Читать книгу Colours of Life 3: Nebelschwarz - Anna Lane - Страница 8
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And hear you not the thrushes calling,
Calling us away?
O Cool Is The Valley Now– James Joyce
Crys
Die Wolken rollen über den nachtschwarzen See wie ein unheilvolles Omen, das für mich bereits zu spät kommt. Ich habe mich bereits seit einiger Zeit gefragt, wann es so weit sein wird. Wann sie mich dazu zwingen werden, meine Gabe einzusetzen.
»Wieso ich?« Mein Atem beschlägt die Scheibe. Die steinernen Wände der Abtei, die einem Teil des russischen Militärs als Unterschlupf in Irland dient, halten die Wärme nur schwer in den Räumen. Mich fröstelt, und ich ziehe mir meine Strickjacke enger um die Schultern.
»Weil du etwas kannst, das sonst niemand kann.« Michails Stimme ist genauso dunkel wie die von Cam. Jedes Mal, wenn ich mit ihm spreche, würde ich mir am liebsten die Ohren zuhalten. Der Schmerz in mir ist zu groß und die Last auf meinen Schultern ebenso. Ich soll einen Krieg für Russland gewinnen? Dass Michail das überhaupt noch ansatzweise erwägt, müsste mich eigentlich in schallendes Gelächter ausbrechen lassen.
Nach außen hin bleibe ich ruhig. Denn meine Emotionen haben mich erst an diesen Punkt gebracht. Der Wunsch nach mehr als einem Verrotten in der Anstalt. Das tiefe Band zu meiner Schwester. Die Liebe zu Cam. Gefühle zu zeigen bringt mich nur in Schwierigkeiten. Und obwohl Michail der Vater von Cam, Riley und Liam ist, traue ich ihm nicht über den Weg. Bis jetzt haben weder er noch Cynthia mich in irgendeiner Form schlecht behandelt, genauso wenig wie die Handvoll von Vertrauten, die in diese Operation eingeweiht sind. Doch ich wusste, sie würden Forderungen an mich stellen, irgendwann. Wieso hätten sie sonst diese hohe Summe für mich bezahlt? Sicher nicht, um mir aus Nettigkeit die Freiheit zu schenken.
»Ich habe keine Wahl, nehme ich an.« Mit einem tiefen Seufzen drehe ich mich endlich zu Michail um, der zusammen mit Sergej an dem riesigen Esstisch aus Mahagoni sitzt. Vor ihnen sind Pläne von Dublin ausgebreitet, auf denen rote Kreuze und Pfeile eingezeichnet sind.
»In diesen Zeiten hat niemand eine Wahl, Crystal.«
In Gedanken korrigiere ich ihn.
Michails Stirn liegt in Falten, während er die Hände auf der Tischplatte verschränkt. »Wir müssen einen Feind nach dem anderen ausschalten. Und wenn wir Irland haben, stehen wir kurz vor dem Sieg. Hier hat der Krieg begonnen, und hier wird er auch enden. Verstehst du das? Eine Schlacht um die andere. Einen Sieg um den anderen. Schlacht und Sieg. Das ist unser Leitsatz, der uns hilft, nicht unterzugehen.«
Sergej bleibt wie immer stumm. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass er unsere Sprache nicht versteht oder ob er einfach nichts zu sagen hat. Hätte ich die Wahl, würde ich wohl auch den Mund halten.
Als ich nichts erwidere, fährt Michail fort: »Die Irish Army plant etwas Großes. Sie haben unseren Informanten umgebracht, bevor er irgendetwas Nützliches an mich weiterleiten konnte. Er ist spurlos verschwunden, Gott weiß wo sie seine Leiche verscharrt haben.« Er reibt sich über das Gesicht. »Wir müssen erfahren, was vor sich geht. Wenn wir ihnen zuvorkommen, können wir vielleicht dazu beitragen, dass der Krieg endet.«
Und dass Russland gewinnt, setze ich in Gedanken hinzu. »Ich bin nicht die Richtige, um diesen Krieg zu beenden. Es gibt tausende von Soldaten, die dafür besser qualifiziert wären.« Nur mal, um das Offensichtliche laut auszusprechen. Mir fehlt Kampferfahrung. Und Mut obendrein. Wieso will er mich also allein losschicken? Ich bin kein Spion, wurde nie vom Requiem ausgebildet.
