Читать книгу Beginn eines Piratenlebens - Ann-Kathrin Speckmann - Страница 7
ОглавлениеKapitel 1
Es war ein warmer Tag, den nur gelegentliche Windstöße erträglich machten. Anne wünschte sich etwas Kaltes zu trinken und suchte einen Wasserverkäufer. Doch hier am Hafen gab es nur Bier, Rum, Whisky und anderen Alkohol. Anne verstand nicht, warum die Männer das Saufen als Genuss empfanden und freiwillig ihr Geld dafür ausgaben. Während sie das dachte, sah sie eine Gruppe grölender Matrosen in Schlangenlinien auf sich zukommen. Alle hielten halbvolle Flaschen in den Händen. Der Größte von ihnen blieb leicht schwankend vor Anne stehen.
„Na, duuu bischt aber mal ‘ne gjanz Hübsche. Wie wär’s? Hast de Durscht?“ Er grinste sie mit gelben Zähnen an.
Anne wich zurück. „Mit jemandem, der so stinkt wie du, trinke ich nichts!“
Die vier Begleiter des Riesen lachten los, woraufhin sich das Gesicht des Ausgelachten knallrot verfärbte. Mit geballten Fäusten ging er auf Anne zu. Einer seiner Freunde hielt ihn auf, indem er ihm eine Hand auf die Schulter legte.
„Hey, gjaaansch ruhig, Angelos. Die is doch bloos zickich. Die hält sich wohl für wat Besseres.“
Anne spannte jeden Muskel in ihrem Körper an. Wenn die Männer sie angriffen, würde sie sich wehren. Aufmerksam musterte sie ihre Gegner. Diese tranken aus ihren Flaschen. Erst als sie sich abwandte, mischte sich ein dritter Matrose ein. „Aber Terry, du kannscht doch nich einfach die Einladung von unschrem groooßzügigen Angelos zurücknehm’n!“
Er unterstrich seine Worte mit weit ausholenden Armbewegungen. „Und du! Du willscht doch nicht etwa schon geh’n und damit unsre waaahnsinnich nettes Angebot ablehnen?“
Spöttisch sah Anne auf ihn hinab. „Ich glaube, ich habe deutlich genug gesagt, dass ich mit so verlausten Kerlen wie euch keine Zeit verbringen will!“ Wütend holte ihr Gegenüber aus. Doch Anne duckte sich blitzschnell, sodass der Schlag ins Leere ging. Durch den Schwung und vom Alkohol benebelt, fiel der Angreifer neben Anne auf die Knie. Mit ihrem Lachen stachelten die anderen seinen Ehrgeiz an. Er griff nach ihr. Impulsiv trat sie ihm in den Bauch, bis er sich vor Schmerzen krümmte. Sie grinste. Mittlerweile starrten einige Schaulustige zu ihnen herüber und lachten über die Matrosen.
Diese Blamage war für sie zu viel. Sie kamen alle gleichzeitig auf Anne zu. Angelos packte ihre Schultern. Anne erstarrte für einen Moment. Mit einem solchen Angriff hatte sie nicht gerechnet. Panisch krallte sie ihre Fingernägel in den Handrücken des Riesen. Letzterer verstärkte seinen Griff und drückte Anne beinahe zu Boden. Mit aller Kraft bohrte sie ihre Finger tiefer in das Fleisch. Mit einem Aufschrei ließ er los. Dabei sprang er ein Stück zurück und stolperte über eine Kiste.
Anne wollte aufatmen, schaffte es aber nicht. Eine Hand lag fest auf ihrem Gesicht. Sie rang erfolglos nach Luft. Panisch zappelte sie umher. Wehr dich endlich!, befahl ihre innere Stimme. Anne biss zu. Der ranzige Geschmack ließ sie würgen. Doch sie hatte keine Wahl. Angeekelt klemmte sie die Finger ein, bis das Blut in ihren Mund floss.
