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Die Vögel zwitscherten mich nach Sonnenaufgang rabiat aus dem Traum. Ich fragte mich, warum sie sich um unser Haus versammeln mussten, wenn doch auf den Feldern das neuseeländische Obst auf den Bäumen lockte. Ich blieb liegen und döste etwas vor mich hin. Dann drehte Stephanie wie angekündigt ihre Anlage hoch. Da war es für alle Beteiligten vorbei mit Schlafen. Nach dem Frühstück fuhr ich mit Stephanie und Barbara in die Innenstadt, um unsere Schulsachen zu kaufen. Die breiten, leeren Straßen wurden mit der Zeit immer enger, die schützenden Büsche vor den Häusern verschwanden und immer mehr Autos tauchten auf. Das war wohl die Innenstadt. Die Farbe Rosa war sehr beliebt in Blenheim, denn auch viele Häuser in der Innenstadt waren rosa gestrichen. Ein markanter rosafarbener Turm - laut Barbara ein Mahnmal für den ersten Weltkrieg - war das Wahrzeichen der Stadt und aufgrund seiner Größe schon von weitem zu sehen. Alles war sehr sauber. Die vielen Rasenflächen waren trotz der Hitze grün. Ein paar kleine Straßencafés gab es auch. Aber im Vergleich zu Frankfurt wirkte Blenheim sehr provinziell. Wie eine Stadt im wilden Westen. Ob ich es ein Jahr lang hier aushalten würde? Barbara parkte den Jeep vor dem einzigen Kaufhaus der Stadt, um das sich viele kleine Läden angesiedelt hatten. In einem der Läden kauften wir Ordner, Blöcke, Stifte und alles, was man für den Schulalltag brauchte. Dazu gehörte auch die Uniform. Eine für den Sommer und eine für den Winter. Im Sommer trugen die Mädchen ein kurzärmliges helles Hemd oder Poloshirt mit einem dunkelblauen Rock oder einer dünnen, ebenfalls dunkelblauen Stoffhose. Wenn es kälter wurde, war der blaue Hosenstoff dicker und man zog über ein langärmliges weißes Hemd einen blauen Pulli. Ich verzog spöttisch das Gesicht, als ich die Klamotten sah.

„Die Uniform soll die Gleichheit unter den Schülern fördern. Sie sollen ganz unabhängig von der Herkunft der Eltern Freunde werden und zusammen lernen“, erklärte mir Barbara mit etwas Pathos den Grund für die Uniform.

Die Preise für die Uniformen waren gepfeffert. Welche ärmeren Familien konnten sich diese Kleidung, ohne mit der Wimper zu zucken leisten, fragte ich mich. Die Gleichheit ihrer Kinder bezahlten sie, indem sie auf andere Dinge verzichteten.

Stephanie glaubte meine Meinung über Uniformen richtig gedeutet zu haben und klärte mich verständnisvoll auf: „Du kannst die hässlichen Klamotten aufmotzen, Sophie. Mit schönem Schmuck und Schuhen siehst Du wieder human aus.“

„Das ist ja das Problem. Deswegen gibt es ja keine Gleichheit. Ich meine, jeder, der es sich leisten kann, findet einen Weg, sich ungleich zu machen. Die Reichen sehen dann reich aus und die Armen arm. Oder?“, gab ich zu bedenken.

„Du hast teilweise Recht, Sophie. Aber bei uns in Blenheim haben wir das Glück, dass die Unterschiede nicht so groß sind. Die Menschen leben ganz gut von den Plantagen und die Schule ist sehr gut ausgestattet“, erwiderte Barbara.

„Wieso dann überhaupt eine Uniform?“, fragte ich.

„Das frage ich mich auch, Mutter! Sophie hat Recht“, fügte Stephanie hinzu.

„Ich freue mich, dass Ihr kritisch urteilen könnt. Aber es ist die alte Tradition aus England und Vorschriften sind nun mal Vorschriften“, wiegelte Barbara ab.

