Читать книгу Sophies Erwachen - Anna Bloom - Страница 11
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ОглавлениеAls der große Morgen gekommen war, konnte ich kaum erwarten, dass der Spuk des Schulanfangs endlich vorbei war. Stephanie vergaß wohl, dass sie mich mit ihrer lauten Musik nicht mehr nerven wollte. Heute war es mir aber egal. Weil ich so aufgeregt war, konnte ich mich sowieso nicht nochmal in Ruhe umdrehen, obwohl ich genügend Zeit gehabt hätte. Nachdem ich mich in meine Sommeruniform geschmissen hatte und den Kaffee heruntergestürzt hatte, rollten wir mit den Rädern und den Rucksäcken von der leichten Anhöhe unseres Viertels hinunter in die Stadt. Der kühle Fahrtwind tat mir gut und der Kaffee fing an zu wirken. Die Gangschaltung hatte ich langsam auch verstanden und bekam ein natürliches Hoch, das sicherlich auch etwas mit unserer Geschwindigkeit zu tun hatte. Stephanie redete nicht nur schnell, sondern radelte auch entsprechend. Als wir die Innenstadt passiert hatten und in das Labyrinth des dahinter liegenden Wohnviertels eintauchten, sah ich einige Meter vor mir ein Mädchen am Straßenrand neben ihrem kaputten Fahrrad knien. Sie versuchte wohl es zu reparieren. Stephanie fuhr an ihr vorbei, ohne zu grüßen oder zu fragen, ob alles in Ordnung war. So unhöflich war sie doch sonst nicht. Ich hielt neben dem Mädchen an und schrie Stephanie hinterher, dass sie warten solle. Sie hörte mich nicht und fuhr weiter.
„Hallo. Kann ich Dir helfen?“, fragte ich das hellblonde Mädchen, das sich zu mir drehte und mich mit ihren außergewöhnlich großen Augen erstaunt anschaute.
„Ach, die Kette ist abgefallen und ich schaffe es nicht, sie alleine wieder auf das Zahnrad zu legen. Wäre super, wenn Du mir helfen könntest“.
„Klar doch.“
Ich parkte mein Rad hinter ihrem, ging neben ihr in die Hocke und nahm das Taschentuch entgegen, das sie mir anbot, um meine Hände beim Anfassen der schmierigen Kette nicht schmutzig zu machen. Zu zweit schafften wir es schnell, die Kette wieder anzulegen.
„Danke. Ohne Dich hätte ich schieben müssen. Ich heiße übrigens Christina“, sagte sie lächelnd.
„Ich bin Sophie.“
„Gehst Du auch auf die Blenheim High School?“
„Ja, heute ist mein erster Tag. Ich komme aus Deutschland.“
„Ich dachte mir schon, dass Du neu sein musst. Ich gehe in die zwölfte Klasse.“
„Ich auch. Dann haben wir bestimmt ein paar Kurse gemeinsam.“
„Bestimmt. Komm, ich zeig dir den Weg zur Schule.“
Wir fuhren los. Ich folgte Christina. Nach ein, zwei Minuten sah ich Stephanie uns entgegenfahren. Sie hatte wohl gedreht, als sie merkte, dass ich nicht mehr hinter ihr war. Kurz vor uns machte sie einen Bogen und fuhr nun neben mir.
„Hey, hast du angehalten oder war ich zu schnell?“, fragte sie besorgt auf Deutsch.
„Ich habe Christina geholfen, das Fahrrad zu reparieren“, antwortete ich auf Deutsch und schaute sie an, um ihre Reaktion zu erhaschen. Sie blickte versteinert auf den Weg. Ich ahnte, dass sie meine Antwort ungern hörte.
„Kennt Ihr Euch?“
„Nicht wirklich. Aber sie ist in der Gang. Insofern kann das ruhig dabei bleiben.“
„Das wusste ich nicht.“
„Woher sollst Du das auch wissen? Du hast aber wirklich ein Händchen dafür, diese Leute kennenzulernen.“
„Scheint so“, sagte ich amüsiert, da sie wirklich Recht hatte mit dieser Beobachtung. Bislang waren die Leute aber ganz nett. Ich schaute Christina an und ich konnte mir bei ihrem engelhaften, zerbrechlichen Anblick einfach nichts Böses vorstellen. Wir erreichten endlich die Schule und bogen auf den Parkplatz gegenüber ein. „Beeil Dich, ich will nicht, dass man uns zusammen mit ihr sieht“, flüsterte Stephanie mir zu und fuhr schnell an Christina vorbei zu einer Ecke des Platzes, an der die Fahrradständer angebracht waren. Ich folgte ihr, um sie nicht zu enttäuschen, fand die ganze Aktion aber ziemlich lächerlich. Christina ließ es ruhig angehen, sicher hatte sie Stephanies Plan durchschaut. Sie hielt einen höflichen Sicherheitsabstand, als sie ihr Fahrrad am Ständer festmachte. Stephanie schaffte es in Windeseile, unsere beiden Räder abzuschließen, bevor Christina mit ihrem Rad fertig wurde. Sie hakte sich dann bei mir ein und zog mich Richtung Schule. Ich konnte nur noch meinen Kopf drehen und mich von Christina mit einem kurzen „Bye“ verabschieden. Christina grüßte zurück und lächelte dabei höflich. Aber ich konnte in ihren Augen einen Anflug an Traurigkeit erkennen. Oder bildete ich mir das nur ein?
