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4.

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Wer nach Sonnenuntergang außerhalb der festgesetzten Zeiten auf Zehenspitzen in den ersten Stock hinaufgegangen wäre, ohne aus Achtung vor der Stille und dem Halbdunkel in Ottones Haus das Licht anzuknipsen, hätte sich plötzlich von Abwesenheit überflutet gefühlt: abwesend er selbst, tausend Meilen entfernt vom Motorenlärm der Straße, den brennenden Scheinwerfern, den hastigen Schritten. Die private Stunde, um die die frei habenden Schwestern im Supermarkt den Abend organisieren oder unter der Dusche singen oder ihrem Giancarlo aus der Küche mit lauter Stimme Befehle erteilen.

Wer wie die Enkelin Giulia um diese Zeit die Lichter der Stadt ins Haus der Großeltern hätte bringen wollen und in die bewohnte Etage hinaufgestiegen wäre, in der Hand ein paar Trauben zum Sofortessen, hätte zuerst einige Schritte zurück machen müssen: dort in der Wohnung rückwärts gehen, auf dem Treppenabsatz stehenbleiben, um auf die Fußmatte neben den leeren Sandalen der Schwestern zu treten; und vor den offen gelassenen Türen gehorsam den Diebstahl der Nacht überwachen, in die Nacht eintauchen: um sich vorher wiederzufinden, die Stadt auszulöschen, sich wiederzufinden vor dem Licht, vor dem Lauf, dem Hunger, der Stimme.

Giulia hatte einige Schritte rückwärts getan, war über die leeren Sandalen gestolpert, stand nun auf dem Treppenabsatz und spürte als Erstes, wie die Locken auf ihrem Kopf erschlafften, spürte, wie sie sich an die Stille gewöhnten; sie merkte, wie die in ihren Händen noch lebendigen Trauben in der Tüte schwiegen, wie ihr Atem anhielt, flacher wurde, trocknete, bis er diesseits der vergessenen Stadt, diesseits der beleuchteten Geschäfte und blendenden Scheinwerfer den vertrauten Hauch der Wohnung wahrnahm: stagnierend, ausgestopft, aufgepfropft, in dem sich die Großeltern, solange es sie gab, seit jeher in aller Vertrautheit wiedererkennen mussten.

«Seid ihr da?», fragte Giulia auf dem Treppenabsatz.

Die Frage hätte unbeantwortet bleiben können.

«Natürlich sind wir da», ertönte Ottones Stimme aus der Dunkelheit; tief wie die eines Schlafenden, aber zur Antwort bereit wie die eines Wachpostens.

«Das hätte noch gefehlt, dass wir nicht da sind», sagte er tadelnd, indem er die rasch angeknipste Taschenlampe auf die Schuhe der Enkelin richtete, Marke Puma Cielo, «Gott sei Dank sind wir da und wohlauf, jedenfalls du und ich.»

«Beim Pferd bist du gewesen?», erkundigte er sich dann, sich an Julias Leidenschaft erinnernd, und erwies sich als Komplize des Pferdes, das im Stehen schläft.

Er dämpfte die Stimme, um Adelaides Ruhe nicht zu stören, undeutlich erkannte man das reglose Weiß nebenan. Ottone schlief also ruhelos im Stehen, wachte über Adelaides Schlaf und zugleich über seinen eigenen.

«Hast du wirklich nicht geschlafen?», versicherte sich Giulia, selbst aus der übergreifenden Trägheit herausschlüpfend.

Doch schon hatte Ottone, um Adelaide nicht zu erschrecken, zwei oder drei Kerzen auf dem Tisch im Wohnzimmer angezündet, und von der Antike wohlberaten in Bezug auf Giulias späten Besuch, hieß er die Enkelin kein bisschen verwundert am Tisch Platz nehmen, um ihr über die Papiere, die Wörterbücher, die Scheren und die neben der Krawatte gestapelten Päckchen hinweg die schon angebrochene Keksschachtel hinzuhalten.

«Bediene dich», sagte er, «alles für dich vorbereitet.»

