Читать книгу Sinka Mensch - Anna Kordsaia-Samadaschwili - Страница 9

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Klein sind sie alle süß

Lasst nicht auf die Neujahrstanne

unsre kleine Eliso,

denn sie ist, da sind wir sicher,

Kind des Bösen sowieso.

Volkslied

»Dieser Kotiko ist ein verdorbener Typ«, scherzte Data.

Sie saßen wieder im Hof unter dem Feigenbaum und tranken Schnaps. Es war schon spät in der Nacht, wieder eine heiße, wundervolle Nacht. In Sotschi gibt es tatsächlich dunkle Nächte.

»Der Vater von dieser Prokowjewna war ein Händler der ersten Gilde, der strotzte vor Geld. Die Tante meiner Frau hat’s mir erzählt, die sind befreundet, sie ist auch so ein Drachen, Gott möge mir verzeihen … Ihr Vater, der Arme, war ein guter Kerl, angeblich hat er der Universität Gold gespendet, georgische Studenten zum Studium ins Ausland geschickt, was weiß ich. Jedenfalls war er ein Guter. Später hat er Angst bekommen, und zwar ordentlich, als man ihm mit Frau und Kind im eigenen Haus nur ein Zimmer zuwies und sie das Plumpsklo benutzen mussten, da war er total verstört. Er hatte sich wahrscheinlich gedacht, der Arme, ich ändere einfach meinen Nachnamen, eine andere Nationalität gab’s noch obendrauf und er wurde zu Marlenidse, Marx-Lenin. Er wurde trotzdem erschossen, wie ein Hund. Obwohl er kein Aufrührer war. Den Sohn haben sie dann auch abgeholt und weggebracht, die Schwester meiner Schwiegermutter hat’s miterlebt, das war während des Krieges. Er war auch ein verängstigter Mann, plattfüßig und kurzsichtig, tat keinem was zuleide, er sammelte Briefmarken und blieb für sich … Die Prokowjewna hat auch so einen geheiratet, einen Briefmarkensammler. Der ist im Krieg geblieben, wo, weiß kein Mensch.«

»Zu der würde ich auch nicht zurückkommen«, sagte Data. »Überleg mal, zurückkommen? Zur Prokowjewna?!«

»Niniko …«, sagte Aleksi.

»Die war sehr klein, wie konnte der Mann denn wissen, was aus ihr werden würde. Wer weiß schon, was aus wem wird. Schaut Data an, der wusste auch nicht, wen er aufzieht, oder hätte er sonst Suriko und Temiko aus dem Geburtshaus nach Hause gebracht?«

Data seufzte.

»So ist es doch. Klein sind sie alle süß.«

Sie schenkten nach.

So ist das also …, dachte Aleksi. Hat man so was je gehört?

»War es bei euch auch so?«

»Was?«, fragte Kotiko. »So was wie Data habe ich nicht durchgemacht, Gott beschütze mich vor Suriko und Temiko …«

»Was fragst du uns aus?« Data musste über Aleksi lächeln, aber dieser war nicht beleidigt, im Gegenteil, er lächelte selbst.

Data hob das Glas:

»Ich würde mal so sagen, und Kotiko wird mir beipflichten, das weiß ich genau: Wir haben keine Ahnung, was für ein Leben du gelebt hast und was wie gelaufen ist. Wenn dir danach ist, wirst du es uns erzählen, wenn nicht – dann nicht. Ich weiß nur, und Kotiko auch, dass es uns jetzt hier gut geht und das ist gut so. Was will man mehr … Was wir drei für Leute getroffen haben und was für Lebensgeschichten wir gehört haben … Wenn wir die alle mit uns herumgeschleppt hätten, hätten wir die an der ersten Biegung abgeworfen, wie Pferde das tun. Sei es wie es sei, jetzt geht es uns gut. Als du gesagt hast, ich komme mit nach Georgien – solche Sachen habe ich hundertmal so dahingesagt, einfach so, ohne dass etwas dahinter war. Nicht aus Bosheit, nur einfach so, ich hab’s gesagt, was soll’s. Aber das mit Niniko ist eine wichtige Angelegenheit. Sie ist das beste Mädchen, das ich je gesehen habe, so ist es, und Kotiko ist derselben Meinung. Überleg’s dir. Sag uns, was du dir überlegt hast, und dann überlegen wir zusammen, ob wir nach Georgien gehen.«

Aleksi überlegte. Auf der einen Seite gibt es Aleksi Mensch, den Mann, der aus einem Bezirk mit Hungersnot weggelaufen und im Kinderheim aufgewachsen, obdach- und namenlos war. Auf der anderen Seite Niniko …

»Sie ist die Tochter eines Toten und einer Tollwütigen, jetzt mach mich nicht verrückt!«

Keine Ahnung, woran es lag: an der heißen Nacht, dem trüben Schnaps der Hausherrin oder der ersten Liebe oder daran, dass Aleksi Mensch erstaunt feststellte, dass er im Laufe seines ganzen Lebens das erste Mal so lange mit Männern gesprochen hatte – kurzum, niemand weiß, wie es dazu kam, aber Aleksi fing an zu erzählen, redete drauflos.