Ich verschränke die Arme und nehme einen tiefen Atemzug. Eigentlich verlange ich nicht viel vom Leben. Ich will nur in Ruhe gelassen werden und, wenn ich ehrlich mit mir selbst bin, meine Wunden lecken. Den Schmerz verarbeiten, den ich über all die Jahre erfahren und zugefügt habe. Um ihm zuvorzukommen, um vielleicht irgendwie ein Stück von mir zu retten.
Doch als sich Michail an die mit rotem Stoff gepolsterte Rückenlehne lehnt, weiß ich, dass Widerspruch zwecklos ist. Das russische Militär hat sein Vorgehen schon festgelegt, und ich bin fixer Bestandteil des Plans. Wie lange wird es wohl dauern, bis er mir einen direkten Befehl erteilt, dem ich nicht widersprechen kann? Robert hat mir meinen freien Willen geraubt, und auch wenn ich mich jetzt der Illusion hingeben kann, dass es nicht so ist, dass ich über mich selbst bestimmen kann, ist es bloß eine Frage der Zeit. Vielleicht sind es nur mehr Stunden. Tage. Vielleicht Wochen - bis Michail mir sagt, was ich zu tun habe. Er wird es mit einer Bestimmtheit in der Stimme befehlen, wie sie auch gerade in seinem Blick liegt, als er mich betrachtet, und ich werde mich nicht wehren können.
Die dunkelgrüne Uniform lässt das Braun seiner Augen leuchten. »Die Irish Army darfst du dir nicht als eine Armee im großen Sinne vorstellen. Sie sind eine kleine Gruppe von Terroristen, gut organisiert, eng miteinander verbunden. Wir haben Männer von uns dahin geschickt. Viele. Doch immer wenn wir dort waren, waren unsere Ziele wie vom Erdboden verschluckt. Ein Mann von uns hat wochenlang in einer der Einrichtungen darauf gewartet, jemanden zu Gesicht zu bekommen. Nur ein Mann von uns war dort.« Er hält den Finger in die Höhe. »Einem von uns haben sie sich gezeigt, dann ist sofort der Kontakt zu ihm abgebrochen. Das war ihre Botschaft an uns.«
Ich schlucke. »Und wie soll ich, wenn der Soldat …«
»Du bist stärker. Deine Gabe kann Schaden anrichten. Und sie kennen dich nicht, du bist in keiner militärischen Datenbank. O’Leary hat mir versichert, dass sämtliche Daten aus der Anstalt zu deiner Person vernichtet wurden. Du existierst nicht mehr. In den nächsten drei Tagen wird man dich auf den Einsatz vorbereiten und dich anschließend nach Dublin bringen, an einen sicheren Ort, von dem aus du agieren wirst. Wir werden ein Auge auf dich haben. Dir soll nichts passieren.«
»Ich bin nicht die Richtige.«
»Du wirst uns in dieser Sache helfen. Du wirst die Informationen beschaffen.«
Da ist er, der Befehl. Irgendein Schalter legt sich um, und obwohl der Protest schon von meiner Zungenspitze springen will, fällt er wie gelähmt zusammen, bis ich die Worte runterschlucke. Ich versuche es noch einmal, ein klares Nein in Gedanken. Mein Mund öffnet sich, doch kein Wort dringt heraus.
»Das ist dann alles.« Als Michail mich entlässt, gehe ich ohne ein weiteres Wort aus dem Raum. Die Stufen ins Erdgeschoss. Vorbei an den wachsamen Augen einiger Soldaten einfach zur Tür hinaus.
Ich bin dankbar, dass sie mich lassen. Erst als ich draußen im Regen stehe und mein Gesicht zum Nachthimmel strecke, kann ich wieder ruhiger atmen. Die Tropfen auf meiner Haut waschen für einen wundervollen Moment jede Schuld von mir. Nehmen die Pein mit sich, als sie über mein Haar gleiten wie ein liebevolles Streicheln.
Ich will schreien, doch nicht einmal das geht. Der Widerwille ist in mir eingesperrt. In meinen Fingern, die meine Haare raufen wollen, aber nicht können. In den Beinen, die rennen wollen, um zu sehen, wie weit ich komme. Aber mein Körper ist gelähmt, mir entrissen, während mein Geist fast an seiner Wut erstickt. Dabei glauben sie, es ist Angst. Angst, die mich vor ihrem Auftrag zurückschrecken lässt. Aber nicht die Irish Army wirft ihre langen Schatten voraus, sondern ich.
