabendlichen Auswürfeln der Schlafzimmer. Worum es geht, weiß Christian auch nicht. Es war Wolfgangs Idee, gleich nachdem sie angekommen waren.
»Du brauchst nicht glauben, dass Renate und ich wieder freiwillig ins Kuhstallzimmer ziehen«, hat Wolfgang gesagt und sein Gepäck im Flur stehen lassen.
Das Kuhstallzimmer ist das Schlafzimmer von Christians älterer Schwester und besonders unbeliebt bei seinen Freunden. Niemand will in den Zimmern der Geschwister wohnen, mit denen Christian sich das Ferienhaus im Elsass teilt, alle wollen am liebsten Christians und Gundas Schlafzimmer haben, das mit den Nesselvorhängen und Nussbaumbetten. Im Kuhstallzimmer gibt es Melkschemel als Nachttischchen, und im Zimmer von Christians Bruder Metallbetten vom Baumarkt und geblümte Stoffschränke.
»Ich kann nichts dafür«, sagt Christian jedes Mal, wenn er mit Wolfgang und Renate, Hans und Katrin herkommt, und sie kommen oft her, mindestens einmal im Jahr. Bisher hat es immer gereicht zu betonen, dass er selbst am meisten leide unter dem schlechten Geschmack seiner Geschwister, aber diesmal hat Wolfgang das nicht gelten lassen und ein Rotationssystem vorgeschlagen. Dass man dann nicht mal mehr als Paare, sondern jeder für sich allein würfeln sollte, klang nur logisch und modern, jedenfalls aus Wolfgangs Mund. Hans sah versonnen auf die Tischplatte und Katrin ungeduldig aufs Gepäck. Gunda war die einzige, die sich sichtbar gegen den Vorschlag sträubte: »Da können wir ja gleich Flaschendrehen spielen.«
»Mach schon«, hat Christian zu ihr gesagt, und dann haben sie beide für die erste Nacht ihr eigenes Schlafzimmer erwürfelt.
»Bist du jetzt enttäuscht?«, hat Gunda gefragt, als sie nebeneinander in den Nussbaumbetten lagen, und Christian war sicher, dass sie selbst enttäuscht war. »Ja«, sagte er. Aber da schlief sie schon.
Wenn die andern vom Spaziergang kommen, muss das Feuer brennen. Ohne das Feuer wäre der ganze Urlaub nichts wert. Christian versucht es mit den Resten des Osterstraußes, den seine Schwester zum Vertrocknen auf dem Küchentisch hat stehen lassen.
»All die Gräser und Zweige, die man hier finden kann.« – Was für ihn das Feuermachen ist, ist für seine Schwester sorgfältige Landhausdekoration. Sie plündert die Antiquitätenläden an der Route Nationale und holzt ganze Sträucher ab, um das Ferienhaus damit vollzustopfen. Schon lange kommen sie nicht mehr gemeinsam her, auch sein Bruder nimmt lieber Freunde mit, anstatt mit Christian oder der Schwester Urlaub zu machen.
»Wilder Thymian, hier Christian, riech mal!« – Sie ist acht Jahre älter als er und war noch nie im Krankenhaus. All die Gräser und Zweige, dazu Blutreinigungstee und Bernsteinketten, keine Zigarette, nicht mal ein Feuer in der Küche des Ferienhauses.
»Was heizt ihr denn die ganze Zeit bis in den Hochsommer?« – Der Bruder hat den französischen Nachbarn dazu abgestellt, das Holzlager regelmäßig aufzufüllen, »Dreißig Francs billiger der Kubikmeter, Christian, also hör mal …«
Als die Neffen noch klein waren, ist Christian gern mit seinem Bruder hier gewesen. Da ließ sich alles als Kinderprogramm behaupten: Feuermachen und Nutella-Baguette, Nachtwanderung und Spinnenjagd. Jetzt muss er aufpassen, nicht entlarvt zu werden: In Wahrheit hat er das immer schon zu seinem eigenen Vergnügen gemacht.
Christian schiebt Stücke von Eierkarton zwischen die Weidenkätzchen.
So ein Feuer ist besser als Fernsehen. Man guckt rein und kann an alles Mögliche denken, hier und da legt man nach und bläst und schließt mit sich selbst kleine Wetten ab, welches Ende des dicken Astes zuerst Feuer fängt. Es brennt jetzt. Er hat es zum Brennen gebracht. Es geht erst wieder aus, wenn er es nicht mehr beachtet.