Im Park vor der Schule tummelten sich bereits viele Schüler, die in Gruppen beisammen standen oder auf dem Rasen saßen. Mein Puls raste plötzlich in die Höhe und ich bildete mir ein, dass mich jeder musterte, an dem ich vorbeiging. Stephanie steuerte zielgerichtet auf eine Gruppe zu, die es sich auf dem Rasen beim Brunnen gemütlich gemacht hat. Ich erkannte Jessica und Paula, die wieder mal perfekt gestylt waren. Mit viel Fantasie konnte man wirklich etwas aus der hässlichen Uniform machen. Bei ihnen saßen zwei Jungs, Gary und Hugh, die, wie es sich herausstellte, im Fußballteam der Schule spielten. Stephanie und die beiden Mädels schienen sich für Fußball zu interessieren und natürlich für die Jungs im Team, die sie offen anhimmelten. Als Gary und Hugh hörten, dass ich aus Deutschland kam, fingen sie an über deutschen Fußball zu philosophieren, wie zum Beispiel die strukturierte Spielweise der Deutschen, von denen sich alle anderen Nationalteams eine Scheibe abschneiden könnten. Oder über die Leidenschaft, die das Team seit Jürgen Klinsmanns Trainerschaft an den Tag legt und damit die Fanherzen weltweit für sich gewinnt. Dann stellten sie mir Fragen zu deutschen Mannschaften und Spielern, die ich nur mit Ach und Krach beantworten konnte. Ich wollte es mir nicht gleich am ersten Tag mit meinen Mitschülern verderben und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass mein Interesse an Fußball gegen Null ging. Zum Glück wechselte Stephanie das Thema, bevor ich entlarvt wurde. Ab dann verstand ich nur noch Bahnhof, da sie sich über Leute unterhielten, die ich nicht kannte. Die Glocke erlöste mich und wir gingen in das Gebäude.
Stephanie und ich hatten in der ersten Stunde zusammen Mathe. Wir gingen in den Raum, wo mich Stephanie der Lehrerin vorstellte. Ab jetzt begann die unheimlich peinliche Vorstellungsrunde durch die Lehrer, die ich in jedem Kurs über mich ergehen lassen musste. Die Schüler taten meistens ein wenig interessiert, aber waren dabei höflich zurückhaltend. Das machte es mir einfacher. Der Einstieg in Mathe war ziemlich leicht. Es war noch nichts Neues für mich dabei. Vielleicht würde sich das ja im Laufe des Jahres noch ändern. Da Stephanie auch gut in Mathe war, würde sie mir helfen können, wenn ich etwas doch nicht verstehen sollte. Im Englischkurs war es ähnlich. Jessica und Paula belegten den gleichen Kurs wie ich. Auf dem Programm stand englische Literatur. Angefangen von Beowulf über Shakespeare bis Oscar Wilde war alles dabei, was die englischsprachige Literatur zu bieten hatte. Wir fingen gleich mit der trockenen Theorie an und bekamen die Hausaufgabe, im Textbuch einen Aufsatz dazu zu lesen. Erst morgen würden wir mit dem ersten richtigen Text anfangen. Das hörte sich alles gut an, irgendwie war ich euphorisch. Alle diese Texte im Original lesen zu können. Mit Jessica und Paula an meiner Seite fühlte ich mich nicht so allein. In Geschichte sah das schon etwas anders aus. Keiner, den ich kannte, war im gleichen Kurs und so wie ich den Lehrer verstand, stand englische und Kolonialgeschichte auf dem Lehrplan. Viele Begrifflichkeiten, geschichtliche Ereignisse und Personen, die er erwähnte, kannte ich gar nicht. Das konnte noch heiter werden. Nachdem mich der Lehrer kurz vorgestellt hatte und gleich die Gelegenheit nutzte, den Schülern eine kleine Lektion über Deutschland zu erteilen, das für viele am anderen Ende der Welt war und das sie lediglich als Gegner im zweiten Weltkrieg und als Fußballnation kannten, setzte ich mich in der letzten Reihe neben dem Fester in die freie Bank, hinter dem einzigen Gesicht, das ich kannte. Christina schien etwas verblüfft, dass ich nach Stephanies Aktion von heute Morgen, die Nähe zu ihr suchte. Es gab immerhin ein paar alternative Sitzgelegenheiten, die ich aber ignorierte, um sie kennenzulernen. Sie drehte sich kein einziges Mal zu mir um und wahrte den Sicherheitsabstand, auf den Stephanie zuvor bestanden hatte. Erst als Mr. Harris die Bücher austeilte, kam mir der Zufall zur Hilfe. Er hatte ein Buch zu wenig dabei. Da ich die letzte in der Reihe war, ging ich leer aus und er bat Christina darum, mich während des Unterrichts in ihr Buch schauen zu lassen. Nach der Stunde würde ich von ihm im Lehrerzimmer ein eigenes Buch erhalten. Christina und ich nickten zustimmend und sie drehte sich zu mir um, als Mr. Harris uns den Aufbau des Buches und die Lerninhalte in der Übersicht erläuterte. Christina hatte eine warme und beruhigende Ausstrahlung. Ein sanfter lieblicher Duft ging von ihr aus, der mir sehr gefiel. Obwohl sie sich auf das, was Mr. Harris sagte konzentrierte, blickte sie ab und zu auf und schaute mich an. Sie lächelte freundlich, wenn ich ihren Blick erwiderte. Irgendwie fühlte ich mich ihr sehr nah. Es war, als ob unsere Freundschaft vorprogrammiert war. Nachdem die Glocke klingelte, bedankte ich mich bei ihr. Sie bot mir ihr Buch an und sagte, sie würde mit Mr. Harris zum Lehrerzimmer gehen, um das andere zu besorgen. Dann müsste ich nicht durch das Schulhaus irren auf der Suche nach dem nächsten Raum. Ich nahm ihr Angebot dankbar an und sah sie den ganzen Tag nicht mehr.