„Ist ja egal. Ich bin schon sehr gespannt auf die Schule“, sagte ich versöhnlich und ließ mir die Uniform, die ich anprobiert hatte, einpacken. Barbara fragte mich, ob ich genügend Sportsachen für den Sportkurs dabei hatte. Ich hatte mich während der Autofahrt, nach einer Diskussion mit Stephanie für den Kurs „Outdoor-Activities“ entschieden. Ein ähnliches Fach hatten wir in Deutschland nicht. Beim Klettern, Radfahren und Wandern würde ich draußen in der Natur sein und könnte die Gegend rund um Blenheim erkunden. Aber die vielfältige Ausrüstung, die man für Outdoor Activities brauchte, hatte ich in meinen zwei Koffern nicht dabei. Stephanie machte eine lange Liste von Dingen, die ich brauchen würde und wir stürzten uns in einen Outdoor-Laden, während Barbara einige geschäftliche Dinge regelte und im Supermarkt einkaufen ging. Wir verabredeten uns zur gemeinsamen Heimfahrt.

Bei der Anprobe fühlte ich mich in den Sportklamotten wohl, obwohl ich die Befürchtung hatte, als untrainierte Deutsche mit einer Vorliebe für elektronische Musik bei den Outdoor-Junkies in Blenheim etwas aufzufallen und bei den Wanderungen notorisch als Letzte in der Gruppe anzukommen. Schlimmer noch: Nach einem Berganstieg vom Lehrer Mund-zu-Mund beatmet zu werden und dann zur Lachnummer der gesamten Schule zu mutieren. Ich schaute mich im Laden um. Die Menschen hier sahen locker und sportlich aus, so als ob sie die Bewegung an der frischen Luft im Mutterleib aufgesogen hätten. Ich wanderte nur selten mit meiner Familie, mit meinen Freunden sowieso nicht und die Radwege in Frankfurt waren keine wirkliche Herausforderung. Definitiv hatten sie nicht im Geringsten etwas mit Mountainbiking zu tun. Ein Kanu hatte ich auch noch nie im Leben gesehen, geschweige denn ein Paddel in der Hand gehalten. Das wird noch lustig, dachte ich Großstädterin zynisch. Aber wenn man mich in meinen neuen Sportklamotten sah, sah man mir nicht an, dass ich keine langen Trainingsjahre auf dem Buckel hatte.

„Du siehst fantastisch aus, Outdoor-Schneewittchen“, kommentierte Stephanie mein Outfit und spielte dabei auf meine langen schwarzen Haare und der nicht so häufig mit Luft und Sonnenschein in Berührung gekommenen hellen Haut an. „Rot steht Dir übrigens sehr gut. Nimm das zweite Outdoorshirt mit und das Langärmlige auch. Es kann ja auch mal regnen, dann brauchst Du was Wärmeres und was zum Wechseln, wenn Du nass geworden bist.“

„Gut, dann nehme ich noch die Hose, die Wanderstiefel, die Wandersocken, die Trinkflasche, den Regenschutz für meinen Rucksack und die Radlerhose.“ Das letzte Wort betonte ich etwas abfällig.

„Sieht spitze an Dir aus. Die Jungs werden eine Runde länger gucken als sie es sowieso tun werden, wenn Du Dich auf Dein Rad schwingst.“

„Nur, um über mich zu lachen, meinst Du. Übrigens: Es gibt garantiert keine Fotos von mir in Radlerhosen, Stephanie, sonst ist mein Ruf in Deutschland ruiniert“, warnte ich sie vor.

„Das kann ich Dir nicht garantieren, meine Liebe. Wenn nicht ich Dich erwische, dann Miss Hays, die Outdoor-Lehrerin. Sie fotografiert wie wild im Kurs und stellt die Fotos online. In der Schulzeitung gab es auch ein Gruppenfoto vom Outdoor-Kurs. Insofern musst Du Dich damit abfinden, dass Dein Arsch in Radlerhosen bei einer breiten Öffentlichkeit beliebt wird.“

„Wir werden schon sehen, wer den Kampf um die Fotos gewinnt“, sagte ich. Dann fiel mir das Wesentliche auf. „Ich habe doch gar kein Fahrrad“, rief ich.