«Dabei komme ich doch sonst nie um diese Zeit vorbei», staunte das Mädchen, im Kerzenschein die knochigen Hände des Großvaters betrachtend, die im Ausgleich zu der Unordnung still auf den Papieren lagen. Auch die Augen verschluckten die Falten, blickten direkt auf Giulia und auf die Wand hinter Giulia: um dort im Halbdunkel zwischen den Rissen, den feuchten Flecken und den Bildern das heil gebliebene Fresko zu lesen, das noch ganz zu entdecken war.

«Schminkst du dich etwa?», erkundigte sich der Großvater unvermittelt, erschüttert von so viel Rosa, reiner aufgemalter Fleischfarbe auf Giulias Gesicht: die sich geschickt zwei Weinbeeren in den Mund geschoben hatte und gleich darauf noch zwei, um sie zu schlürfen wie Wasser, spaltbares Wasser.

«Wasch sie», befahl Ottone, ohne die Antwort abzuwar­ten, überrascht von dem plötzlich ausgebrochenen Durst an seinem Tisch, «wenn es Trauben sind, dann wasch sie, hat dir niemand beigebracht, dass man Trauben vor dem Essen wäscht?»

«Gut, mache ich», sagte das Mädchen gehorsam, sich zur Küche wendend, «aber vorher erklär mir, woher du von meinem Kommen wusstest.»

«Tu quoque – auch du», musste sich der Großvater sagen, als er aus der Forderung der Enkelin die schon ganz weibliche Erpressung heraushörte.

«Siehst du», fuhr Ottone fort, indem er auf dem Tisch Fakten und Antworten sammelte, «heute Nachmittag ist schon der Klempner da gewesen, ich habe ihn erwartet, und er ist gekommen: ernst, tüchtig, in kürzester Zeit hat er die Waschmaschine wieder in Gang gebracht. Er ist auch noch jung», sagte er unwillkürlich, als er Giulia wieder entdeckte, «ein paar Jahre älter als du, ich habe ihm die Kekse angeboten, und er hat sie hier an diesem Tisch gegessen. In den Kosovo will er dann gehen, als Freiwilliger, sechs Monate lang, um dort seinen Militärdienst zu leisten, er wird mit den anderen in einer Baracke leben, ohne Freundin, bewaffnet. Tapferer junger Mann: Ich habe ihm gesagt, er soll mir seine Adresse dalassen, damit ich ihm wenigstens ab und zu ein Päckchen Schokolade oder Kekse schicken kann. Aber nimm auch du, nimm nur, es ist genug für alle da.»

Er hob die halb volle Schachtel hoch, um sie der aufgestandenen Giulia anzubieten, die, durch ihre Jugend im Recht, über Ottones Worte hinweg geräuschvoll ihre Traubenbeute verzehrte.

«Wasch die Trauben gründlich, bitte, geh und wasch sie.»

Und während man in der Küche das Wasser rauschen hörte, fielen Ottone zwei Worte ein, die er rasch einem schon gedachten Gedanken hinzufügen wollte. Er nahm einen Bleistift und schrieb sie auf den erstbesten Umschlag, der ihm in die Finger fiel, kritzelte zwei weitere im Zwielicht, als Giulia schon mit den letzten gewaschenen Weinbeeren zurückkam: gelassen, groß geworden, weise.

«Schreibst du?», erkundigte sie sich mit Adelaides Stimme.

«Ach, nichts», wehrte der Großvater ab und schob den Umschlag schnell unter die Papiere, «mir waren ein paar Worte eingefallen, die habe ich mir notiert.»

«Soll ich dir Licht machen?», schlug Giulia vor und näherte sich dem Schalter.

Ihre Locken, an der Wand vergrößert, glichen einer Wolke.

«Lass nur, für Adelaide ist es gut so.»

«Worte eines Satzes?»

«Ein Satz» – er blickte sich um –, «ein angefangener Satz wird da schon sein auf einem dieser Stühle.»

Mit weit ausholenden Gesten wies er auf die Sitzflächen: Überladen, rutschig, bargen sie den Satz.

«Irgendwo hier fängt er an», versicherte der Großvater, Herr der Umgebung, zu seiner Umgebung sprechend.

«Habe ich etwas mit dem Satz zu tun?», fragte das Mäd­chen argwöhnisch.

«Der Fluss hat damit zu tun, kleine Münzenfische im Fluss; oder vielleicht Steine, Beigaben von Steinchen im Grabmal.»

Die Adelaiden

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