Biologie war eine Sache für sich. Der Bioraum war auf Experimente ausgerichtet, das sah man sofort. Jeder Tisch war mit einem Waschbecken und einem fest installierten Mikroskop ausgestattet. Die Tischplatte bestand aus einem steinernen Material, von dem man verschüttete Flüssigkeiten leicht wegwischen konnte. Die Tische und Bänke waren wie im Kino nach oben hin aufsteigend gebaut. Als erstes stellte ich mich dem Lehrer vor - er hieß Mr. Stewart, war alt, unsympathisch, unrasiert, etwas zittrig und ich bezweifelte, dass er die Klasse in Zaum halten konnte, die im Vergleich zu den Stunden die ich vorher hatte, sehr laut war. Mir wurde ganz schlecht, als ich zwei Schaumränder in seinen Mundwinkeln entdeckte, die immer größer wurden. Zu meinem Unglück redete er so lange mit mir, bis die Stunde anfing und stellte mich dann den anderen Schülern vor. Während er sprach, warf einer der Jungs, die in der letzten Reihe saßen, einen Papierflieger in unsere Richtung. Der Flieger landete auf meinem rechten Fuß. Mr. Stewart war wirklich ein Waschlappen und bemerkte nur, ob das die freundliche Art sei, eine neue Schülerin zu begrüßen und entließ mich endlich. Ich setzte mich in die erste Reihe außen neben ein Mädchen, das eine Maori sein musste. Sie drehte sich gleich zu mir und flüsterte: „Mach Dir nichts draus. Kyle ist immer so dämlich. War bestimmt nicht persönlich gemeint.“
„Ist schon ok. Wie alt ist er eigentlich?“, erwiderte ich und lächelte.
„Sein Hirn blieb bei fünf Jahren stehen. Ich heiße übrigens Kiri.“
„Ich bin Sophie.“
„Freut mich. Herzlich willkommen in Neuseeland.“
„Danke schön.“
Ich drehte mich unauffällig nach hinten und schaute zu Kyle, dem Fliegerattentäter. Er starrte mit gläsernen Augen direkt in meine. Er musste mich die ganze Zeit beobachtet haben. Ich drehte mich schnell wieder weg und war mir nun sicher, dass der Flieger mir gewidmet und nicht zufällig auf meinem Fuß gelandet war.
Mr. Stewart teilte die Bücher aus und es wurde noch lauter um uns herum. Er hielt es auch dann nicht für nötig, die Schüler zu ermahnen, als er damit fertig war und mit seinem Unterricht anfing. So verstand ich mit meinen dürftigen Englischkenntnissen und der Lautstärke im Raum nur die Hälfte von dem, was er sagte. Bei biologischen Begriffen stieg ich ganz aus. Ich hoffte, dass ich wenigstens aus den Büchern lernen konnte. Ich schlug das Buch vor mir auf und sah auf fast allen Seiten sezierte Tiere und ihre Innereien abgebildet. Eine leise Ahnung stieg in mir auf und ich wandte mich Kiri zu.
„Sag mal, wir werden doch nicht echte Tiere sezieren, oder?“
„Doch, das ganze Jahr über eigentlich“, sagte Kiri und verzog die Lippen, um ihren Ekel zu signalisieren.
„In Deutschland steht das gar nicht auf dem Lehrplan.“
„Ich wünschte hier wäre das auch so. Das Schlimmste ist, dass der Kurs direkt vor dem Mittagessen stattfindet.“
„Essen kann ich danach definitiv nicht.“
„Ich wollte zwar abnehmen, aber so radikal auch nicht“, kicherte Kiri.
Zum Glück fingen wir heute nicht gleich damit an, Tiere aufzuschlitzen. Trotzdem war ich froh, als die Glocke läutete und wir endlich in die Mittagspause gehen konnten. Kiri und ich waren die ersten, die durch die Tür gingen, da wir direkt daneben saßen. Wir liefen nebeneinander in die Kantine als wir plötzlich von beiden Seiten angerempelt wurden. Es waren Kyle und sein Lakai Luke, den ich vom Foto des Rugbyteams erkannte. Kyle rief mir zu „Na Miss Germ, Appetit auf Tiere?“ Ich tat so, als wüsste ich nicht, dass er mich damit meinte. Die beiden lachten und liefen weiter, aber nicht ohne weitere Leute anzurempeln und einen Rugby über die Köpfe der Leute hinweg hin- und herzuwerfen.
„Vollidioten“, schimpfte Kiri und strich über ihren Oberarm, wo Luke sie angerempelt hatte.
„Mit Miss Germ meinte er natürlich mich. Wie einfallsreich.“ „Germ“ bedeutet Bakterium und gleichzeitig ist das Wort eine Anspielung auf das Wort „Deutsch“. Als ich über die zweite Satzhälfte nachdachte, fiel mir auf, dass er unsere Diskussion über Essen aufgegriffen hatte: Ob ich Appetit auf Tiere hätte? So weit, wie die beiden von uns weg saßen und so laut wie es in der Klasse gewesen war, konnte Kyle unser Gespräch nicht mitgehört haben. Aber wir hatten heute gar keine Tiere seziert, insofern war es nicht naheliegend, dass uns der Appetit vergangen war. Konnte es nur ein Zufall sein? Oder konnte Kyle Lippen lesen?
Kiri schien der Satz nicht weiter aufgefallen zu sein. Ich behielt meine Spekulationen für mich und wir stellten uns zusammen in der Warteschlange für das Essen an. Kiri hatte glatte, glänzende schwarze Haare und einen sehr schönen dunklen Teint. Ihre kleinen fast schwarzen Augen schauten forsch. Sie war kleiner und zierlicher als ich. So flink wie sie sich bewegte, hatte man den Eindruck dass sie viel Energie hatte. Das begeisterte mich auch an Stephanie. Gegensätze ziehen sich bekanntlich an. Wir plapperten ein bisschen über das Rugbyteam. Laut Kiri waren die Jungs zwar voller Testosteron, woran die gesamte Schule zu leiden hatte, aber ihrer mangelnden Intelligenz wegen nicht weiter gefährlich. Trotzdem waren alle nicht gut auf sie zu sprechen und gingen ihnen aus dem Weg, um nicht als Opfer zu enden. Sie zu ignorieren war die beste Strategie, um ihr Interesse nicht zu wecken. Das würde ich versuchen zu beherzigen, auch wenn mir das sicherlich schwer fallen würde.