Diese Dunkelheit in mir … Sie ist unheimlich, weil ich sie nicht einschätzen kann. Ist da noch irgendetwas von Crys übrig?
Nein. Ich habe keine Angst vor dem Krieg, nicht mehr.
Was ich fürchte, bin ich selbst.
Ace
Ich träume oft von Crys. Außer heute. Heute liege ich wach, und obwohl es fast schon Mitternacht ist, genieße ich die Ruhe in meinem Körper. Die Schmerzfreiheit, wenn meine Zellen sich zumindest für ein paar Stunden schlafen legen, damit sie am Tag darauf wieder gegen die Leukämie kämpfen können. Auch wenn mich Violets Wärme in meinem Bett beruhigt, bin ich froh, allein zu sein.
Ihre Gedanken haben eine Sanftheit an sich, die mich zur Ruhe kommen lässt. Aber es sind noch immer Gedanken. Gedanken, die in meinem Kopf widerhallen, als wären sie meine eigenen. Die von einer Verliebtheit erzählen, die ich erwidern will. Ich liebe Violet. Sie ist der Anker, der mich davon abhält, von mir selbst abzudriften. Aber ich liebe auch Crys. Und Crys ist so verlockend wie die Weite des Meeres, die ich nie ganz erkunden werde können.
Fast hätte mich der Duft von Violets Shampoo in den Fasern des Kissens in den Schlaf gelullt, doch Tylers Gedanken schneiden scharf durch meine Hirnzellen.
Mit einem Schlag sitze ich aufrecht im Bett. Die Wörter in meinem Kopf, die mir entgegenspringen, werden immer klarer, je näher er kommt.
Ich kann sie lesen, als kämen sie aus meinem hasserfüllten Inneren und nicht aus seinem.
Im selben Moment, in dem die Tür ohne ein Klopfen aufgeht, bin ich auf den Beinen.
»Wir müssen abhauen!«, zischt Tyler: »Wir wissen, wo Crys ist!»
Das Licht geht an, und ich wanke kurz. Die Helligkeit sticht in meinen Augen, und es dauert eine Weile, bis ich die Hand von meinem Gesicht nehme.
»Du siehst scheiße aus.«
»Gerade nicht unser größtes Problem, oder?«
Ein bitteres Lachen entfährt Tyler, während er zum Schreibtisch am Fenster geht und sich in den Stuhl davor fallen lässt. Seine Sporttasche lässt er achtlos zu Boden sinken, genau wie seine dunkelblaue Jacke. »Dieser Pack lügt nicht. So viel steht fest. Aber irgendetwas stimmt nicht mit ihm.« Seine Brust hebt und senkt sich in einem tiefen Einatmen.
»Ich soll ihn abhören.«
»Das machst du doch sowieso bei jedem. Also kannst du das auch bei ihm machen.«
»Unfreiwillig.«
Er zuckt mit den Schultern. »Unfreiwillig ist dein zweiter Vorname, was?« Ein schwaches Lächeln stiehlt sich auf sein Gesicht, das bereits nach ein paar Sekunden wieder verschwindet.
»Wieso zur Hölle wollen sie uns verkaufen? Carter hat kein einziges Mal daran gedacht.«
»Weil das Requiem auch nur ein Stall voller Schweine ist. Wir müssen verschwinden, bevor es zu spät ist. Ich will, dass du mir sagst, ob Helena schon die Dokumente über O’Learys Aufenthaltsort besorgt hat. Wenn nicht, dann mach ich’s.« Er setzt noch ein paar Schimpfwörter in Gedanken hinzu.
Ich verziehe das Gesicht. In den Köpfen anderer Leute herumzustochern ist eines der Dinge, die ich am meisten verabscheue. Eigentlich hätte es mir gereicht, jede Sprache der Welt zu verstehen. Aber leider ist das nur ein Extra zum Gedankenlesen.
Mit einem Seufzen lasse ich mich auf die Bettkante sinken und stütze die Arme auf den Knien ab. Je länger ich krank bin, desto schwerer fällt es mir, mich zu konzentrieren.