»Hier waren doch irgendwo Schnapsgläser?« Gunda hat Schlüsselblumen vom Spaziergang mitgebracht.
Christian schneidet Salami, während Hans und Katrin den Tisch fürs Abendessen decken.
»Schönes Feuer«, sagt Wolfgang und wirft seine Jacke auf die Bank am Kamin. »Hunger hab ich.«
Gunda legt das Schlüsselblumensträußchen vor Christian auf den Tisch.
»Keine Gräser und Zweige auf meinem Abendbrottisch!«, sagt Christian und hält Gunda die Salami hin. »Hier, riech mal.«
Gunda verzieht das Gesicht. »Riecht nach Sperma. Wo sind die Schnapsgläser?«
Christian zuckt die Achseln. »Hat jemand von den anderen weggeworfen. Außer uns trinkt hier keiner Schnaps.«
»Ich trink keinen Schnaps, ich brauch eine Vase.« Gunda rückt einen Stuhl vors Buffet, um hinter die nicht benutzten Teekannen sehen zu können.
Christian grinst. Die Vasen hat er selbst weggeworfen, ein halbes Dutzend winziger Zinnvasen, die das Fenstersims in der Küche zierten. An Schlüsselblumensträußchen hat er nicht mal gedacht dabei, sondern an seine Urlaubskrimisammlung, die letztes Mal, als er hier war, nicht mehr im Wohnzimmerregal, sondern in einem Karton in der Scheune gestanden hatte.
»Guck in der Scheune nach«, sagt er zu Gunda, »und nimm diese hässlichen Kannen mit.«
Wolfgang macht die erste Flasche Wein auf.
»Wir haben Wildschweinspuren gesehen«, erzählt Katrin mit Salami im Mund.
»Die sind vom letzten Jahr«, sagt Christian.
»Woher willst du das wissen? Du warst doch gar nicht dabei.« Wahrscheinlich hat Wolfgang sich auf dem Spaziergang wieder als Wildkenner aufgespielt.
»Das sagt man so zur Beruhigung«, sagt Christian und fixiert ihn. »Und weil hier noch nie jemand ein lebendes Wildschwein getroffen hat.«
Katrin zuckt die Schultern. »Ich steh morgen ganz früh auf und geh noch mal hin. Wenn man Tiere sieht, dann morgens.«
Das Baguette ist zäh. Katrin sollte morgens lieber Brot holen gehen, statt auf Wildschweine zu warten, die nicht kommen werden. Christian sieht Hans auf die Zahnhälse, die die Parodontose freigelegt hat. Vorgestern ist er mit ihm im Kuhstallzimmer gelandet und weiß deshalb jetzt auch, was für Pyjamas Hans trägt. Solche aus dehnbarem Stoff, mit V-Ausschnitt und kleinen stilisierten Kronen auf dem Oberteil. Christian musste die Augen schließen und sich auf alles konzentrieren, was er an Hans mag, wofür er ihn schätzt oder gar bewundert: seine Großzügigkeit und Ruhe, sein lückenloses Wissen über die k.u.k.-Monarchie, seinen Eifer beim Holzhacken. Er hat versucht, sich Katrin vorzustellen, wie sie ihre Nase in die grauen Haare wühlt, die aus dem V-Ausschnitt vorschauen, dann tief einatmet und erregt die Decke wegstrampelt. Es half; als Christian die Augen wieder aufmachte, mochte er Hans auch im Pyjama und konnte beruhigt einschlafen. Die Zähne allerdings sind nicht zum Aushalten. Hans’ Zähne, Gundas Handrücken – die Versehrtheit, die schleichend Einzug gehalten hat.
Christian weicht mit den Augen auf Wolfgang aus, der hebt sein Glas. Wolfgang hat keinen Körper, der ihm bei irgendwas im Weg sein könnte, Wolfgang ist trinkfest und integer.
»Prost!«, sagt er. Und: »Habt ihr schon mal daran gedacht, einen Pool anzulegen?«
»Pool?«, quietschen Renate und Gunda gleichzeitig.
