Читать книгу Sinka Mensch - Anna Kordsaia-Samadaschwili - Страница 7

Оглавление

Aleksi Mensch ging in die Geschichte ein

Aleksi Mensch ging in die Geschichte ein. Davon hat er nichts erfahren. Würde er auch nicht, denn über einem vom Volkskommissariat für innere Angelegenheiten der UdSSR am 25. Mai 1938 in Moskau ausgegebenen Befehl zur »Verhinderung von Verfehlungen in Kinderheimen im Umgang mit Kindern repressalienbetroffener Eltern« stand unmissverständlich geschrieben: »Streng geheim«.

In dem Befehl stand so einiges. Sehr schlimme Dinge. So schlimme Dinge, dass vor ihrem Hintergrund Aleksis Abenteuer nicht erwähnenswert wäre: Wie es hieß, »wurden im Kinderheim Borkow im Kreis Kalinin zwei achtjährige Mädchen von Heimbewohnern aus der älteren Gruppe vergewaltigt. Die Erzieher des Heimes ließen die Kinder einander zur Strafe verprügeln«. Aleksi war zwar weder ein Kind repressalienbetroffener Eltern, noch hatte er die Vergewaltigungen angezettelt – er hatte etwas anderes verbrochen: Er war ausgerissen, hatte am Flussufer Teer geschnüffelt –, doch Aleksi wurde trotzdem zum Schläger und Geschlagenen: Ein Erzieher wettete auf ihn. Und verlor. Aleksi, normalerweise ein ordentlicher Raufbold und, wenn es darauf ankam, unberechenbar wie eine Bestie, war erstarrt. Der Erzieher war jedoch überzeugt, er hätte das absichtlich getan, und verpasste ihm die Abreibung, die der Gegner hatte vermissen lassen. Nach diesem Geschehnis landete der Heimbewohner Mensch, blutüberströmt und zerschlagen, zunächst im Krankenzimmer des Kinderheims, wo man feststellte, er sei am Leben, und dann in der Bude des versoffenen, hinkenden und missgelaunten Straßenfegers, der feststellte, er habe ein zertrümmertes Bein, sei aber am Leben. Er werde zwar sein Leben lang hinken, genau wie er selbst, aber er sehe doch, dass er lebendig sei und auch er leben werde.

Jenen Mann vergaß Aleksi nie. Was andere Dinge betraf, gab er sich Mühe und es gelang ihm tatsächlich, alles zu vergessen, nicht aber den Straßenfeger – niemals. Der wortkarge, gebrochene Mann mit gebrochenem Körper zog das Akkordeon hervor und sang schlecht:

В тридцать третем году

всю поели лебеду.

Руки, ноги опухали,

умирали на ходу …

Im Jahre dreiunddreißig

haben wir den giftigen Gänsefuß aufgegessen

Arme, Beine schwollen uns an

wir starben beim Laufen …

Der Straßenfeger brachte Aleksi wieder auf die Beine und schenkte ihm ein Akkordeon.

Wenn man Verkrüppeltsein als Glück bezeichnen kann, hatte Aleksi Glück gehabt. Als Krüppel wurde er nicht in den Krieg eingezogen, hatte aber Papiere und ein Akkordeon; jenes Heimkind Aleksi Mensch aus dem Kinderheim Borkow im Kreis Kaliningrad, das in Wirklichkeit weder Aleksi mit Vornamen noch Mensch mit Nachnamen hieß – aber er würde das nie erwähnen! – also, jener Aleksi Mensch spielte und sang, er sang für die Kämpfenden, die Verwundeten, die Sterbenden und die Überlebenden, er spielte und sang in Vorzeigekinderheimen, auf Feiern, Schulfesten, und er sang immer für junge Mädchen, die selbst nach zwölfstündiger Plackerei eher schlecht als recht, aber immerhin zurechtgemacht und immerhin junge Frauen, einen zwar hinkenden, aber lächelnden und, was die Hauptsache ist, männlichen Menschen anlachten, der das Akkordeon voller Leidenschaft spielte, und siehe da – der erste Akkord und Aleksi legte los:

»Meine Damen und Herren! Jungs und Mädels! Ich bin Aleksi Mensch. Dieses Akkordeon heißt Raviata. Als es jung war, hieß es Traviata, aber dann brach der erste Buchstabe ab und ging verloren. Deshalb heißt es Raviata, das beste Akkordeon der Welt …«

Später, sehr viele Jahre später, sah Aleksi im Kino vor Beginn des eigentlichen Filmes einen völlig uninteressanten, lehr- und erkenntnisreichen Kurzfilm, in dem hie und da Zeichnungen zum Leben erwachten. Eine davon kam Aleksi bekannt vor, erinnerte ihn an etwas, oder ihm wurde etwas klar oder er sah etwas, was er zwar ständig vor der Nase, aber doch nicht bewusst erkannt hatte, so etwas in der Art. Da war die runde Erde, ein Ball, von Schienen durchzogen, und dieser Ball drehte sich, Tannenbäume und mehrstöckige Häuser waren zu sehen, wuchsen und verschwanden wieder, und auf diesen Ball trat ein Mann, ein Akkordeonspieler, lächelnd, einen Hut in den Nacken geschoben, mit hohen Schnürschuhen, wie sich das gehört, und er zog das Akkordeon auseinander, sang und brachte die Erde zum Drehen oder die Erde brachte ihn zum Drehen, aber so viel kapierte Aleksi nun auch wieder nicht.

Das war nichts Besonderes, denn auf jedem Plakat war ein lustiger Akkordeonspieler und fast alle Filme fingen mit Schienen an, und wer Akkordeon spielt, ist immer unterwegs, was sonst – doch Aleksi wusste, dass er etwas Bedeutsames gesehen hatte.

Dieses Bild hatte er später oft vor Augen. Er dachte nach. So viel, dass er am Ende der Meinung war, irgendwer habe genau sein Leben gemalt. Er sprach nicht darüber, er dachte einfach nur nach und erfreute sich daran, und er freute sich, dass er auf der Erde wandelte.

So kam es, dass er überlebte und alles ihm gehörte: Erde, Schienen und Akkordeon.

Und ebenso Frauen.

Die Frauen, die jungen und die nicht ganz so jungen, die hübschen und die einigermaßen hübschen, die ruhigen und die dummen – sie alle liebten Aleksi Mensch und Aleksi liebte sie. Aleksi liebte Frauen. Tausendmal mehr als Männer. Frauen taten nicht das, was Aleksi am meisten hasste, sie fielen ihm nicht zur Last, wurden nicht böse, stritten nicht, jedenfalls taten sie ihm wirklich nichts zuleide und auch Aleksi musste ihnen nicht zur Last fallen oder mit ihnen streiten. Sie lachten schallend, waren glücklich und dankbar. Auch Aleksi war dankbar. Aleksi gelang es, niemals irgendjemanden zu kränken. Manchmal dachte er zwar, etwas könnte sie gekränkt haben und sie zeigten es bloß nicht, aber das war nur ein kurzer Gedanke, der nicht mal so unangenehm war, dass er vergessen werden sollte. Und die Erde drehte sich und Aleksi sang und die Mädchen tanzten, mal mit Jungs, mal mit Freundinnen oder auch mal allein, und ihre Kleider wirbelten und ihre Augen glänzten.

Herrlich!

Ein toller Mann, dieser Akkordeonspieler!

Sinka Mensch

Подняться наверх