Es dauert ein paar Minuten, bis ich Helenas Gedanken lokalisiert habe. Augenblicklich legt sich ihre Traurigkeit auch über mich, wird zu der meinen, vermischt sich mit meinem eigenen Schmerz. Neptune. Ich beiße die Zähne zusammen, um ihr Innerstes nicht an mich heranzulassen. Denn es ist einfach, die Wut in Tylers Kopf abzuschütteln. Ich bin selten wütend. Aber Traurigkeit ist etwas, mit dem ich mich sehr gut auskenne. Die mir mittlerweile wie mein eigener Schatten bekannt ist, weil sie mich überall hin verfolgt. Denn die Wahrheit ist: Ich will nicht sterben. Nicht jetzt, und nicht an Krebs.
Ich will leben, damit ich das Ende dieses bescheuerten Krieges mitbekomme. Und genau deshalb gebe ich mir mehr Mühe, verkrampfe den Kiefer noch mehr, um meinen Verstand gegen den von Helena zu legen. Ihn einzuhüllen, bis er sich nahtlos in den meinen einfügt. Dabei fühlt sie nichts, meine Versuche bleiben für sie unbemerkt. Und ich? Ich fühle umso mehr.
Ich blinzle ein paarmal, dann sehe ich Tyler an. »Sie will sie heute Nacht holen.« Ich lausche. Helenas innerliche Unruhe packt mich, wird zu meiner eigenen. Mein Bein beginnt auf und ab zu wippen. »Es ging ihr schon mal besser. Sie ist abgelenkt.« Sie will Neptune beeindrucken. Insgeheim hofft sie aber auch, dass es ihm irgendwo anders besser gehen könnte. Nicht in dieser Stadt, in der ihn so viele kennen und in der er nie die Zeit kriegen wird, die er braucht, um sich zu erinnern.
»Scheiß Gefühle. So was musste ja passieren.« Tyler lässt seine Knöchel knacken und leckt sich über die Lippen. »Ich mach’s. Ich traue ihr nicht.« Genauer gesagt keinem von euch, setzt er in Gedanken hinzu. »Du kommst mit.«
»Aber was ist mit-«
»Keine Ahnung. Ich habe keinen verdammten Schimmer, was abgeht. Und was passiert, wenn wir diese Akte haben. Besser, du packst deine Sachen.«
»Violet?« Mir wird übel.
»Ich kann nicht Gedankenlesen. Woher soll ich wissen, ob er sie eingeplant hat?« Er schüttelt den Kopf, nimmt seine Sachen und geht zur Tür. Bevor er die Klinke runterdrückt, hebt er noch einmal den Kopf. Ein tiefes Einatmen hebt seinen Brustkorb. »Und es ist mir auch egal. Verdammt, ich will nur meine eigene Haut retten, klar? Immer dreht sich alles um Crys. Und was ist mit uns?« Er wirft einen kurzen Blick über seine Schulter zu mir. »Wann können wir endlich frei sein?«
Wann wirst du endlich frei von ihr sein?, setzt er in Gedanken hinzu, nachdem die Tür hinter ihm zugefallen ist und die Schritte sich hastig entfernen.
Ein kurzes, heiseres Lachen entfährt mir. Er weiß auch genau, was Sache ist.
Ein Zittern läuft mir den Rücken hinunter. An Schlaf ist nicht mehr zu denken, deshalb erhebe ich mich mühsam vom Bett und gehe zum Fenster. Draußen glänzen die Pflastersteine nass im Licht der Straßenlaternen. Meine Augenbrauen wandern zusammen. Crys. Ein tiefes Ausatmen lässt meine Schultern herabsinken. Erleichterung beginnt, sich in jeder Faser meines Körpers auszubreiten, und für einen Moment fühle ich mich nicht mehr krank, sondern hoffnungsvoll. Denn wenn Crys alles, das ihr widerfährt, überleben kann, kann ich es auch.
Ein sanftes Klopfen an der Tür lässt mich zusammenzucken. Zwischen all den Gedanken, die mir im Kopf herumwirbeln, habe ich ihre tatsächlich übersehen. »Komm rein.«
Violet tut alles sanft. Ihre Gedanken tragen Samthandschuhe. Sie spricht mit Ruhe und Besonnenheit und genauso behutsam schließt sie auch die Tür hinter sich.