»Man könnte die Scheune ausschachten, das wäre doch großartig.«
»Du spinnst«, sagt Christian, »was meinst du, was das kostet.«
»Ach je«, sagt Wolfgang, »seit wann ist das das Problem?«
»Hier immer«, sagt Christian, »hier geht schließlich alles durch drei.«
Wolfgang kennt Christians Geschwisterstreitigkeiten seit zwanzig Jahren. Genau wie alle anderen am Tisch.
»Geld haben heißt nicht, Geld ausgeben können«, sagt Gunda weise. »Im Gegenteil.«
»Inwiefern Gegenteil?« Katrin ist sich nie zu schade, das auszusprechen, was alle wissen und auf keinen Fall mehr diskutieren wollen. »Wachsam bleiben« nennt sie das oder »Hinsehen«. Christian fixiert sie über sein erhobenes Glas hinweg, damit sie wenigstens einmal den Mund hält. Es nützt nichts.
»Hat das Haus ohne Pool etwa nichts gekostet?«, fragt sie spitz.
Alle hier haben Geld, auch wenn Christian nicht genau weiß, wie viel. Vielleicht hat er selbst am meisten, und sicher ist, dass seine Geschwister noch mehr haben.
»So ein Pool wäre auch nicht teurer als der Terrakottaboden hier.« Katrin stampft unter dem Tisch auf. »Aber geht natürlich nicht. Pool! Wie neureich!«
Christian hofft, dass niemand in die Diskussion einsteigt.
Es steigt niemand ein.
Ein Feuer ist besser als ein Pool. Drumrumsitzen und trinken kann man auch, muss sich aber nicht ausziehen dafür. Christian steht auf und legt Holz nach, während die anderen die Teller zusammenstellen und beschließen, heute nicht mehr abzuwaschen.
»Als der Lukas drei war, ist er mal von der Bank hier in die Feuerstelle gefallen«, sagt Christian und setzt sich, den Schürhaken in der Hand.
Seitdem macht auch sein Bruder kein Feuer mehr in der Küche.
»Sehr gut«, sagt Renate und lässt sich neben ihn auf die Bank fallen. »Lasst uns über die Vorteile reden, die es hat, keine Kinder zu haben.« Sie wirft die abgebrannten Streichhölzer aus der großen Schachtel ins Feuer und zündet sich eine Zigarette an.
Renate raucht am meisten von allen. Ihre Stimme ist heiser; manchmal denkt Christian, dass es sich bei Frauen allein für solch eine Stimme lohnt, sich die Lunge kaputt zu rauchen. Manchmal denkt er auch, dass er Renate vor allem deshalb mag, weil sie doppelt so viel raucht wie Gunda und trotzdem dick und gesund, vollständig und intakt ist.
»Ja, wirklich«, sagt er. »Er hatte dummerweise eine Polyesterjacke an, die geschmolzen ist und nicht mehr runter ging.«
»Deshalb wenn Kind, dann nur in Naturfasern.«
»Schafffellwindeln.«
»Rohseidenkäppchen.« Renate lacht und hustet.
Sie raucht nicht nur am meisten, sie riecht auch nach Zigaretten, aber nach einem langen Abend am Feuer fällt das nicht mehr auf. Es hat Christian nicht gestört letzte Nacht im Baumarktschlafzimmer.
»Wie alt ist Lukas jetzt?«, fragt sie.
»Einundzwanzig.«
»Und sieht man noch was?«
Bestimmt. Christian hat seinen Neffen lange nicht mehr nackt gesehen, aber als Kind hatte er überall diese wirbelige weiche Brandnarbenhaut. Mit dunkler Männerbehaarung muss sie merkwürdig aussehen. Oder wächst auf dieser Haut kein Haar mehr?
»Ich weiß nicht«, sagt er.
Die andern vier ziehen ihre Stühle zum Feuer. Hans schlüpft aus seinen Schuhen, Wolfgang macht die nächste Flasche Wein auf und wirft den Korken ins Feuer.
»Die sind doch aus Plastik«, Katrin stößt ihn an.
»Ehrlich?« Wolfgang mustert das Etikett. »Ist mir gar nicht aufgefallen.«
»Wegen der Korkkrise«, sagt Katrin.
Christian stochert mit dem Schürhaken, aber der falsche Korken schmilzt schon.
»Alles geht vorbei«, sagt Renate. »Auch die Zeit, als ein Korken noch ein Korken war.«
»Bald erinnern wir uns gar nicht mehr, wie ein echter Korken ausgesehen hat«, sagt Katrin. »Beim Wolfgang ist es schon so weit.«
»Noch ein Vorteil, keine Kinder zu haben«, sagt Renate.