Kiri lud mich zu ihren Freunden an den Tisch ein, aber ich lehnte dankend ab mit der Begründung, dass ich bereits verabredet war und verabschiedete mich von der kleinen flinken Kiri.
Stephanie und ihre Freunde trafen sich in der Kantine an einem bestimmten Tisch, den ich sofort fand. Neben Jessica und Paula saßen die Fußballer Gary, Hugh und ein paar andere Jungs, die ebenso athletisch waren wie die beiden. Die Mädels fragten mich beim Essen wie ich die Lehrer fand und erzählten ein paar amüsante Geschichten über sie. Ich hörte zwar zu, aber ich ließ meine Augen im Raum schweifen auf der Suche nach Christina und Nate. Leider sah ich nur Kyle, Luke und ihre Entourage aus Rugbyspielern, die sich gegenseitig mit Essen bewarfen. Ihr lautes Grölen war im ganzen Gebäude zu hören. Jessica merkte, dass ich in ihre Richtung starrte und fragte mich, ob ich den „Vollidioten“ schon über den Weg gelaufen sei. Ich erzählte vom Papierfliegerattentat im Biounterricht. Sie schüttelte nur den Kopf und fügte hinzu, dass das das übliche Verhalten dieser Affen sei. Dann lenkte ich das Gespräch auf Mr. Stewart und seine Unfähigkeit, in der Klasse für eine normale Lautstärke zu sorgen.
Der Computerkurs fing mit der üblichen Unterhaltung mit der Lehrerin an. Während des Gesprächs mit Mrs. Blake kamen die Schüler herein, die sich nach und nach an die Computer setzten und zu tippen anfingen, bis der Raum ganz von Tippgeräuschen erfüllt war. Mrs. Blake war eine drahtige, gut gebaute und energische Frau. Sie trug einen schwarzen Rollkragenpullover und eine auffällige dickumrandete Brille, die mich eher an eine Werbefachfrau als an eine EDV-Lehrerin erinnerte. Nachdem die Vorstellungstortur beendet war und ich mich wieder in die erste Reihe setzen musste, weil jeder andere Platz bereits besetzt war, stellte Mrs. Blake das Internetprojekt vor, das wir im Laufe des Jahres in Arbeitsgruppen durchführen sollten. Unsere Aufgabe war es, eine Internetseite zu gestalten und für den Zeitraum des gesamten Schuljahres zu betreiben. Nachdem die Gruppen ihre Ideen entwickelt hatten, sollten sie sie vor der Klasse präsentieren. Dafür würden wir eine erste Note erhalten. Eine zweite Note gäbe es für die technischen Umsetzung der Idee und eine dritte für die langfristige Betreuung der Seite, dazu gehörte auch ihre Vermarktung und ihre Popularität. Die Unterrichtsstunden stünden für Teambesprechungen und die Betreuung durch Mrs Blake zur Verfügung. Sie teilte gleich mehrere Bücher zum Thema Webseitengestaltung, Programmierung, Betreuung und Marketing aus. Das Projekt hörte sich für meine Ohren spannend an und sehr nützlich für die Zukunft aber zu ambitioniert für ein Schulprojekt. Ob das gut geht, hängt zudem stark von der Gruppe ab, in die ich hineingeriet. Als hätte Mrs. Blake meine Gedanken gelesen, sagte sie, dass sie bereits eine Liste zur Zusammensetzung der Gruppen erstellt hatte und wir keine Änderungen vornehmen könnten. Von jeglichen Ausreden und Überzeugungsversuchen sollten wir absehen. Mrs. Blake würde darauf auf gar keinen Fall eingehen. Wir müssten lernen, dass man im Arbeitsleben mit Menschen aller Art zusammenarbeiten müsse. Ein Raunen ging durch die Klasse. Man hörte förmlich die Hoffnungsblasen platzen. Sie ließ sich nicht beirren und las die Nummern der Gruppen vor und die Namen der Schüler, die dazu gehörten. Die einzelnen Schüler mussten aufstehen, damit sie wussten wie ihre zukünftigen Kollegen aussahen. Nach welchen Kriterien Mrs. Blake die Zusammensetzung entschieden hatte, erwähnte sie nicht. Das war wohl ein persönliches Experiment, um herauszufinden, welches Team in welcher Zusammensetzung das beste Ergebnis hervorbringen würde. So wie in Sci-Fi-Filmen, in denen die Protagonisten unterschiedlichster Charakteren, Stärken und Schwächen an einem Ort voller Gefahren aufwachten. Nur ein einziger würde am Ende die mörderischen Aufgaben überleben, die dort absolviert werden müssten. Veranstaltet würde das Ganze von einem reichen Wahnsinnigen, der etwas über die menschliche Natur und ihr Sozialverhalten erfahren wollte. Plötzlich hörte ich meinen Namen gefolgt von Christopher Roy und Nathan Sage. Ich stand auf und drehte mich um, um meine zukünftigen Mitstreiter in Augenschein zu nehmen. Ich traute meinen Augen nicht, als ich hinten in der linken Ecke des Raums Nate stehen sah. Nathan Sage war der Fahrradverkäufer Nate und nun mein Projektkollege für ein ganzes Schuljahr. Er war wohl der einzige Mensch an dieser Schule, deren Erscheinung die hässliche blaue Uniform keinerlei Abbruch tat. Im Gegenteil, sein olivfarbenes Gesicht, das von frechen braunen Locken umrandet war und seine grünen Augen leuchteten noch stärker als vor ein paar Tagen im Fahrradladen. Neben ihm stand Christopher Roy, ein blonder, braungebrannter Junge, der ebenfalls eine ganz besondere Ausstrahlung hatte. Ich versuchte, meine Verblüffung zu kaschieren und nickte den