„Keine Sorge. Es gibt einen Fahrradladen hier um die Ecke. Da habe ich meins auch gekauft.“

„Dann gehe ich an die Kasse. Ich glaube, ich habe alles.“ Die Preise auf den Etiketten klangen überirdisch hoch, aber das musste an der anderen Währung liegen. Ich hatte von meinem Vater eine Kreditkarte bekommen, mit der ich alle meine Ausgaben in Neuseeland bezahlen konnte. In Deutschland hatte ich keine Karte, sondern bekam das Taschengeld jede Woche bar auf die Kralle.

Die rothaarige Kassiererin war wie ein wandelndes Werbemaskottchen von Kopf bis Fuß in Outdoor-Klamotten gehüllt. Ich erkannte sie nur an ihrem kleinen Namensschild als Mitarbeiterin des Ladens. Ihr freundliches Gesicht war mit Sommersprossen übersät und sie hatte eine gemütliche neuseeländische Art, die sich auch in ihrer Sprache niederschlug. Leider konnte ich die lang gedehnten Vokale und am Ende eines jeden Wortes willkürlich veränderten Klänge nur mit Mühe in meinem Schema von Englisch wiedererkennen. Sie sah mich verdutzt an, als ich hilflos dastand und entschuldigend den für sie entscheidenden Satz hervorpresste. „Sorry, I’m from Germany. I didn’t understand you.“ Ich kam mir wie ein Vollidiot vor und wollte, dass die Erde sich öffnete und mich in ihrer Tiefe unter viel Schutt begrub. Meiner Meinung nach sprach ich gut Englisch und verstand noch viel mehr. Immerhin sah ich sämtliche DVDs in der Originalversion, ohne Untertitel. Aber dieser Dialekt war mir noch nicht untergekommen. Die Kassiererin lächelte mich entwaffnend an und versuchte ihr bestes British English heraus zu kramen, um sich verständlich zu machen. In meinem Hirn ratterte es wie wild, bis ich endlich glaubte das Gesagte interpretieren zu können. Es war der Preis der Ware und die Frage, ob ich Bar oder mit Kreditkarte bezahlen wollte. Ach Du Schande. So einfach war es und ich hatte gleich am Anfang total versagt. Mir wurde schwindelig bei dem Gedanken, den ganzen Tag über Shakespeare, Kolonialgeschichte und Gemeinschaftskunde in diesem Dialekt sprechen zu müssen. Geschweige denn, wie ich ohne etwas von dem zu verstehen, was die Jugendlichen in ihrem ganz eigenen Slang von sich gaben, Freunde finden sollte. Sophie, worauf hast Du Dich da bloß eingelassen? Ich schob schweigend meine Karte hin. Sie führte sie in ein Lesegerät ein und wartete, bis ein Streifen Papier herauskam, auf dem der Betrag stand und sie mir wie einer Taubstummen mit großen Hollywood-Gesten der 30er Jahren erklärte, dass ich auf dem Strich zu unterschreiben hatte. Dann war ich entlassen und konnte das einzige Wort, das mir jetzt noch einfiel, herausbringen: „Thanks“. Wahrscheinlich verstand sie mich sowieso nicht. Mein Englisch klang genauso fremd für ihre Ohren wie ihr Englisch für meine. Da ich nun sprachlich eine Niete war, würden Outdoor-Activities und sonstige Sportarten zu meinen Lieblingsfächern mutieren. Das Leben hatte eindeutig ironische Züge angenommen.

„Sophie, ist alles ok mit Dir?“, fragte Stephanie mit ihrer ins Dramatische abrutschenden Stimmführung.