Luft! Ihr Puls beschleunigte sich. Nur mit viel Mühe schaffte sie es, ihre Panik niederzuringen. Sie konzentrierte sich auf das Beißen. Das Blut rann in ihren Hals. Gleichzeitig riss der Angreifer seine Hand weg. Sie hustete und würgte. Im Hintergrund hörte Anne eine Reihe von Beschimpfungen. Die zwei übrigen Matrose nutzten Annes schlechten Zustand, um ihre Arme zu ergreifen. Immer noch hustend schlug und trat Anne um sich. Der Riese Angelo packte ihren Knöchel. Mit einem Ruck riss er ihn zur Seite. Anne schrie auf. Sie stürzte mit den beiden Männern, die sie festhielten, zu Boden. Einer von ihnen ließ sie los, um seinen eigenen Sturz abzufangen. Der andere klammerte sich auch im Fallen an ihr Handgelenk. Immer aufmerksam bleiben! Anne suchte den Boden ab. Sie hätte beinahe vor Glück aufgelacht, als sie einen Dolch entdeckte. Er musste einem ihrer Angreifer aus dem Gürtel gefallen sein. Mit der freien Hand griff sie nach der Waffe und rammte ihre scharfe Spitze dem Mann in die Schulter, der ihren linken Arm hielt. Der Getroffene schrie auf. Anne zog die Klinge zurück und schubste den Verletzten zur Seite. Genau in diesem Moment zog einer der anderen an ihren Haaren. Dabei löste sich ihre Spange und flog zu Boden. Ihre wilden Locken wehten um ihren Kopf, sodass sie kaum noch etwas sah. Anne stach blindlings auf den Kerl ein, der eine dicke Haarsträhne umfasst hielt, als hinge sein Leben davon ab. Sie streifte den Mann mit der Klinge. Der Verletzte ließ los und fiel auf den steinigen Boden. Abwehrbereit hob Anne den Dolch. Mit der linken Hand strich sie sich die widerspenstigen Locken aus dem Gesicht. Alle Angreifer lagen stöhnend im Dreck des Hafens von Charleston. Übelkeit stieg in ihr auf. Wären sie nicht so betrunken gewesen, hätte der Kampf anders ausgehen können. Ein Glitzern zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Anne erkannte ihre Spange. Sie hob sie auf, bevor sie langsam vor den Verletzten zurückwich. Dabei behielt sie jeden von ihnen im Blick. Es ging keiner zum Angriff über. Stattdessen begutachteten sie ihre Wunden.
„Ich schätze, das werdet ihr nicht vergessen“, höhnte Anne. Ihre Stimme klang überraschend fest. „Niemand wird das“, fügte sie hinzu und deutete auf die Menschen am Hafen.
Anne behielt ihr Gegner noch eine Weile im Blick, bevor sie einige Meter weiterlief. Als sie glaubte, genug Abstand zu den Betrunkenen gewonnen zu haben, legte sie den Dolch und die Spange auf den Boden. Mit ihrem Kleid wischte sie den Dreck aus ihrem Gesicht. Die Vorstellung wie sie jetzt aussehen mochte, dämpfte ihre Freude über den Triumph. Peg, ihre Mutter, würde vor Wut platzen, sobald sie Anne sah. Da half es nicht, das Blut notdürftig abzuwischen. Anne gab auf und ließ die dreckigen Röcke fallen. Stattdessen hob sie ihre Spange auf. Dabei entdeckte sie, dass eine Ecke abgebrochen war. Ihr Magen krampfte sich zusammen: Das würde Peg noch schlimmer finden, als das blutige Kleid. Leider konnte sie beides nicht reparieren.
Während sie ihre Haare hochsteckte, bemerkte Anne eine auf sie zurennende Gestalt. Sie griff nach dem Dolch und ging in Verteidigungshaltung. Doch zu ihrer Überraschung hob der Mann die Hände auf Schulterhöhe. „Ich gehöre nicht zu den Kerlen. Ich will dir helfen!“
Sie sah ihn zweifelnd an. Er gehörte eindeutig nicht zu den Matrosen. Mit seinem schlaksigen Körper sah er auch vollkommen anders aus. Trotzdem brachte Hilfe nach einem Kampf nur wenig. Anne glaubte allerdings nicht, dass er ihr gefährlich werden könnte. Deshalb steckte sie den Dolch in den Gürtel.
„Zum Helfen kommst du zu spät“, sagte sie, während sie sich abwandte.
„Unterschätze mich nicht, ich hätte es den Kerlen gezeigt, …“
„… wenn ich sie nicht schon erledigt hätte“, beendete Anne den Satz.
„Geh nicht, ich habe etwas für dich!“ Er hielt ihr das fehlende Bruchstück ihrer Spange unter die Nase. Anne nahm es ihm ab.
„Danke.“ Vor Erleichterung lächelte sie ihn an.
