Читать книгу Die Nann - Anna Croissant-Rust - Страница 5
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ОглавлениеFür die Juli begann nun ein hartes Leben; sie hatte gehofft, dass der Vater, wie immer, auf das Zimmern ausgehen und sie mit Anderl und der Kleinen allein lassen würde. Sie hatte sich das recht schön gedacht, so allein im Häusl wirtschaften zu dürfen, wo doch der Anderl gut folgte und die grossen Schwestern fort waren, die immerfort Zank und Unfrieden stifteten. Aber da wurde nichts daraus. Der Vater bestand darauf – was er nie getan hatte – das Heu selber zu machen und mit Anderl und mit ihr herunterzubringen. Obwohl er in der Nähe Geschäfte hatte, merkte sie sehr wohl, dass er nicht gehen wollte, sondern sich einrichtete, ein paar Wochen zu Hause zu bleiben, wahrscheinlich, damit die beiden Schwestern nicht wieder hereinkamen. Sie arbeitete ja gern und hätte mit Anderl so nach und nach alles in Ordnung gebracht. Aber wie der Vater arbeitete! Von früh bis nachts wurde sie gehetzt. Hatte sie die Frühsuppe gekocht und das Vieh versorgt, so blieb ihr kaum Zeit, die Nann zu richten und ihr Nahrung zu geben, gleich musste sie Nachkommen zum Mähen, zum Wenden, zum Einführen. Wenn’s zu lange dauerte, rief sie ein Pfiff des Vaters zur Arbeit; kam sie dann nicht gleich, schlug er sie. Es war, als übertrage er den Groll, den er gegen die Nann hegte, auf ihre Wärterin. Dabei sollte gekocht sein, wenn der Vater Hunger hatte, und draussen sollte sie auch mithelfen, besonders zur Zeit des Heuens. Der Vater liess ihr keine Stunde, wo sie hätte aufräumen und säubern können; kam er aber des Abends heim mit Anderl, der keuchend und schwitzend hinterdreintrabte, so begehrte er auf, wenn nicht alles in Ordnung war. Dabei musste die Juli alles für die Nann heimlich tun; des Nachts, wenn ihr beinahe die Augen zufielen, musste sie noch für die Kleine waschen oder ihr noch etwas kochen – –. Den ganzen Tag blieb die arme Nann oft in der Kammer allein, und viele Male hörte die Juli das Kind weinen und durfte nicht von der Arbeit weg.
Es zuckte ihr in den Fingern, sie hätte alles hinwerfen und zu ihr laufen mögen, wenn sie sich nur vor dem Vater getraut hätte. Nie fragte er nach dem Kinde, die kleine Nann hätte ebensogut tot sein können. Wenn er sie schreien hörte, sah man ihm den Groll über das Dasein dieses kleinen Wesens an, das ihm nur Schande und Spott gebracht hatte und das in seinem Hause vor ihm verräumt und versteckt werden musste. Die Juli durfte sich nicht einmal getrauen, die kleine Wäsche aufzuhängen, denn er warf sie zu Boden, schalt und fluchte und trat mit den Füssen darauf herum. Sie konnte sich oft nicht mehr helfen, beständig gehetzt, beständig in Aufregung, immer in Angst vor dem Vater, immer gescholten – sie setzte sich untertags hin, vollständig stumpf und gleichgültig, und selbst wenn der Vater gekommen wäre, würde sie sitzengeblieben sein. Mochte er sie hauen, mochte er sie totschlagen, dann war’s doch wenigstens aus! Da hatte es ja der Anderl noch besser, der machte halt seinen Trab fort, wenn er auch einmal seinen Fusstritt oder seine Maulschellen bekam, er machte es deshalb nicht schneller, er weinte nicht, er widersetzte sich nicht, er ‚stellte seinen Buckel auf‘, wie der Vater sagte, wie wenn ihm das von allem helfen könnte. Manchmal brachte das verstockte und scheue Wesen Anderls den Vater freilich so in Wut, dass er ihn schlug, bis ihm der Arm wehtat. Allerdings weinte der Bub auch da nicht, er kroch nur hinauf in die Kammer zur Nann, setzte sich neben die Wiege, und indem er diese sanft in Bewegung setzte, erzählte er dem kleinen Diandl alles, was ihn drückte, wie’s ihnen ging, ja er redete sich oft in eine ganz blutrünstige Stimmung hinein und sprach vom Erschlagen und Erschiessen.
Die Kammer, in der die kleine Nann mit der Juli schlief, war überhaupt eine Zufluchtsstätte für die beiden Kinder. Wollten sie dem Vater aus dem Weg gehen, weil er seinen Zorn hatte, so liefen sie über die Stiege in die Kammer, denn da waren sie sicher vor ihm, dahin kam er niemals. Manchmal versuchte die Juli, die kleine Nann ins Freie zu bringen, aber dann musste sie wie gejagt vorauslaufen, wenn der Vater in Sicht war, und nicht nur das Kind, sondern auch die Wiege mit fortnehmen, denn gerade der Anblick der Wiege versetzte ihn in die fürchterlichste Wut. Er stiess sie um, dass die Bettstücke nur so flogen, im Haus krachten dann die Türen, und die Kinder verkrochen sich.