„Scheiße, ich kann gar kein neuseeländisches Englisch! Ich habe kein Wort verstanden, was die Frau eben gesagt hat. Ich werde hier sang- und klanglos untergehen“, sagte ich panisch und setzte mich vor dem Eingang des Ladens auf die Bordsteinkante und schob die riesige weiße Einkaufstüte schützend unter meine Schenkel. Tränen kullerten an meinen Wangen herunter. Ich schämte mich für meine verfrühte Schwäche. Schützend ließ ich meine schwarzen Haarsträhnen wie einen Vorhang über meine Wangen gleiten. Ich weinte leise alle Tränen, die sich angesammelt hatten, während Stephanie mich erschrocken in den Arm nahm.

Als ich nicht mehr schluchzte und der Sturm in meinem Kopf langsam aufhörte zu wüten, stand sie auf und sagte: „Das wird alles gar nicht so schlimm werden. Ich und meine Freundinnen bringen Dir alles bei, was Du wissen musst. Ab morgen ist täglich Neuseeländisch-Kurs angesagt! Das Gute ist: Die Grundlage der Sprache ist immer noch Englisch. Also steh auf. Wir gehen ins Einkaufszentrum auf die Toilette. Du wäschst Dich und dann holen wir das Fahrrad im Laden. Danach treffen wir uns mit Jessica und Paula im Café und da beginnt schon der Einsteigerkurs!“

Sie konnte wirklich gut motivieren, das musste man ihr lassen. Widerspruch war bei ihrer Bestimmtheit unmöglich.

„Zu Befehl, Sir!“, sagte ich halbwegs authentisch und wir lachten.

Der Fahrradladen war gleich neben dem Einkaufszentrum an einem schönen Platz, auf dem ein Pavillon stand. Er hieß BikeFit und war überdimensioniert für eine Stadt von der Größe Blenheims, was sicherlich mit den schönen Bergen hier zu tun hatte und damit, dass die Einwohner und Touristen nichts Besseres in Blenheim anzufangen wussten als zu radeln. Auch ich hatte vor, das Fahrrad täglich zu nutzen, da die Schule zu weit weg war, um den Weg zu Fuß gehen zu können und weil es in Blenheim mit dem öffentlichen Verkehr nicht so weit her war wie in Frankfurt. Zwar könnte ich in Neuseeland mit meinen 17 Jahren den Führerschein machen, aber den Stress mit dem Linksverkehr wollte ich mir nicht antun, um dann zurück in Deutschland mich an den Rechtsverkehr gewöhnen zu müssen. Das Fahrrad war eine gute Alternative. Stephanie fuhr auch mit dem Rad zur Schule. So könnten wir zu zweit radeln. Das Angebot im Laden war groß. Ich hatte absolut keine Ahnung, worauf es ankam und was das Rad haben musste, um auch in den Bergen fahren zu können. Stephanie war meine letzte Hoffnung.

„Stephanie, welches Rad hast Du denn?“

„Ich glaube, das gleiche Modell wie das Blaue da drüben. Oder vielleicht wie das Rote hier.“

„Ach du Schande. Du hast ja genauso wenig Ahnung von Fahrrädern wie ich“, sagte ich und musste loslachen. Das war eindeutig nicht mein Tag. Er wurde nur noch schlimmer. Aber, da musste ich durch. Zumindest konnte ich über mich selbst und mein Pech lachen. Das fand Stephanie wohl auch, weil sie mich erleichtert anlächelte, bevor sie sich nach unten beugte, um das rote Fahrrad für mich genauer unter die Lupe zu nehmen. Ich hielt währenddessen nach dem Verkäufer Ausschau und weil ich niemanden in meiner Sichtweite sah, ging ich weiter vor Richtung Kasse. Die Kasse befand sich in der rechten hinteren Ecke des Raumes. Links neben der Kasse ging der Raum jedoch weiter nach hinten. Dort baumelte ein Schild von der Decke mit der Aufschrift „Reparatur“. Ich schlenderte langsam dorthin. Vielleicht war dort jemand, der mich oder - nach meinem Totalausfall der englischen Sprache - Stephanie beraten konnte. Und tatsächlich war dort jemand, der sich über einen Fahrradreifen beugte. So, das war Versuch Nummer zwei. Ich musste mich meinen Ängsten stellen. Zumindest hatte ich das so im Psychologiekurs gelernt. Man wächst mit seinen Aufgaben. Es war aber schwieriger als gedacht. Ich nahm all meinen Mut zusammen, atmete tief ein und aus und sagte mit leicht zitternder Stimme auf Englisch: „Entschuldigung. Können Sie mich und meine Freundin bitte kurz beraten. Wir wissen nicht genau welches Rad wir brauchen.“