»Wieso?«
»Man kann guten Gewissens alles wegschmeißen und vergessen.« Renate gähnt. »Muss man schließlich keinem mehr zeigen.«
Christian sieht zu Gunda rüber, die versucht, sich mit einem glimmenden Stöckchen die Zigarette anzuzünden. Wahrscheinlich stimmt das. Wahrscheinlich hätte er zu Hause eine Schublade mit Korken und europäischen Münzen und gelochten Pappfahrscheinen. Wahrscheinlich hätte Gunda nach der ersten Operation aufgehört zu rauchen.
»Will außer mir noch jemand was Süßes?«, fragt Renate und steht auf.
»Hier!«, sagt Hans.
Renate holt zwei Becher Pudding aus dem Kühlschrank.
»Schön oder schnell?«, fragt sie.
»Schön«, sagt Hans.
Renate seufzt und stürzt den Pudding auf zwei Untertassen. Die Karamellsoße tropft, als sie sich neben Christian zurück auf die Bank zwängt.
»Wie kannst du nur«, sagt Wolfgang, »Pudding zum Rotwein.«
Renate lacht. »Weißt du doch, Schatz. Ich kann alles.«
Das stimmt. Sie schläft sogar auf dem Bauch.
»Muss ich«, hat sie letzte Nacht gesagt, »sonst schnarche ich, und du kriegst kein Auge zu.«
Schön hat sie ausgesehen. Wie ein Kind mit den Fäusten neben dem Kopf und der Nase im Kissen. Wie das Gegenteil von über der Decke gefalteten Händen.
Zur Konfirmation hatte Christian seinem Patenkind Lukas einen Motorradausflug durch Ostwestfalen geschenkt. Lukas war abwechselnd bei ihm und Gunda mitgefahren, und nachts hatten sie in Landgasthöfen geschlafen, Lukas auf der Extraliege im Doppelzimmer. Sie hatten sich bemüht, so zu tun, als wären sie eine Clique, hatten am Abend gewürfelt und Karten gespielt und tagsüber bei jeder Caféterrasse angehalten, um Spezi zu trinken. Aber im Endeffekt waren sie doch eine Kleinfamilie gewesen, Lukas zu groß und zu schweigsam, er und Gunda betont jugendlich in ihren Lederhosen, eine Kleinfamilie, über die die anderen Gäste im Landgasthof wahrscheinlich die Köpfe schüttelten. Eine Kleinfamilie, die Christian selbst peinlich war.
»Psst«, macht Katrin und legt den Kopf schief.
»Was denn«, fragt Wolfgang, »kommt Besuch?«
»Das Wildschwein bittet um Herberge«, sagt Hans.
»Psst!« Katrin fuchtelt in seine Richtung. »Die Maus ist wieder da. Ich hab’s gehört.«
Sie sitzen bewegungslos und lauschen. Im Feuer knallt etwas, und Gunda fängt an zu kichern.
»Psst!« Katrin runzelt die Stirn.
»Was willst du denn mit der Maus?«, fragt Hans.
»Anschauen.« Katrin steht auf und geht vorsichtig Richtung Mülleimer.
»Da ist sie!«, flüstert sie aufgeregt. »Guckt mal, süß!«
Wolfgang verdreht die Augen. »Nicht zu fassen, wie verstädtert du bist. Drauftreten musst du, so hat mein Opa das gemacht. Gatsch mit dem Absatz, und gut war.«
»Niemals«, sagt Katrin, »guck doch.«
»Dann lasst uns jetzt über die Nachteile sprechen, keine Kinder zu haben«, sagt Renate mit theatralischer Geste. »Gefühlsübertragung auf Schädlinge.«
»Das ist kein Spaß«, sagt Hans. »Die nagt die Mülltüte auf, und morgen früh fällt uns alles entgegen.«
Wo sie sowieso zu faul sind, den Müll wegzubringen. Drei zugebundene Tüten stehen neben der Spüle, und in der Scheune die leeren Flaschen. Der letzte Tag wird vollständig fürs Putzen draufgehen. Putzen und Holzhacken, damit nicht so auffällt, wie viel sie verfeuert haben.