Die kleine Nann aber gedieh in der Atmosphäre von Zorn und Zank und Zittern und Angst. Wie eine Blume blühte sie in der Kammer auf. Weiss und rot, die feinen Härchen in lauter Ringeln über der Stirn. Die Malseinerin konnte sich nicht genug wundern, wie das Kind gedieh, wenn sie manchmal auf ein Viertelstündchen heraufkam. Gewöhnlich brachte sie Hansi mit, der immer sehen wollte, ob denn die Nann noch nicht laufen könne.
Wenn die Malseinerin hereinkam, ging der alte Anderl gewiss zur Türe hinaus. Was hatte denn jemand von Malsein da heroben zu tun? Nur des Mahnens zur Arbeit halber kam die Malseinerin nicht. Ihre Reden schmeckten ihm schon gar nicht, die konnte es noch besser wie der Pfarrer. Jedesmal wusste sie etwas andres. Einmal, dass er Moidl wieder nehmen müsse.
„Aha, sie wird dir z’viel,“ lachte er höhnisch.
„Na, nit weil sie mir z’viel ischt, aber weil sie da zu wenig ischt. Siehscht es du nit, dass die Juli si’ zu Tod schindet, kannst du das anschaug’n?“
Ein andermal sagte sie ihm, er hätte die Pflicht, nachzusehen, man höre nichts Gutes von Kathl, die in Patsch einen Dienst gefunden.
„Geaht mi niacht an und geaht di niacht an,“ fertigte er die Bäuerin ab. Aber als sie ihm gar damit kam, sie wollte heute die Nann mitnehmen und ganz bei sich behalten, da fuhr er sie wütend an: „Unterschteah di! Überhaupt, du bleischt draussen aus mei’m Haus; i will di nimmer sehg’n!“
Die sonst so resolute Bäuerin ging, ganz erschrocken über sein wüstes Aussehen.
Von nun an traf sie Juli nur heimlich, tröstete sie: „Schau, wenn er wieder auf Arbet geht, werd’s besser,“ oder sie steckte ihr heimlich etwas zu.
Das Heu war eingebracht, sie hatten viel in diesem Jahre bekommen, im Feld war das Nötigste getan, aber der Alte ging noch immer nicht aus dem Hause. Die Arbeit drängte, die Leute schickten um ihn, er sass noch immer herum, suchte da und dort etwas auszubessern und zu flicken, es war, wie wenn ihn dies traurige Haus, in dem man keinen Morgen- und Abendgruss kannte und eines dem andern kein gutes Wort gönnte, gehalten hätte.
Stundenlang konnte er vor dem Ofen sitzen und auf den Boden stieren, oder er begann ein Wandern vom Keller zum Speicher, vom Speicher zum Keller, durch alle Stuben, wie wenn er jemand suche. Juli hörte ihn oft laut reden dabei: ‚Narr, Narr, alter Narr!‘, oder sie sah, wie er mit den Armen um sich schlug, als wehre er jemanden ab. Der Vater, den sie bis jetzt nur gefürchtet hatte, wurde ihr jetzt unheimlich, und als sie ihn einst leise wie einen Dieb in die Kammer schleichen sah, in der die Nann lag, stürzte sie voller Schrecken nach:
„Voda, was tust?“
Der Vater stiess sie aber nur zur Seite und ging wieder zur Türe hinaus, ohne ihr zu antworten.
Als sie ihn nun auch in der Nacht treppauf und treppab wandern hörte, sagte sie bei der Frühsuppe – freilich wurde sie blutrot dabei und wollten ihr die Worte nicht aus dem Halse –: „Wenn der Voda du’ auf die Arbet gang, i han koan Kreuzer mehr, und ’s Brot ischt aa gar.“
Anderl duckte sich vor Schrecken zusammen, dass die Juli so etwas wagte, und meinte, jetzt würde der Vater aber zuschlagen. Doch der sass ganz still, starrte nur vor sich hin, wie wenn er nichts gehört hätte; nach kurzer Zeit sahen aber die Kinder, wie er sein Handwerkszeug zusammensuchte und in den Wochensack packte, wie er die Breithacke auf die Schulter nahm und talabwärts ging.
Nun sollte es aber anders werden, nun wollten sie sich freuen! Anderl machte ein paar Bockssprünge, hielt aber gleich verdutzt und wie beschämt wieder inne; die Juli klatschte in die Hände dazu und fing an zu lachen. Aber auch sie gab’s bald wieder auf. Wie denn? Sie hatten doch lustig sein wollen, tanzen und sich freuen, und nun gingen sie still an ihre Arbeit, fast so still wie früher, fast so scheu wie früher. Erst allmählich gewöhnten sie sich daran, dass sie allein waren, dass sie arbeiten konnten wie sie wollten und sich Rast vergönnen durften.