Der Oberkörper des zusammengekauerten Menschen richtete sich langsam auf und ein lockiger dunkelhaariger Schopf drehte sich zu mir hoch. Das Gesicht des Jungen war wirklich schön, seine Züge ausgewogen. So schön, dass ich mich gar nicht traute, sie so lange anzusehen. Die grünen Augen waren wohl das Auffälligste und Schönste am ganzen Gesicht. Er lächelte mich an und ich senkte den Blick, weil ich mich ertappt fühlte. Ertappt dabei, nicht richtig Englisch gesprochen zu haben. Ich schämte mich dafür, und hoffte, dass er mich zumindest einigermaßen verstanden hatte.

„Ja klar, gerne. Brauchst Du denn ein Rad für die Stadt oder für die Berge?“ Es war kaum zu glauben, aber ich konnte ihn verstehen. Auch er hatte den Singsang der Frau aus dem Outdoorladen, aber nur ganz leicht. Bei ihm klang er verständlich und sehr schön. Vielleicht strengte er sich auch nur an, britisches Englisch zu sprechen, weil er wusste, dass ich Ausländerin war. Wie auch immer, ich war überglücklich und strahlte ihn an. „Beides“, antwortete ich auf seine Frage.

„Ihr Frauen wollt immer alles haben, lächelte er. „Scherz beiseite. Ich rate Dir zu einem Mountainbike. Das lässt sich auch in der Stadt fahren.“ Nach dem Pochen unter meiner Gesichtshaut zu urteilen, lief ich nach seinem ersten Satz tomatenrot an. Ich sammelte meine Gedanken und versuchte so gut wie möglich Englisch zu klingen.

„Das Problem ist, dass ich mich bei Mountainbikes überhaupt nicht auskenne.“

„Welche Art von Wegen möchtest Du fahren? Sind sie einigermaßen befestigt oder soll es quer durch den Wald gehen?“ Ich hatte keine Ahnung, was Miss Hays von uns allen abverlangen würde. Würde ich tatsächlich quer durch den Wald fahren müssen? Ich schaute mich hilfesuchend nach Stephanie um, aber sie war nicht zu sehen. Was machte sie an diesem roten Fahrrad bloß die ganze Zeit?

„Ich will in der Schule den Outdoor-Kurs machen und dafür brauche ich das Rad. Weißt Du vielleicht, was mich dort erwartet?“

„Ach so, Du bist an der Schule? Ich dachte, Du machst Urlaub in Blenheim und die Stadt langweilt Dich.“

„Ich bin aus Deutschland und bleibe für ein Jahr. Miss Hays ist die Lehrerin des Kurses. Ich mache den Einsteigerkurs bei ihr.“

„Dann sind wir auf der gleichen Schule. Ich kenne den Kurs von Miss Hays. Habe ich auch mal gemacht. Bin aber seit einer Weile im Schwimmkurs. Miss Hays fängt im Mountainbiking immer klein an. Sehr gut ausgebaute Straßen zuerst, dann steigert ihr Euch langsam. Erst gegen Ende des Jahres fahrt Ihr die richtigen Offroad-Straßen mit Wurzeln und Steinen. Insofern könntest Du guten Gewissens ein Hardtail-Rad nehmen. Da ist das Hinterrad zwar nicht gefedert, aber bei den gut ausgebauten Straßen macht das nichts aus. Das reicht völlig aus und die Preise sind auch bezahlbarer als bei den anderen Rädern.“