beiden freundlich aber stoisch zu, bevor ich mich gleich wieder setzte. Mein Hirn konnte es nicht fassen, dass ich mit dem eindeutig bestaussehendsten Jungen der Schule in einer Gruppe war. Während Mrs. Blake weitere Namen auf ihrer Liste rezitierte, grübelte ich, warum ich Nate vorher im Raum gar nicht gesehen hatte. Wahrscheinlich hatte ich ihn verpasst, während ich mit Mrs. Blake sprach. Ich war verärgert, dass ich nicht vorbereitet gewesen war, ihn hier zu sehen und dass ich eins und eins nicht zusammengezählt hatte als Mrs. Blake Nathans Namen erwähnte. So hatte ich meine freudige Überraschung sofort verraten und Nate bildete sich nun sicher ein, dass ich mich für ihn interessierte. Und das ist definitiv nichts Gutes. Immerhin wollen Männer das Gefühl haben, dass sie die Frau auf einer erschöpfenden Jagd erlegt haben. Das ist durch die Evolution in ihren Gehirnen so vorprogrammiert. Aber ich hatte mich schon als erlegt gezeigt, bevor die Jagd überhaupt anfing. Kein Jäger ist auf Aas-Beute stolz, Sophie. Es sei denn, er ist eine Hyäne oder ein Aasgeier. Aber einen solchen Mann will auch keine Frau haben. Denk dich nicht wieder in Rage, befahl ich mir wie immer, wenn ich mich mit meinen Gedanken im Kreis drehte. Als Mrs. Blake mit der Gruppenvergabe durch war, befahl sie uns in ihrem bestimmenden Ton, uns in unseren Gruppen zusammenzusetzen und die Tische und Stühle so zu verstellen, dass wir gemeinsam arbeiten konnten. Die erste Aufgabe war, uns kennenzulernen und erste Ideen für eine Website zu diskutieren. Plötzlich wurden Stühle verrückt, laut diskutiert und ich fasste mir ein Herz, stand auf und ging zu den beiden. Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass mich dabei alle anschauten. Wahrscheinlich bildete ich mir das nur ein. Das Mädchen, das neben den beiden saß, verließ ihren Sitzplatz, um zu ihrer Gruppe zu gehen. Sie sah erleichtert dabei aus. Wahrscheinlich wollte sie nicht neben Nate sitzen, der immerhin in der Gang war. Christopher konnte ich nirgendwo zuordnen. Ich hatte ihn heute noch nicht gesehen. Da er neben Nate saß und sie in den kleinen Gesten, die ich bislang wahrgenommen habe, vertraut miteinander umgingen, mussten sie sich gut kennen, was bedeutete, dass er auch in der Gang war. Hervorragend, Stephanies These, dass ich ein Händchen für die Gang habe, schien sich aufs Neue zu bestätigen. Es ärgerte mich ein bisschen, dass ich mich von Stephanies Reden beeindrucken ließ. Die beiden und Christina wirkten doch ganz anders als Kyle und Luke und der Rest des Rugbyteams. Allerdings nervten mich die seltsamen Blicke der anderen Schüler. Immerhin wurde ich von der Lehrerin dieser Gruppe zugeordnet und nicht auf meinen Wunsch hin. Wahrscheinlich warteten die Leute bloß darauf, dass die beiden mich zerfetzten, das natürlich nicht passieren würde. Ich musste innerlich darüber lachen. Eigentlich war ich doch sehr froh darüber, dass Mrs. Blake so entschieden hatte. Ich konnte Nate jeden Tag nahe sein und ich hatte sogar ein gutes Alibi dafür.
„Hi Christopher. Ich bin Sophie“, stellte ich mich vor.
„Freut mich, Sophie. Nenn mich einfach Chris. Gefällt es Dir hier bei uns in Neuseeland?“
„Ja, bislang ist alles super“ sagte ich zu Chris. „Das Fahrrad macht sich übrigens sehr gut, Nate.“
„Schön. Das wollte ich dich gerade fragen“, Nate lächelte dabei so charmant, dass ich mich richtig zusammenreißen musste, um einen klaren Kopf zu behalten.
„Chris ist ein Programmiergenie. Wir können uns also voll auf das Konzept und das Design der Internetseite konzentrieren, während er den ganzen Rest macht“, erläuterte Nate.
„Ihr seid für den kreativen Kram zuständig und ich setze alles um, was Ihr wollt“, bestätigte Chris.
„Einverstanden. Programmieren ist nicht wirklich mein Ding“, gestand ich.
„Da bist Du nicht alleine“, erwiderte Nate. Das war die erste Gemeinsamkeit, die ich an uns entdeckte.
„Hast Du schon eine erste Idee für die Plattform?“, fragte ich Nate.
„Nichts Konkretes. Aber wir sollten eine Seite bauen, bei der wir für die langfristige Betreuung wenig Aufwand haben. Also, wir sollten zum Beispiel nichts verkaufen, wo wir den Versand organisieren müssen“, antwortete Nate.
„Die User sollten sich selbst versorgen können. Bei Facebook wird auch nur die Technologie zur Verfügung gestellt, alles andere machen die User selbst“, fügte Chris hinzu.
„Ein soziales Netzwerk wäre die ideale Seite. Allerdings gibt es ja bereits sehr erfolgreiche Seiten, denen wir sicherlich keine Konkurrenz machen können. Und wir werden immerhin auch an der Popularität gemessen. Facebook zu kopieren wäre nicht gut“, sagte Nate.
„Da gebe ich Dir Recht. Aber wenn wir uns auf einige wenige Features konzentrieren und diese dafür richtig gut abbilden?“, konterte ich.
„Woran denkst Du zum Beispiel?“, fragte Nate.
„Facebooks Manko ist die Chatfunktion“, gab ich zu Bedenken.
„Ja, die ist wirklich sehr schlecht“, gab mir Nate Recht.