Data legte die Krücke auf den Boden, Kotiko stützte die Ellbogen auf den Tisch und Aleksi erzählte. Es war eine sehr heiße Nacht, dunkel, wunderbar.

Jedenfalls, in weiter Ferne …

Der Zug fuhr, ratterte, erzählte er, schon ein paar Tage lang. Der Ausblick ändert sich nicht.

Eile, eile, Zug, sonst kommt der Winter und Sinka erkältet sich, Sinka wird einfrieren und sterben, und wenn Sinka stirbt, stirbt auch der kleine Junge, weil er Sinka so sehr liebt wie seinen Augapfel.

Eile, kleiner Junge, du musst vor Winteranbruch in Georgien ankommen.

In Georgien, hat Opa gesagt, ist es immer warm. Es gibt viel zu essen. Wir werden dort hinfahren und ich werde rufen: Schnell, bringt Sinka eine Teigtasche! Mit Fett, Kichererbsen und anderen Sachen drin. Womit? Das wirst du sehen, wenn wir ankommen, Sinka. Was für Teigtaschen sollte Sinka denn jetzt gebracht bekommen, Sinka sitzt unter dem Zug, über dem Rad, und seit einigen Tagen rollt schon der Zug, rattert, der Ausblick ändert sich nicht, der kleine Junge und die kleine Sinka sehen nur die Schienen.

Manchmal hält der Zug an und der kleine Junge rennt los, um etwas zu besorgen. Mit eingeschlafenen Beinen ist der erste Schritt schwer, doch dann läuft er schneller und schneller, wie der Wind saust er und bringt immer etwas mit. Keine Teigtasche, aber immerhin, hier, schau, Sinka, und schau, noch mehr …

Werden wir Georgien denn erkennen, wenn wir es noch nie gesehen haben? Wir werden uns doch nicht irren, wir werden es doch erkennen? Ja, antwortet der Junge, ja, Opa hat gesagt, wenn wir dort sind, merken wir das auf jeden Fall. Dann wird Opa selber nachkommen und wir decken eine große Festtafel, ich, du und Opa, und unsere Tafel dort in Georgien wird so groß sein, dass wir uns einander kaum hören können und rufen müssen wie im Wald.

»Hey, Opa, hey!«, ruft Sinka manchmal, und der kleine Junge hört sie nicht, aber er sieht, was sie ruft, und dann ruft er selbst: »Hey, Opa, hey!« Und Sinka sieht ihn rufen.

Danach schauen sie wieder auf die Schienen und der Zug fliegt dahin.

Eile, eile, Zug!

»Und dann?«, horchte Kotiko auf.

»Dann hielt er wieder an, ich sprang raus und lief zu den Frauen, schnell, schnell, ich dachte, ich hol mir was aus den Körben, ich war sehr flink, zweifellos. Nur, dass dann die junge Frau auftauchte, die war auch flink, die hielt meine Hand fest und schrie los, und die Frauen stürzten sich alle auf mich, ich konnte mich einfach nicht losreißen …«

»Und der Zug fuhr ab …«

»Ja.«

Data schenkte nach und schaute auf die Flasche.

»Die wird nie leer.« Kotiko zündete sich eine an.

Sie tranken.

»Vielleicht ist sie ja wirklich in Georgien angekommen?« Kotikos Stimme versagte.

Aleksi nickte.

»Ich wurde von Kinderheim zu Kinderheim gereicht. Ich hab nicht gesprochen. Mein Opa hat mir eingetrichtert, egal was kommt, ich solle keinen Mucks sagen, sie würden den Dialekt erkennen und mich zurückschicken. Und so haben sie mich weitergereicht, die ganze Wolga entlang. Sinka könnte im Heim nicht leben, nicht einen Tag würde sie überleben. Sie würde auch nicht in Georgien ankommen. Sie war sehr klein und ausgehungert.«

Sinka Mensch

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