„Der Preis ist ein gutes Argument. Was kostet mich so ein Rad denn?“

„Das hängt stark von der Marke ab und davon, ob das Rad aus Carbon gemacht ist. Wenn das der Fall ist, dann wiegt das Rad viel weniger. Wir haben hier ein gutes Modell für…Lass mich das in Euro berechnen. Etwa 900 Euro.“

Ich schluckte. Das würde ein riesiges Loch in mein Budget reißen. Kreditkarte hin oder her.

„Das ist ganz schön teuer“, quetschte ich etwas verschämt zwischen den Lippen hervor. Jetzt dachte er, ich wäre geizig.

„Das ist es auch. Wir haben ein gebrauchtes Hardtail-Rad. Wenn Dir das nichts ausmacht. Das würde Dich etwa 400 Euro kosten. Es ist noch sehr gut in Schuss. Ich habe es repariert, damit es wieder wie neu aussieht. Möchtest Du es ansehen?“

„Ja sehr gerne.“ Das Rad hörte sich gut an, auch weil er es repariert hatte.

„Dann komm mit. Das Rad steht noch im Hof.“

Er drehte sich um und ich folgte ihm. Weiter hinten im Raum sah ich eine Tür, durch die wir in eine Art Flur kamen mit drei Türen. Mein Berater, dessen Namen ich noch nicht kannte, öffnete die linke Tür und wir traten auf einen lichtdurchfluteten geteerten Hof, der von hohen weiß getünchten Mauern umgeben war. Dutzende Fahrräder standen an der uns gegenüberliegenden Mauer in Reih und Glied. Wahrscheinlich warteten sie auf ihre Reparatur. Davor standen drei Fahrräder auf dem Sattel. Neben ihnen lagen Werkzeuge. Es war weit und breit kein Mensch zu sehen. Mein Berater ging zur langen Fahrradreihe, nahm sich das erste Fahrrad und schob es mit graziösen, eleganten Schritten zu mir zurück. Im Sonnenlicht sah er noch besser aus als im dunklen Laden. Seine Haut schimmerte olivbraun. Seine grünen Augen funkelten durch lange schwarze Wimpern. Braune Locken umrahmten das schön geformte, markante Gesicht. Er hatte etwas von einer altgriechischen Statue, die jedoch in Jeans und T-Shirt aus dem 21. Jahrhundert gehüllt war. Noch nie hatte ich einen so schönen Mann außerhalb der Fernsehwelt gesehen. Versteinert stand ich da und hatte mir das Rad von ihm holen lassen, obwohl ich ihm hätte folgen können. Aber dann hätte ich diesen Anblick verpasst.

„Das ist das Rad. Willst du es Probefahren?“ Oh Gott, wie sollte ich das Rad bloß fahren können, wenn mein Körper gegen jegliche Bewegungsabläufe rebellierte?

„Ja klar, gerne“, presste ich heraus und während er den Sitz auf meine Höhe verstellte, sagte ich zu mir selbst: Nimm das Rad und fahre, Sophie. Er ist auch nur ein Mensch wie Du. Nur ein Mensch.

„So, das müsste von der Höhe her reichen. Probiere es mal aus. Im Hof kannst Du eine Runde drehen“.

Ich griff nach dem Lenkrad und schwang mich auf das Rad. Da ich ihn nicht mehr sah, beruhigte sich mein Puls wieder und ich konzentrierte mich auf das Fahren. Das Lenkrad fühlte sich ungewohnt an. Das Fahrgefühl war ganz anders als bei dem Cityrad, das ich zu Hause hatte. Aber ich konnte mir gut vorstellen, damit auf jeden Hügel hochzukommen, sollte ich irgendwann die nötige Kraft dazu haben. Als ich die Gangschaltung betätigen wollte, fiel mir auf, auf was ich mich da eingelassen hatte. Egal welche Knöpfe ich drückte, es fühlte sich einfach nicht besser an und ich gab auf. Am Ende des Hofes drehte ich um und nun sah ich seine Gestalt immer näher kommen. Die Sonne war jetzt direkt hinter ihm und ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, nur seine Haare leuchteten wie ein Heiligenschein. Ich hielt vor ihm an und streckte die Hand wie einen Sonnenschutz über meine Augen.