„Es ist aber wirklich nicht ohne, die performant umzusetzen“, schaltete sich Chris in unsere Diskussion ein. „Ich müsste recherchieren, welche Probleme wir lösen müssten, um das richtig hinzubekommen.“
„Facebook funktioniert global sehr gut. Wenn wir ein soziales Netzwerk nur lokal oder regional entwickeln, könnten wir es sehr gut im Griff haben“, spann Nate unsere Idee weiter.
„In Deutschland haben wir ein solches Netzwerk. Es heißt „Lokalisten“.“ Die Leute legen Profile wie bei Facebook an und netzwerken miteinander. Die Seite ist auf Städte begrenzt. Allerdings hat sich das Ganze anders entwickelt, als die Macher es gedacht haben. Die User haben Lokalisten zu einer Dating und Flirting-Plattform gemacht“, erklärte ich.
„Das wäre aber gar keine schlechte Idee“, überraschte mich Nate mit seiner Antwort.
„Hier in Neuseeland leben nur wenige Menschen und weit voneinander entfernt, so dass es schwierig ist, einen Partner kennenzulernen. Es gibt Veranstalter, die für Bauern und heiratswillige Frauen Tanzparties veranstalten. Hunderte Menschen aus allen Ecken des Landes fahren dort hin. Völlig krank. Aber es ist nun mal schwierig hier jemanden kennenzulernen“, erklärte Chris.
„Wir haben eine Sendung im Fernsehen mit einem ähnlichen Konzept. Ich glaube Bauern haben überall das Problem, Frauen zu finden, die auf dem Land leben wollen, wo es weit und breit keinen anständigen Klamottenladen gibt“, witzelte ich.
„Das ist also das eigentliche Problem: Wir bauen einen virtuellen Klamottenshop mit Online-Anprobe auf, dann haben es die Bäuerinnen nicht mehr so schwer beim Shopping“, lachte Nate.
„Absolut. Aber das wäre dann eine Lebensaufgabe und nicht ein Schulprojekt“, gab Chris zu bedenken.
„Aber wir könnten eine Flirt-Plattform bauen, mit der Möglichkeit Profile anzulegen und zu chatten. Seid Ihr einverstanden oder taugt das Projekt nur als guter Witz?“, fragte ich, um eine Entscheidung voranzutreiben.
„Ich denke, das ist eine gute Idee“, pflichtete Nate mir bei.
„Ich auch. Das mit dem Chatten muss ich aber noch checken“, sagte Chris.
„Wäre das für Blenheim oder die Region interessant? Was meint Ihr?“, fragte ich weiter.
„Als Einzugsgebiet ist Blenheim definitiv zu klein. Es leben nicht viele junge Leute hier. Und diejenigen, die es gibt, sind hier schon auf der Schule und sehen sich jeden Tag. Marlborogh County als Ganzes wäre nicht verkehrt. Zu der County gehören mehrere Kommunen von der Größe Blenheims, die nicht zu weit weg voneinander liegen“, sagte Chris.
„Wenn man sich online kennengelernt hat, ist es nicht zu aufwändig, sich auch mal persönlich zu treffen“, ergänzte ich.
„Es wird uns auch nicht schwer fallen, die Seite zu vermarkten. Wir können in allen größeren Orten Plakate aufhängen oder Flyer auslegen. Das könnte ich übernehmen. Mit dem Schwimmteam bin ich jeden Samstag in den Schulen der Region unterwegs“, bot Nate an.
„Dann hätten wir eine sehr konkrete Vorstellung“, schloss ich.
Wir riefen Mrs. Blake zu uns, um sicher zu gehen, dass wir nicht völlig in die falsche Richtung dachten. Sie war aber sofort begeistert und gab Chris die ersten Tipps für das Programmieren des Chatprogramms. In den kommenden Wochen sollten wir unsere Idee ausarbeiten und das Design der Seite angehen. Als die Stunde vorbei war, hatte ich ein natürliches Hoch. Ich hätte Bäume ausreißen können. Ich war erleichtert, dass ich in diesem Team war und dass Nate sich immer noch nicht als das Monster entpuppt hat, als das Stephanie ihn beschrieben hatte. Mit diesem Hochgefühl verstaute ich die vielen Bücher, die Mrs. Blake uns gab, in meinem Fach, nahm meine Sportsachen heraus, schloss ab und marschierte über den hinteren Schulhof zur Sporthalle, wo die Aufwärmübungen zum Outdoor-Activities-Kurs stattfinden sollten.
In meinem Übermut muss ich so schnell gegangen sein, dass ich als eine der Ersten in der Umkleidekabine für Mädchen ankam. Zu meiner Überraschung saß neben ein paar mir noch unbekannten Mädchen Kiri in der Kabine. Nachdem ich laut in die Runde gegrüßt hatte, ging ich zu Kiri hinüber, fragte, ob der Platz neben ihr frei sei und als sie lächelnd bejahte, setzte ich mich, um mich umzuziehen.
„Alles ok bei Dir?“, fragte mich Kiri.
„Alles bestens. Zum Glück habe ich bislang mit Kyle und Luke nur Biologie zusammen.“
„Keine Sorge, in Outdoors-Activities werden sie auch nicht sein. Die sind Rugby-Fanatiker.“
„Dann steht dem Kurs nur noch mein innerer Schweinehund entgegen“, lachte ich.
„Den muss ich auch immer überwinden. Aber dann macht der Kurs richtig viel Spaß.“
Als ich mich umgezogen habe, liefen wir gemeinsam in die Sporthalle. Kiri zeigte auf ein großes, sehr schönes schwarzhaariges Mädchen, das von einigen Mädchen und etwa zwanzig Jungs umringt war.
„Die hübsche große Frau dort ist Miss Hays, die Lehrerin.“
„Sie sieht sehr jung aus“, sagte ich verblüfft.