»Okay, ich scheuch sie weg«, sagt Katrin, »aber tot mach ich sie nicht.«
Sie tritt mit dem Fuß gegen den Mülleimer. Katrin ist die einzige, die Hausschuhe mitgebracht hat, echte Hüttenschuhe, denkt Christian, mit gestricktem Fuß und aufgenähter Sohle. Er mag die Sorgfalt dieses Details, falls Katrin es bedacht hat. Er mag jetzt auch Katrin wieder. Alle, wie sie hier sitzen.
Am fünfzigsten Geburtstag seines Bruders waren Gunda und er die einzigen, die geraucht haben. An die vierzig Gäste, alle nikotinfrei, und nur einer pro Pärchen, der sich nachschenken ließ. Die ersten gingen um halb zwölf, und gegen eins waren nur noch er, Gunda und die erwachsenen Neffen mit ihren Freundinnen da. Also doch eine Clique. Gunda war betrunken, aber die einzige, die es schaffte, mit der schwarzgekleideten Freundin von Lukas ins Gespräch zu kommen. Diese letzte Stunde war die schönste der Party gewesen. Sein Bruder hatte den Plattenspieler freigeräumt, der seit Jahren unter Stapeln von CDs begraben lag, und Mother’s Finest aufgelegt.
Sie schweigen. Je länger sie abends ums Feuer sitzen, desto stiller wird es. Aber das stört nicht, es gibt ja das Feuer, das knistert und ab und zu knallt, die Kippen, die regelmäßig hineingeworfen werden, das Scharren, wenn jemand sein Glas vom Boden aufnimmt.
Gundas Augen glänzen.
Jetzt, wo sie wieder so hübsch aussieht, fällt Christian ein, dass sie vielleicht nicht aus Eifersucht das Zimmer-Auswürfeln ablehnt, sondern dass es wahrscheinlich noch schwerer fällt, einen eindeutig versehrten Körper zu einem fremden ins Bett zu legen, als einen, der nur altert. Er überlegt, wieso ihm das bisher nicht eingefallen ist. Es muss an der Dreistigkeit liegen, mit der Gunda ihm selbst ihren Körper zumutet. Ihm gegenüber ist sie nie schüchtern gewesen, auch nicht nach den Operationen, im Gegenteil, ihm kam es so vor, dass sie nicht mal die Idee zuließ, ihn könnte der Anblick vielleicht ekeln, zumindest aber erschrecken.
Sofort ist er wieder da, der Ärger über die Zumutung. Christian öffnet den Mund und versucht, möglichst flach zu atmen. Sie ist nicht schuld, denkt er, aber das hat noch nie geholfen.
»Na, trübe Gedanken?«, fragt Wolfgang, und Christian nickt und lässt sich nachschenken.
»Evolutionstechnisch sind trübe Gedanken äußerst sinnvoll«, sagt Wolfgang.
Christian lächelt. Jetzt kommt bestimmt wieder ein Merkspruch, der ihn von heute an ab und zu trösten wird. Entgegen der landläufigen Meinung ist es ein Segen, Psychologen im Freundeskreis zu haben.
»Die Erinnerung an unsere Fehler drängt sich auf, damit wir sie nicht noch mal machen und womöglich die Art gefährden.«
Katrin schnaubt. »Funktioniert aber irgendwie lückenhaft, findest du nicht?«
»Tja«, Wolfgang nickt entschuldigend. »Ist eben nur ein Mechanismus unter vielen.«
Christian fallen die Infusionsnadeln und Gundas Handrücken ein.
»Was ist mit den Dingen, an die man ständig denkt, obwohl man gar keinen Einfluss auf sie hat?«, fragt er.
»So genau kann dein Gehirn eben nicht aussieben. Und woher willst du überhaupt wissen, worauf du Einfluss hast und worauf nicht?«
Auf Krankheit nicht und auf Tod nicht. Oder vielleicht doch. Vielleicht will er keinen Einfluss darauf haben können. Weil es dann auch eine wirkungsvolle und eine falsche Art gäbe, darüber nachzudenken.