„Gibt es für die Gangschaltung ein Handbuch?“, fragte ich lächelnd.

„Leider nicht“, lächelte er zurück. „Aber alle 27 funktionieren noch. Ich zeige es Dir, wenn Du das Rad nimmst. Das Rad ist fahrtüchtig, das versichere ich Dir. Wenn Du Probleme hast, komm einfach zu uns, wir geben Dir ein Jahr Garantie.“

„Ok, danke. Dann nehme ich das Rad.“

„Gute Entscheidung. Nimmst Du es gleich mit?“

„Ich glaube schon. Hinten im Jeep müsste genügend Platz sein.“

„Er packte das Rad und ich öffnete beide Türen, die uns wieder in den Laden führten. An der Kasse stand eine aufgebrachte Stephanie. Sie schien sich auch nicht zu beruhigen als sie mich und den Verkäufer sah.

„Wo warst Du? Was war los?“, fragte sie beunruhigt.

„Ich habe ein Rad im Hof Probe gefahren. Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.“

„Du hättest ja Bescheid sagen können. Ich habe Dich überall im Laden und dann im Einkaufszentrum gesucht. Ich dachte, Du hast Dich verlaufen oder so. Macht ja nichts, Du bist ja wieder da.“ Richtig erleichtert sah sie aber nicht aus.

„Ich werde das Rad nehmen. Ist zwar gebraucht, aber gut in Schuss. Was hältst Du davon?“

„Es ist rot! Wirklich schön, man sieht ihm nicht an, dass es schon gebraucht ist.“ Während sie sprach, waren ihre Augen auf meinen Berater gerichtet. Was ich gut verstehen konnte. Aber im Gegensatz zu mir sah sie nicht von ihm eingenommen aus. Ihr Blick war eher ängstlich, eine Spur aggressiv sogar. Wir hatten wohl einen unterschiedlichen Männergeschmack oder sie war immer noch aufgelöst, weil sie mich nicht finden konnte. Wirklich blöd von mir, dass ich ihr nicht Bescheid gesagt hatte, bevor ich in den Hof verschwand. Ich zog meinen Geldbeutel heraus und reichte meinem Berater die Kreditkarte. Als ich die Quittung in der Hand hielt, bedankte ich mich und sagte: „Ich heiße übrigens Sophie. Vielleicht sieht man sich ja mal in der Schule.“

„Bestimmt, Sophie. Ich heiße Nate. Viel Spaß mit dem Rad. Ach ja, ich wollte Dir ja noch die Gangschaltung zeigen.“

„Ohne die Schaltung komme ich nicht weit.“

Nate erklärte mir alles und ich versuchte so gut es ging, ihm zuzuhören. Stephanie stand immer noch skeptisch gegen die Wand gelehnt und starrte uns sprungbereit an. Als Nate seine Lehrstunde beendet hatte, gingen Stephanie und ich schweigend aus dem Laden hinaus.

„Bist Du mir noch böse, Stephanie? Es tut mir echt leid, dass ich Dir nicht Bescheid gegeben habe. Soll nicht wieder vorkommen.“

„Ich habe mir echt Sorgen gemacht. Hat sich der Typ im Hof wenigstens gut verhalten?“

„Ja klar. Er war sehr nett.“

„Das ist ja mal was ganz Neues“, prustete sie lakonisch.