Anderl hatte es ganz verlernt, sich um die Nann zu kümmern, er machte sich gar nichts mehr aus ihr, ja er hatte sogar einen versteckten Groll auf sie, den er der Juli feige verbarg, denn er fühlte heraus, dass der Vater immer ‚so viel zornig‘ gerade wegen der Nann war und dass er viel davon entgelten musste. Bei der Juli war es umgekehrt; je erbitterter ihr der Vater geschienen, desto mehr behütete und beschützte sie instinktiv die Kleine.
Jetzt konnte sie sie endlich heraustragen, im Gras liegen lassen, wo sie vor Vergnügen krähte, oder sie mit der Wiege unter einen Baum stellen und ihrer Arbeit nachgehen. Seit der alte Kuchler der Malseinerin die Türe gewiesen, kam auch Hansi nur flüchtig und nur verstohlenerweise herauf. Er musste jetzt schon tüchtig bei der Arbeit anpacken, denn da kannten Vater und Mutter keinen Spass, und des Abends nach Feierabend, wenn er Zeit gehabt hätte, kam auch der Kuchler-Anderl wieder zurück.
Das hatte der Alte allerdings sonst nie getan; sonst übernachtete er stets auf den Höfen, wo er arbeitete, aber jetzt war ihm der Gang von Malsein her und später sogar von der Alm herunter nicht zu weit und zu beschwerlich.
Wie sollte denn das im Winter werden? Die Juli zerbrach sich den Kopf. Wo sollte sie denn die Nann unterbringen? Die Kammer war nicht zu heizen; wenn sie das Kind auch untertags in der Stube haben konnte, was sollte sie des Nachts damit anfangen? – –
Es wurde Herbst, sie brachten das Grummet heim und bereiteten auf den Winter vor, der Vater kam noch jede Nacht heim. Er redete keins mehr an, er zankte keins, er schlug sie nicht mehr, aber er jagte Anderl aus der Kammer und schlief allein dort, und jede Nacht riegelte er sich ein. Doch was Juli das ärgste war und was sie mit aller List vor Anderl zu verbergen suchte: der Vater betrank sich, was sie nie vorher bei ihm gesehen. Sie fand oft die leeren Schnapsflaschen, sie merkte es, wenn er zur Türe hereintrat, dass er torkelte, und sie fürchtete ihn mehr denn je, wenn er mit den glasigen Augen in irgendeinem Winkel hockte.
Anderl richtete schon seinen Holzschlitten her, denn die ersten Fröste waren gekommen, und die Blumen standen schon lange, von den Fenstern weggenommen, im Erker und in der Kammer, der Himmel war grau und schwer, wie wenn er Schnee bringen wollte, der Vater kam noch immer heim, ja er ging zuletzt auch am Morgen nicht mehr weg, sondern blieb sitzen und schaute zu, wie’s unaufhörlich leise und langsam zu schneien begann. Wie ein weisser Vorhang, immer dichter fielen die Flocken vor den Fenstern herunter.
Und so schneite es drei Tage fort, fast bis zu den Fenstern ging der Schnee. Dann riss der Wind auf einmal einen kleinen Fleck blauen Himmels auf, ein Zacken, eine weisse Spitze schauten grell beleuchtet, ganz unwirklich, ganz geisterhaft aus dem Grau; in der Nacht trat starker Frost ein, der Wind orgelte ums Haus, der Himmel war auf einmal wie ausgekehrt und die Mondsichel stand scharf und weiss über den Bergen.
Die Juli hörte, dass der Vater in der Nacht aufstand und herumkramte. Sie hatte die Nann zu sich ins Bett genommen und getraute sich nun nicht zu schlafen, aus Furcht, sie zu erdrücken; gegen Morgen schlief sie aber doch ein und wurde erst durch ein lautes Klopfen an der Kammertüre geweckt. Der Vater? – „Steh auf, Suppen kochen!“ schrie er draussen. Im Nu war sie auf, und bald brannte ein tüchtiges Feuer in der Stube und stand die Schüssel dampfend vor dem alten Kuchler.
Die Fenster waren bis hoch hinauf gefroren, und die Stube wollte lange nicht warm werden. Während der Nacht hatte der Vater gepackt, einen grossen Wochensack voll, sein Handwerkszeug, Schneereifen und Steigeisen lagen bereit. Ging er jetzt endlich fort? Und für lange? Nachdem er seine schwere Joppe genommen, legte er etwas Geld auf den Tisch. „I geah furt,“ sagte er.
„Bleibt der Voda lang aus?“
„I woass es nit.“
„Wo soll ma’ Poscht hintun, bald was g’schieht?“
„Braucht’s nit.“
Und ohne ‚Behüt Gott‘ stolperte er fort, in den grauen Morgen hinein.