»Als Kind habe ich immer geglaubt, wenn ich vorher bedenke, dass etwas schiefgehen kann, geht es mit größerer Wahrscheinlichkeit nicht schief. Weil ich aus Erfahrung wusste, dass es einen am schlimmsten trifft, wenn etwas unerwartet schiefgeht. Ich hab das Schicksal für so ehrgeizig gehalten, dass es nur die perfekten Gelegenheiten nutzt, um zuzuschlagen.«
Wolfgang lacht. »Und dich für so schlau, ihm diese Gelegenheiten zu vermasseln.«
»Natürlich. Als Kind war ich doch noch Herr über mein Leben.«
Katrin schnaubt wieder. »Ob du dich da auch vollständig und im Sinne der Evolution korrekt erinnerst?«
Christian starrt ins Feuer. »Ich glaube schon. Schließlich mach ich diesen Fehler jetzt nicht mehr.«
Das Feuer ist so gut wie niedergebrannt. Jemand muss aufstehen und Holz aus dem Schuppen holen.
»Ich gehe«, sagt Renate. »Aber nicht allein.«
»Also gut.« Christian steht auf. »Damit der Stapel nicht über dir zusammenbricht wie heute Morgen über Gunda.«
Es ist doppelt kalt draußen, wenn man so lange am Feuer gesessen hat. Renate hakt sich bei Christian ein.
»Komm, schnell.«
Im Schuppen ist kein Licht, und sie haben die Taschenlampe vergessen.
»Geh aus der Tür«, sagt Christian, und Renate tritt zu ihm in den Schuppen.
Sie füllen den Wäschekorb mit Scheiten und packen jeder einen Griff.
»Hält der das aus?«, fragt Renate. »Vielleicht brauchen wir nicht mehr so viel und gehen lieber ins Bett.«
»Welches Bett?«, fragt Christian und gibt sich rasch selbst die Antwort: »Welches auch immer dran ist.«
»Die Umzieherei nervt«, sagt Renate und stößt mit der Ferse die Schuppentür zu. Gelenkig ist sie auch.
Von draußen sieht das Haus dunkel und unbewohnt aus; das Küchenfenster geht zur Seite raus.
»Ich war schon hundertmal hier, weißt du«, sagt Christian und bleibt stehen.
Renate lässt ihr Ende vom Korb los. Ein paar Scheite kullern ins Gras.
»Ich auch bald«, sagt sie.
»Nein«, sagt Christian. Er spürt, wie Renate ihn im Dunkeln ansieht. »Nicht damals«, fügt er hinzu. »Nicht, als alles neu war.«
Der erste Sommer. Als sie überall Spuren der alten Besitzer gefunden hatten. Als die Schlafzimmer noch nicht verteilt waren und er mit Gunda und seiner Schwester auf dem Scheunenboden gepicknickt und Pläne gezeichnet hatte.
»Wir hatten eine Schaukel an den Balken überm Tor gehängt. Nicht für die Kinder, Kinder gab’s damals noch keine. Nur für uns.«
Renate klingt munter. »Ja, schade«, sagt sie. »Wer hat sie abgehängt? Dein Bruder? Damit niemand runterfällt?«
»Weiß ich nicht. Wahrscheinlich.«
»Willst du denn wieder eine?«
Christian schüttelt den Kopf. »Ach was. Die Schaukel gab’s nur, weil der Balken so dick war. Um zu beweisen, dass man hier alles machen kann, was man in einer Neubauwohnung in der Stadt nicht machen kann.«
Er kickt gegen eines der Holzscheite. Renate atmet hörbar ein.
»Alles?«, fragt sie.
»Ja. Alles.«
Sie kommt auf ihn zu.
»Lass mal«, sagt Christian schnell.
»Was denn?«
Es ist wie heute Morgen, als er Gunda nicht trösten durfte. Nur dass jetzt er an der Stelle von Gunda ist.
Renate lacht und legt ihm trotzdem den Arm um die Hüfte, den Kopf an seine Schulter.
»Keine Sorge«, sagt sie. »Vor mir brauchst du nun wirklich keine Angst zu haben.«
Sie lassen den Korb mit Holz neben der Bank auf den Boden plumpsen.
»Tür zu!«, ruft Wolfgang und greift gleich zwei Scheite, um sie auf die nur noch schwach glühende Asche zu legen.
»Achtung!« Er bläst hinein.
»Das wird wieder«, sagt er zufrieden. »Irgendwelche Wildschweine draußen?«
»Nichts«, sagt Renate.
Sie bleibt an die Spüle gelehnt stehen. Christian geht zurück auf seinen Platz und sieht zu, wie aus der Glut kleine Flammen aufspringen.
