Читать книгу Sinka Mensch - Anna Kordsaia-Samadaschwili - Страница 6

Оглавление

Es war einmal zu meiner Zeit eine Stadt, deren Einwohner, besonders diejenigen, welche jenseits des Flusses lebten, beim Leben ihrer Mutter, bei ihrem Gewissen und dem Vaterland schworen, dass unsere Stadt die schönste der Welt sei und hier Dinge passierten, von denen andere Städte nur träumen könnten.

Mag ja sein.

Ich habe auch andere Städte gesehen. Es waren alles schöne Städte, man kann nichts Gegenteiliges sagen, aber wissen ist besser als sehen: Mir ist diese, unsere, immer am liebsten gewesen. Schließlich bin ich ja auch eine von jenseits des Flusses, mal vom einen, mal vom anderen Ufer.

Am Flussufer erzählte man sich tausend Geschichten: dass das Wasser aus dem Felsen entspringe, man solle das Gesicht damit waschen und dann werde man zu einem Mädchen, vor dem die ganze Stadt niederknien würde. Wenn man den Flusssirenen lausche, könne man wunderbare Dinge von ihnen erfahren, die seien allerdings entweder gelogen oder wahr. Die Sonnenbräune in unserer Stadt sei nicht nur schön, sondern auch sehr gesund, steig aufs Dach, wärm dich auf und du wirst dir hundert Jahre lang weder eine Erkältung einfangen noch einen Mückenstich, heißt es. Und der Mann, den du einfach für einen Mann hältst, ja der, der ist in Wirklichkeit …

Und wir, die ganze Weiberschaft des Viertels, rieben unsere Gesichter wie die Verrückten an den moosbewachsenen Felsen, und es wirkte tatsächlich. Stellt euch vor, wenn es das Wasser der Schönheit nicht geben würde, wie wir dann aussähen?! Ich kenne so viele, die den Sirenen auf den Leim gegangen sind, dass mein Leben nicht ausreichen würde, um alle aufzuzählen, und dank der herrlichen Sonne meiner Stadt kriege ich keine Erkältung und mich sticht keine Mücke. Niemals.

In einem haben die Leute jenseits des Flusses sich aber geirrt: Ich habe diesen Mann nie einfach für einen Mann gehalten. Wenn ein Mann zwei Augen hat, beide himmelblau und trotzdem verschiedenfarbig, ist das schon eine gefährliche Sache. Noch dazu war er Dichter. Ach komm … der war nicht einfach ein Mann.

Der Mann erzählte ständig irgendwelche Geschichten, von der Stadt, von den Sagen der Sirenen und den Neuigkeiten, die die Krähen des Geteilten Gartens überbrachten. Ich habe sie mir angehört und weitererzählt. Jetzt will ich Folgendes tun: Ich erzähle euch das, was der Mann mir erzählt hat; wer es ihm erzählt hat, weiß ich allerdings nicht. Das hat er mir nicht gesagt.

Seine Geschichten, an die ich mich erinnere, erzählen vom vergangenen Jahrhundert, außerdem sind sie von einem »Jenseitigen« und Dichter überliefert, und vielleicht nicht ganz glaubwürdig.

Sinka Mensch

Подняться наверх