»Was wollte Tyler?« Ihre Lippen, die mit ihrem hellen Rosa sofort anziehend auf mich wirken, als ich mich zu ihr umdrehe, sagen nicht das Gleiche wie die Wörter in ihrem Kopf. Sie macht sich Sorgen um mich.
Ich gehe ein paar Schritte auf sie zu und ziehe sie dann langsam an mich. Das satte Grün ihrer Augen leuchtet, und während sie zu mir hochblickt, weiß ich, dass ich verloren bin. An sie. An Crys. Und das ist verdammt verdreht.
»Wir wissen, wo Crys ist.« Meine Stimme ist so leise, dass ich beinahe denke, sie hat mich nicht gehört.
Dann weiten sich ihre Augen, und die ersten Tränen entwischen ihren Wimpern. »Seid ihr sicher?«
Ich nicke.
Das Lächeln, das sich auf Violets Gesicht ausbreitet, lässt auch mich grinsen. Wir umarmen uns. Fest. Ich drücke ihr einen Kuss auf den Scheitel.
Dann erstarre ich.
»Was ist?« Sie löst sich von mir und sieht mich mit gekräuselter Nase an.
»Wir müssen abhauen.« Ich lasse sie los und reiße meinen Rucksack aus dem Kasten.
»Ace? Was ist los?«
Mit zittrigen Fingern stopfe ich einige Pullover und T-Shirts wahllos hinein. Ich gebe mir nur eine Sekunde, um einen raschen Blick über die Schulter zu werfen. »Vertrau mir. Wir müssen verschwinden. Jetzt.«
»Was?« Violet starrt mich mit riesigen Augen an.
»Hol deine Jacke.« Sie rührt sich nicht. »Violet, jetzt!«, dränge ich sie.
Endlich verschwindet sie aus der Tür. Mit einem leisen Fluchen zerre ich mir ein dunkelblaues Sweatshirt über den Kopf. Verdammt.
Tylers Gedanken schreien noch immer laut. Nachdem ich die Jacke von meinem Schreibtischstuhl gerissen habe, bin ich auch schon zur Tür hinaus. Ganz von selbst findet meine Hand die von Violet, als sie neben mir auftaucht, und mit der anderen taste ich, ob ich auf die Schnelle wirklich die Medikamente gegen Schwindel und Übelkeit in meiner Jackentasche verstaut habe.
Wir stürzen die Treppe hinunter. Bis wir im ersten Stock angekommen sind, verschwimmen die Stufen vor meinen Augen, und ich bin froh, dass Violet keine Fragen stellt. Momentan erlaubt mir meine Lunge viel zu wenig Luft, um zu sprechen.
Plötzlich schießt Helena aus dem Gang zu unserer Rechten. »Schnell!« Beinahe verliert sie den Halt, doch sie presst weiter die Akte an ihre Brust.
Schritte nähern sich, und ich drehe mich um, während ich nach Luft ringe. Tyler stürmt auf uns zu.
Genau wie Carter.
»Was steht ihr rum? Nach draußen!« Das Blut auf den Knöcheln von Tylers Hand glänzt im Licht der Deckenlampen.
»Tyler! Ace!«, bellt Carter hinter uns.
Diesmal ist es Violet, die mich mit sich nach unten zerrt, aus meiner erschöpften Lähmung heraus.
»Hol Cam, ich komme gleich nach!« Tylers Brüllen geht in einem Keuchen unter, gefolgt von Faustschlägen und einem bedrohlichen Krachen.
Violets Finger winden sich immer fester um die meinen, doch ich kann erst in der frühlingskalten Nachtluft richtig atmen. Der Mond über uns ist strahlend hell, und für einen Augenblick fühle ich mich in der Zeit zurückversetzt. Damals, als ich Crys nachlaufen wollte, aber nur Cam sie einholen konnte. Doch diesmal ist es anders. Das spüre ich trotz meiner wankenden Schritte. Trotz des Zuschlagens der Tür hinter mir.
Plötzlich sind es nicht nur mehr Violets Finger, die mich stützen, sondern auch Tylers fester Griff um meinen Oberarm. Er keucht, während er einen kurzen Blick über die Schulter wirft. Noch folgt uns niemand. Dafür hat er gesorgt.