»Ich geh schon mal ins Bett«, sagt Renate. Als keine Antwort kommt, klopft sie sich mit der flachen Hand auf den Schenkel und geht zur Tür. »Gute Nacht zusammen.«
»Moment«, sagt Wolfgang, als sie draußen ist. »Haben wir schon gewürfelt?«
Katrin sieht strafend auf. »Tu doch nicht so.«
Das vordere Scheit fängt zuerst Feuer, obwohl es nicht kleiner ist als das hintere.
Wolfgang zieht die Augenbrauen hoch. »Scheinbar hab ich was verpasst.«
»Will jemand Kaffee?«, fragt Christian und steht auf.
»Jetzt noch?«
Die kleine elektrische Kaffeemaschine steht auf einem Bord neben der Spüle. Als Christian den Filterbehälter vorklappt, löst er sich aus der Halterung, und der Kaffeesatz vom Nachmittag fällt Christian auf die Füße. Er fasst die durchweichte Filtertüte mit spitzen Fingern und schleudert sie in Richtung der Müllsäcke.
»Was machst du für eine Sauerei?«, fragt Hans.
Christian versucht, den Filterbehälter wieder einzuhängen, aber der kleine Plastikzapfen ist abgebrochen.
»Scheißding«, er wirft den Behälter in die Spüle.
»Was machst du denn?«, fragt Katrin.
Christian bückt sich und zieht den Stecker aus der Wand. »Kaffee. Aber nicht mit dieser Kaffeemaschine. Solche hat man heutzutage gar nicht mehr. Deshalb stehen sie auch zu Dutzenden halb kaputt hier im Ferienhaus rum.« Er drückt Katrin die Maschine in den Schoß. »Bitteschön. Kannst du verfeuern oder als Andenken für die Kinder aufbewahren. Für wessen auch immer.«
Er lässt Wasser in einen Topf und stellt ihn zitternd auf die Herdplatte.
»Wie du meinst«, sagt Katrin und wirft die Kaffeemaschine ins Feuer.
»Seid ihr jetzt übergeschnappt?«, ruft Wolfgang und springt auf. Er zieht die Maschine am Kabel aus dem Feuer.
»Ich lass mich doch nicht zum Deppen machen«, sagt Katrin, »was hab ich denn damit zu tun?«
Christian sieht auf den Topf, unter dem die Herdplatte jetzt anfängt zu zischen und zu knallen.
Hans seufzt. »Mensch. Das stinkt doch.«
Richtig, denkt Christian. Der Herd ist fettig und soßenverspritzt, die Mäuse nagen die Mülltüten auf, und auf dem Boden liegt feuchter Kaffeesatz, der sich nicht wegfegen lässt. Wenn man jetzt den Besen nähme, würden die Staubflusen, die niemand rausgezupft hat, sich zu Dreckbatzen zusammenrollen und sich auf ewig mit den Borsten verbinden. Christian will am liebsten gar nichts mehr anfassen, nicht mehr reingehören in dieses Haus, zu diesem Dreck. Er will wieder klein sein, Eltern haben, die für ihn sorgen.
»Ich wasch mal ab«, sagt Gunda, tritt an die Spüle und dreht den Wasserhahn auf.
Hans steht auch auf, greift sich den halbzerfledderten Stern aus dem Altpapierkorb und sagt: »Wenn ihr jetzt mit Putzen anfangt, geh ich ins Bett. Ihr könnt mir ja was übriglassen.«
Welches Bett? Christian sieht auf Gundas Hände im Spülmittelschaum, denkt an ihre Knie im Badeschaum, fragt sich, ob er auch nach oben gehen soll, und in welchem Bett Renate liegt. Er würde gern ein Bad nehmen. Zu Hause nimmt er immer ein Bad, wenn ihm alles andere zu kompliziert ist, aber hier gibt es keine Wanne, hier gibt es nur eine Duschkabine, weil die Geschwister nichts übrig haben für warmes Badewasser und Taschenbuchkrimis, sondern ihre Körperpflege effektiv erledigen. Die Kinder sind im Sommer oft in die Kuhtränke vor dem Haus gestiegen, aber das tun sie inzwischen bestimmt nicht mehr. Lukas hat die Narbenhaut, und seine schwarzgekleidete Freundin hat nicht so ausgesehen, als ginge sie bei Sonne auch nur nach draußen.