„Sie kam vor zwei Jahren von der Uni zu uns. Sie ist höchstens 24.“
„Und sieht unheimlich gut aus. Die Jungs sind wohl hin und weg?“
„Das kannst Du laut sagen. Deswegen ist der Anteil der Jungs in diesem Kurs so hoch.“
“Worauf habe ich mich da bloß eingelassen. Wenn ich vor Erschöpfung umkippen sollte, wird es noch peinlicher sein, von dieser Frau wiederbelebt zu werden.“
„Deswegen ist auch noch kein Mädchen umgekippt. Ihr Aussehen ist die größte Motivation, durchzuhalten.“
„Hoffentlich sehe ich dann zum Jahresende auch so gut aus, wie sie.“
„Du kommst ihr doch jetzt schon sehr nahe.“
„Danke für das Kompliment, aber das ist gelogen.“
„Keineswegs. Du brauchst nur noch die Muskeln.“
„Das wird hier ein Überlebenstraining mit meiner nicht vorhandenen Muskelmasse.“
„Du wirst es schon packen.“
„Übrigens, ich finde, Du kommst ihr auch ziemlich nah.“
„Ich bin eher die Zwergenausgabe“, sagte Kiri ironisch.
„Nicht jeder Mann mag große Frauen“, tröstete ich sie.
„Ja, zum Glück. Aber jeder Mann mag Miss Hays.“
„Dann gehe ich mal zu Miss Universe und stelle mich ihr vor: Hier kommt ein äußerlich und sportlich völlig unterlegenes Opfer zum Malträtieren“, sagte ich zu Kiri sarkastisch.
„Mach das. Ich wärme mich so lange auf.“
Miss Universe sah aus der Nähe noch schöner aus als aus der Entfernung. Ich konnte meinen Blick kaum von ihr lassen. Meine Augen versuchten zu verstehen, woher ihre Schönheit kam. Waren es die Augen, die Nase, die strahlend weißen Zähne oder einfach alles in ihrem Gesicht und das harmonische Verhältnis ihrer Anordnung. So wie die Mädchen und Jungen um sie herumstanden und ihr jedes Wort von den Lippen lasen, wie bei einer Bienenkönigin, war ihre Schönheit ein Rätsel, das alle Menschen in ihrer Umgebung in ihren Bann zu ziehen schien. Jetzt verstand ich, warum Stephanie sagte, dass Miss Hays es leicht schaffen würde, mich zu überzeugen, mein Foto für die Homepage freizugeben. Alle fraßen ihr aus der Hand und taten alles, um ihre Wünsche zu erfüllen. Auch ich würde nicht nein sagen können, wenn sie mich um etwas bat, das spürte ich.
Ich drängelte an meinen Klassenkameraden vorbei, um mich ihr vorzustellen. Als mich ihre Augen endlich wahrnahmen, sprach ich sie an.
„Hallo Miss Hays. Mein Name ist Sophie. Ich bin neu an der Schule.“
„Hallo Sophie. Herzlich willkommen. Du hast einen schönen Akzent, woher kommt er denn?“
„Aus Deutschland.“
„Hast Du schon Erfahrung in Outdoor-Activities?“
„Leider haben wir so einen Kurs in Deutschland nicht.“
„Macht nichts. Der Kurs ist für Einsteiger. Du wirst schnell lernen, Sophie. Du hast gute Anlagen“.
„Danke. Gut zu wissen.“ Was ihr letzter Satz zu bedeuten hatte, konnte ich nicht einordnen. Kann man gute Anlagen jemandem ansehen? Vielleicht war das auch nur ein Pädagogentrick, eine selbsterfüllende Prophezeiung, damit ich überzeugt davon war, es zu schaffen.
„Wärm dich ein bisschen auf. Wir legen gleich los“, sagte sie und drehte sich ihren anderen Bewunderern zu. Ich ließ ein paar Sekunden lang meine Augen forschend auf ihrem Gesicht hin und her schweifen und ging dann zurück zu Kiri, die mir ein paar Aufwärmübungen zeigte. Unter Miss Hays Anleitung machten wir dann weiter, liefen ein paar Runden in der Halle, bis sie der Überzeugung war, dass wir zu unseren Fahrrädern gehen konnten. Überraschenderweise war ich nach dem Laufen gar nicht so außer Atem wie ich es erwartet hatte. Miss Hays fuhr vor und wir folgten ihr, wie sie es wünschte in einer langen Reihe, einer nach dem anderen. Vor mir fuhr ein straßenköterblonder, sehr muskulöser Junge namens Steve. So wie er auf seinem professionellen Mountainbike aussah, schien er auf dem Fahrrad zur Welt gekommen zu sein. Er war sicherlich nicht hier, um etwas zu lernen, sondern Miss Hays ein Jahr lang zu bewundern. Hinter mir hatte sich Kiri in die lange Schlange eingereiht. Für Außenstehende sahen wir aus, wie eine Entenfamilie. Die Mutter voran und die Jungen hinterher. Nach etwa zehn Minuten Fahrt wurde die Straße immer enger. Vor dem letzten Haus verbot ein Schild die Durchfahrt für Autos. Auf einer Wendeplattform konnte man umdrehen. Der schmale und schlecht geteerte Weg schlängelte sich zwischen Wein- und Obstplantagen und Schafsweiden zu den smaragdgrünen Bergen empor. Ein Zaun links und rechts grenzte die Felder vom Weg ab. Hier und da waren grasende und blökende Schafherden zu sehen und zu hören. Ihre Stimmen und das Summen der Insekten waren die einzigen Geräuschquellen weit und breit. Die Nachmittagssonne ergoss sich orangerot, warm und weich auf alles. Die monotonen Bewegungen auf dem Rad taten ihr Übriges und ich versank in eine Trance, ohne meine Anstrengung zu merken, oder etwas zu denken. Ich nahm für eine Weile nichts mehr bewusst wahr, bis ich genauso plötzlich zu mir kam wie ich weggedriftet war und stechende Schmerzen in meinen Beinen spürte. Die Steigung des Weges war sehr groß, Staub und Geröll haben den Teer abgelöst. Ich schaltete mehrere Gänge