„Kennst Du ihn etwa?“

„Er ist auf unserer Schule und gehört zu der Gang, vor der ich Dich gewarnt habe.“

„Er sieht gar nicht nach einer Gang aus.“

„Tun sie alle nicht. Aber trotzdem haben sie es faustdick hinter den Ohren. Halte Dich in Zukunft einfach fern von ihm.“

Die ganze Sache klang mehr als sonderbar. Nate sah nicht aus wie einer der dealt oder seine Mitschüler in den Schwitzkasten nimmt, um sie um Geld zu erpressen. Auf seinen Unterarmen hatte ich auch keine Einstichlöcher gesehen, also nahm er auch keine harten Drogen. Was könnte an ihm so gefährlich sein, dass man sich von ihm fernhalten müsste? Abgesehen davon, dass er umwerfend gut aussah, fiel mir nichts ein. Vielleicht sehen alle in der Gang so fantastisch aus wie Nate und die Blenheimer Eltern verbreiten böse Geschichten, um ihre Kinder zu schützen. Ich konnte mir bei dem Gedanken ein Lachen kaum verkneifen. Stephanie schaute mich forschend an und ich setzte eine ernste Miene auf.

„Zumindest habe ich ihn verstanden, als er mit mir sprach. Das ist schon ein Triumph für heute. Wahrscheinlich war die Kassiererin im Outdoorladen eine besonders schlimme Vertreterin des neuseeländischen Dialekts“, wechselte ich unbemerkt und nonchalant das Thema.

„Bestimmt. Lass uns ins Café gehen. Jessica und Paula warten bestimmt schon.“

Das „Home Café“ hätte genauso gut in Frankfurt stehen können. Draußen standen einige moderne Tische mit Holzbänken. Als ich später im Café auf die Toilette ging, fand ich die Inneneinrichtung noch geschmackvoller als die Möbel, die davor standen. Hier würde ich mich eindeutig wie zu Hause fühlen. Ich schmunzelte. Der Name des Cafés war gut gewählt. Stephanies Freundinnen saßen draußen und warteten auf uns. Der Spruch „zeig mir Deine Freunde und ich sage Dir, wer Du bist“ traf auf Stephanie zu. Jessica und Paula waren eine blonde und braunhaarige Ausgabe von Stephanie. Beide trugen T-Shirts, Shorts und Flipflops. Sie plapperten viel und schnell, was mir sprachlich etwas Probleme bereitete, aber es war lange nicht so schlimm wie bei der Kassiererin. Je länger ich den dreien zuhörte, desto mehr begriff ich das Muster, nach dem das neuseeländische vom britischen Englisch abwich. Die Vokale sprachen die Neuseeländer viel länger aus als die Briten und das „e“ hört sich häufig wie ein „i“ an. Das Kurioseste war aber, dass sie häufig von einer „sie“ sprachen, meinten aber keine real existierende Person, sondern ein „es“.

„Die Südinsel ist der Härtetest für Ausländer. Im Norden sagt man, hier wohnen die „Hinterwäldler“, die einen breiteren Dialekt sprechen als die Bewohner der Nordinsel“, klärte mich die blonde Jessica auf.

„Na super, man wächst bekanntlich mit seinen Aufgaben“, scherzte ich zurück.

„Du hast für Deine erste Begegnung die härteste Nuss in Blenheim ausgesucht. Faith vom Outdoorladen rollt auch noch das „r“, weil ihre Vorfahren aus Schottland stammen. Auf der Südinsel gibt es viele Leute wie Faith. Aber hier in Blenheim nur ihre Familie“, beruhigte mich Paula.

„Also, keine Sorge, Du wirst es schon packen“, lächelte mich Stephanie an.

Je mehr ich ihnen zuhörte, desto mehr Hoffnung schöpfte ich in sprachlicher Hinsicht und auch in sozialer. Mit den drei Mädchen und Nate kannte ich nun schon vier Leute, die auf meine Schule gingen. Das war ein guter Anfang. In der untergehenden Sonne glitzerte alles in einem rosafarbenen Licht. Das war eindeutig besser als der Schneematsch in Frankfurt.

Sophies Erwachen

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