Ein Sitzplatz an der Kuhtränke wäre schön, eine Eckbank wie hier am Feuer, um dem Wasser beim Überlaufen zusehen zu können. Das würde den Brennholzbedarf enorm reduzieren, wenn sie eine zweite Möglichkeit zum Starren hätten. Katrins Augen sind schon ganz glasig, aber das kann auch am Wein liegen.
»Ich fahr morgen weg«, sagt sie.
»Hör auf«, sagt Wolfgang, »das sagst du jedes Mal.«
Gunda fängt an abzutrocknen. Katrin steht auf und hilft beim Wegräumen. Christian gießt kochendes Wasser in die Kaffeekanne und löffelt Kaffee dazu.
»Falschrum«, sagt Katrin und hat Recht, das Pulver geht nicht unter, sondern liegt als Haufen oben auf. Christian gießt nach, die Kanne läuft über.
»Kommst du mit rauf?«, fragt Katrin Gunda. Die beiden hatten letzte Nacht das schöne Schlafzimmer zusammen.
Gunda nickt und hängt das Trockentuch auf. »Bis morgen«, sagt sie.
Das muss nicht heißen, dass sie wieder mit Katrin das Zimmer teilt. Zu Hause sagt Gunda auch »Bis morgen«, wenn sie als erste ins Bett geht. Im selben Bett zu schlafen, bedeutet bei ihnen nicht mehr zwangsläufig, beieinander zu sein. Jeder schläft und träumt für sich, um morgens die Augen aufzuschlagen und nachzusehen, ob der andere noch da ist. Vielleicht legt Katrin sich zu Hans, und jetzt liegen zwei Frauen allein da und warten, dass er zu ihnen kommt. Zum Glück gibt es Kaffee.
»Ihr seid schuld«, sagt Christian und setzt sich zu Wolfgang auf die Bank. »Du und Renate. Ihr seid die Anführer. Ihr seid verantwortlich für die Evolution.«
»Wie bitte?« Wolfgang schenkt Wein nach.
»Na, Stammesentwicklung. Fortpflanzung.«
»Ach, darum geht’s noch.«
»Ganz genau. Darum.«
Wolfgang stützt seinen großen Kopf in die Hände, die Ellbogen auf die Knie. Christian sieht, wie das Feuer sich in seinen Augäpfeln spiegelt. Er hat schöne Augen, sein Freund. Und große Hände. Den Ehering kriegt er bestimmt nicht mehr runter, aber wozu auch.
Wolfgang wiegt den Kopf. »Wie bei den Wölfen, meinst du.«
Christian zuckt die Schultern.
»Bei den Wölfen kann nur das Weibchen des Anführers überhaupt schwanger werden. Die andern Weibchen sind gar nicht fruchtbar, solang sie unterworfen sind.«
Christian nickt. »Genau«, sagt er, »genau das meine ich.«
»Na ja«, sagt Wolfgang, »die machen das dann aber auch.«
»Was?«
»Junge kriegen.«
Christian zuckt die Schultern.
»Trotzdem«, sagt er.
Wolfgang räkelt sich und legt noch mal nach. »Ich versteh nicht, warum das auf einmal wieder Thema sein soll. Ist doch längst zu spät.«
»Sicher«, sagt Christian. »Aber wer Schuld hat, kann man ja trotzdem feststellen.«
Das ist es. Wolfgang hat in diesem Falle versagt. Wolfgang war der einzige, der überhaupt die Chance gehabt hätte, Kinder zu zeugen. Und jetzt schlich seine Frau im Dunkeln herum und versuchte, ein neues Alpha-Männchen zu küren. Aber nicht mit ihm. Er könnte höchstens noch seinem eigenen Weibchen, das in die Fuchsfalle geraten ist, die verstümmelte Pfote lecken. Wahrscheinlich nicht mal das.
»Gute Nacht«, sagt er zu Wolfgang, der mit dem Schürhaken auf die Kaffeemaschine klopft.
»Nacht.«
Christian steigt im Dunkeln die Treppe hoch. Unter keiner der Türen ist noch Licht zu sehen. Wahrscheinlich haben sie es gemacht wie letzte Nacht, und sein Platz ist links bei Renate.
Er will nicht. Er kann sich nichts Absurderes vorstellen, als neben einem anderen Körper zu liegen, geschweige denn, einen solchen anzufassen. Warum das wohl jemals ging? Vielleicht, wenn er ganz flach atmet.