„Wieso hast du mit diesen Gaunern gekämpft, Mädchen?“
„Meinst du, nur weil ich eine Frau bin, soll ich mich von Betrunkenen beleidigen und schlagen lassen?“
Wütend stellte sie sich direkt vor ihn und griff nach dem Dolch. Sie plante keinen Angriff. Sie wollte ihm nur etwas Angst einjagen, damit er sie in Ruhe ließ.
„Nein, natürlich nicht!“ Er wich einen Schritt zurück. „Es ist nur so: Nicht jeder, der fünf von solchen Muskelprotzen entgegentritt, kann sie innerhalb einer Minute auseinandernehmen“, beschwichtigte er sie.
Anne wandte sich ohne einen weiteren Kommentar ab. Ein Griff an ihre Schulter hielt sie auf. Er ließ sie sofort wieder los, als sie sich umdrehte und ihn warnend anfunkelte.
„Wie heißt du überhaupt? Ich bin James Bonny und werde noch ein bisschen an diesem Hafen …“
„Charleston!“, warf Anne ein.
„Ich werde jedenfalls eine Weile hierbleiben. Vielleicht können wir uns ja näher kennenlernen.“
„Ich bin keine Hure!“
„Das dachte ich mir.“ Er grinste sie an. Anne stöhnte. Er würde nicht aufgeben, bis sie ihm wenigstens ein bisschen entgegenkam. „Ich bin Anne und sehr oft hier. Solltest du also länger hierbleiben, werden wir uns wohl oder übel nochmal sehen.“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und lief davon.
Eigentlich hätte Anne heute im Haus arbeiten sollen. Immer wenn sie etwas anderes tat als zu putzen, zu waschen oder ihre Brüder zu verpflegen, rastete Peg aus. Dabei liebte Anne es, in den Büchern ihres Vaters zu blättern und draußen Abenteuer zu erleben. Doch nach jeder schönen Stunde musste sie sich einen Vortrag über die Wichtigkeit von Fleiß anhören. Außerdem seien diese Zeitvertreibe unschicklich für Mädchen. Anne war das egal. Sie griff trotzdem bei jeder Gelegenheit nach Reiseberichten und Seekarten. Und sobald Peg wegsah, schlich sie davon. Sie ging zum Port, um die Matrosen zu belauschen und die Güter aus fremden Ländern zu bestaunen. Sie würde alles, was sie hatte - sowohl ihre wenigen Besitztümer als auch ihre Existenz als Tochter eines reichen Plantagenbesitzers und erst recht ihre vorbestimmte Zukunft aufgeben - um auf die See hinauszufahren. Doch davon träumte sie nur. Sie musste ja schon für einen Ausflug nach Charleston hunderte von Regeln ignorieren. Außerdem nahm kein Kapitän eine Frau an Bord. Das brachte angeblich Unglück. Fest trat sie mit dem Fuß gegen einen Stein. Und gegen noch einen. Und noch einen. Sie flogen ihn hohen Bögen davon. „Au, verdammt!“, fluchte sie, als sie einen kleinen Fels traf. Sie setzte sich an den Wegesrand und untersuchte ihren rot werdenden Zeh. Dabei glitt ihr Blick über das blutige Kleid. Sofort vergaß sie den Schmerz. Wie erkläre ich das meinen Eltern? Die Chancen heimlich ins Haus zu kommen, waren ungefähr so groß, wie einen Diamanten zwischen den Kieselsteinen auf dem Boden zu finden. Sollte sie die Wahrheit sagen? Doch sie glaubte nicht an Verständnis von Seiten ihrer Mutter. Vermutlich wäre es ihr lieber Anne vergewaltigt und halbtot wiederzusehen, anstatt als Siegerin im Kampf mit Matrosen.
Aber irgendetwas musste sie erzählen. Am besten erwähnte sie nur einen Angriff und, dass sie sich gewehrt hatte. Das vorherige Gespräch und das Treffen mit James Bonny verschwieg sie besser. Auch ohne solche Details war ihr Hausarrest sicher. Und das bedeutete noch mehr Hausarbeiten als sonst. Und alles nur, weil diese Idioten sie unbedingt auf eine Flasche Rum hatten einladen wollen. Natürlich traf sie ebenfalls Schuld an dem Desaster: Wäre sie nicht abgehauen, wäre sie auch niemandem begegnet. Und wenn sie vor den Angreifern geflohen wäre, anstatt sich zu verteidigen, wäre ihr Kleid sauber geblieben. Aber sie war kein Feigling. Und der Ausflug war die Strafe allemal wert. Niemals würde sie auf ihre freien Momente verzichten!