hoch, bis sich meine Oberschenkel wieder entspannten. Einige Meter vor uns verschluckte der Wald den Weg. Als der erste Baum seinen Schatten wie einen Vorhang über meinen Kopf warf, wurde es dunkel um uns herum. Nur spärlich drang die Sonne durch und tänzelte in kleinen Lichtflecken auf dem Meer an Farnen und moosüberwucherten Steinen, Wurzeln und Ästen. Der Wald war alt, unberührt und für meine mitteleuropäischen Augen so exotisch wie ein Wald nur sein konnte. Die Baumarten kannte ich nicht. Lianen schlängelten sich um die Bäume. Manche Bäume lagen morsch und von Moosen überwuchert in der tödlichen Umarmung der Lianen auf dem Waldboden. Die mehrere Meter hohen Farne und Palmen waren einfach unglaublich. Es roch intensiv, als hätte jemand kiloweise Honig ausgekippt. Aber viel seltsamer war die Geräuschkulisse. Vögel sangen in abstrusen Tonhöhen fremde Melodien. Manche klangen metallisch, als ob sie Lebewesen von einem anderen Planeten seien. Grillenartige Insekten zirpten schrill, sodass man sein eigenes Wort nicht verstehen könnte, würde man versuchen eine Unterhaltung hier zu führen. So still und ausgestorben wie der Wald bei uns wirkte, so lebendig war er hier. Er eroberte den von Menschenhand angelegten Pfad langsam wieder für sich. Wurzeln überquerten den Weg hier und da oder ragten plötzlich heraus, um einige Zentimeter weiter gleich wieder im Boden zu verschwinden. Steine jeglicher Größe lagen verstreut herum und machten das Vorwärtskommen besonders schwer. Moose hatten in Büscheln den Wegesrand besiedelt und streckten ihre Fühler immer weiter in die Mitte des Weges. Meinen Blick heftete ich fest auf den unebenen Boden. Ich traute mich nicht, über die Hindernisse zu fahren, weil ich befürchtete, auszurutschen. So fuhr ich um alles herum wie bei einem Hindernisrennen. Das verlangsamte meine Geschwindigkeit. Ein schneller Blick nach oben verriet mir, dass der geübte Steve verschwunden war. Um mich nach Kiri umzudrehen, war ich zu ängstlich. Plötzlich anhalten wollte ich auch nicht, damit sie nicht mit mir kollidierte, sollte sie nah hinter mir fahren. Ich rief laut nach ihr, erhielt aber keine Antwort. Dann erst traute ich mich anzuhalten. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Die mir unbekannten Baumarten türmten sich fünfzig Meter über mir nach oben. Ihre dichten Kronen schirmten das Licht völlig ab. Haben es einige Strahlen doch irgendwie geschafft, durchzudringen, so wurden sie von den überdimensionierten Farnenbüschen aufgefangen. Ich wunderte mich, wie die Moose ohne Sonnenlicht den gesamten Waldboden so dunkel und dicht wie ein Teppich überwuchern konnten. Um mich herum spürte ich keine Bewegung. Plötzlich war es totenstill. Wo waren die schrillen Grillen und die seltsamen Vögel? Als hätte alles Lebendige in diesem Wald seinen Atem in diesem Augenblick angehalten. Seltsam. Ich schloss die Augen und atmete ein. Eine Welle an Gerüchen überwältigte mich. Ich roch den Honigduft, die Pflanzen, die Tiere, die Schafe, die hinter dem Wald grasten, den Regen, der als Dampf in der Luft hing. Und ich roch die Menschen, ihren Schweiß und ihr fettiges, pulsierendes, eisenhaltiges Blut. Es drehte sich alles um mich herum. Die Bäume, die Steine, der Weg. Sie verloren ihre Konturen. Ich sah nur noch grün. Eine einzige grüne Fläche. Ich musste gefallen sein, denn ich spürte den dumpfen aber schmerzlosen Aufprall. Mir wurde schlecht und ich erbrach mich. Die Welt um mich herum kam langsam in Fokus. Ich stand vorsichtig auf, kroch auf allen Vieren zum Fahrrad, griff nach meiner Wasserflasche und trank. Zu mehr war ich nicht fähig. Mein Gehirn war ausgestellt. Nur riechen konnte ich. Alles um mich herum. Plötzlich roch ich Kiri. Noch bevor sie um die Biegung kam. Sie würde mich gleich einholen. Aus Scham setzte ich mich sofort auf das Rad, obwohl ich noch ganz zittrig in den Knien war und fuhr los. Mit starrem Blick auf den Boden geheftet fuhr ich weiter bis ich Steve und die anderen, die an einer Lichtung auf uns Nachzügler warteten einholte. Ich setzte mich auf einen morschen Baumstamm am Ende der Lichtung, etwas weiter weg von der restlichen Gruppe, die sich in Anbetung um Miss Hays gescharrt hatte und versuchte mich zu beruhigen. Als alle Nachzügler da waren, fuhren wir gleich weiter, bis wir den Regenwald verlassen haben und über gepflasterte Wege zur Schule zurückkehrten. Die Fahrt war eine reine Tortur. Die Gerüche hingen mir immer noch in der Nase. Es fiel mir sehr schwer, sie auszublenden und meinen Magen zu beruhigen. Ich stürmte in das Schulgebäude, ohne mich von Kiri zu verabschieden, und blockierte die Toilette für eine halbe Ewigkeit. Meinen Mund spülte ich aus und wusch mein Gesicht so lange mit kaltem Wasser, bis ich endlich wieder einigermaßen zu mir kam. Dann packte ich meine Tasche mit den Büchern, die ich in meinem Schrank aufbewahrt hatte, und klemmte einen Zettel an Stefanies Schrank, dass ich ohne sie nach Hause gefahren war.