»Wir können nicht mehr warten. Scheiße!« Das Blut, das von seiner Stirn über seine Nase und weiter auf sein Kinn hinabläuft, trägt einen genauso bitteren Glanz an sich wie sein wilder Blick.
»Ist dieser Pack bereit?«, presse ich zwischen den Zähnen hervor. Wenn wir weiter in diesem Tempo rennen, kollabiert meine Lunge. Verdammt, ich will nicht in dieser Straße verrecken, beschwöre ich meine Beine, noch etwas durchzuhalten.
Beinahe krache ich zu Boden, als Tyler scharf in eine schmale Seitengasse ohne Licht einbiegt. »Hier rein.«
Er schleift mich über Stufen in den ersten Stock. Das einzige Licht in dem schmalen Gang kommt von – von einem Loch in der Tür? Oder zumindest dringt etwas Helligkeit durch die notdürftig davor befestigte Pappe.
Neptunes Gedanken springen mich sofort an wie ein aufgedrehter Hundewelpe. Bevor Tyler die Tür aufdrücken kann, wird sie schon von innen aufgerissen. Doch es ist nicht Sebastian, der sich bedrohlich vor uns aufgebaut hat, sondern Cam. Erst eine Sekunde später lässt er die Waffe sinken. »Was ist schiefgelaufen?«
Tyler lässt mich los und tritt ein. Violet und ich folgen ihm, und ich lasse mich auf das Sofa fallen.
»Ja, Helena, was ist schiefgelaufen?« Tylers Unterton könnte nicht schneidender sein. Er lässt sich an der Kante des Esstisches nieder.
Die Tür neben der Kücheninsel geht auf, und Neptune kommt heraus, die Haare auf einer Seite plattgedrückt. Er hebt die Hand, um nicht vom Licht der nackten Glühbirne über dem Esstisch geblendet zu werden. Nach ein paar Momenten lässt er sie wieder sinken, und sein Blick schweift durch den Raum.
Bis zur Wand neben dem Fenster, an der ein blonder Typ lehnt und uns ausgiebig mustert.
Mich nicht zu übergeben hat so viel von meiner Aufmerksamkeit eingenommen, dass ich ihn erst jetzt bemerke. Und auch Neptune tut es. Obwohl Pack ihm keinen Blick schenkt, streckt er sich ausgiebig, wodurch sich die Rippen unter seinem nackten Oberkörper deutlich abzeichnen. Wenigstens hat er mit seinem Gedächtnis nicht auch seine Persönlichkeit verloren – immerhin macht er sich gerade ernsthaft Gedanken, ob seine dunkelblaue Pyjamahose auch wirklich tief genug auf seinen Hüften sitzt, um Pack wenigstens eine winzige Reaktion zu entlocken.
Helena schweigt. Zumindest ihr Mund tut es. Auch wenn ich nicht ihre Gedanken lesen könnte, wüsste ich sofort, was los ist. Ihre Augen sprechen laut.
»Sie wollte das Dokument unter der Nase ihres Vaters klauen.« Tylers Augen verengen sich zu Schlitzen. »Wie dämlich muss man sein.« Sein gehässiger Tonfall geht mir durch und durch.
Und das war’s dann mit Helenas Geduld. »Es tut mir leid, okay?«, fährt sie Tyler an. »Ich wollte es ihm beweisen. Ich wollte ihm beweisen, dass ich mehr draufhabe, als er mir zutraut. Mehr als ihr mir zutraut.«
Neptune weicht ihrem anklagenden Blick aus.
Cam entfährt ein tiefes Seufzen, und er massiert sich die Nasenwurzel. In der anderen Hand hält er noch immer die Pistole. »Hier sind wir sicher. Wenigstens für einen Moment.« Seine Gedanken sind so träge wie seine gesamte Ausstrahlung. Träge ist das falsche Wort. Geschlagen trifft es eher. Obwohl die neue Hoffnung ihn zwingt, sich aufrecht zu halten, ist sein innerstes Ödland. Die Erschöpfung hat sich nicht nur in seine eingesunkene Haltung geschlichen, sondern in tiefere Schichten.
»Habt ihr die Akte?« Packs tiefe Stimme fährt mir in die Knochen. Ich höre ihn zum ersten Mal sprechen.
Bevor Tyler den Mund aufmachen kann, werfe ich ein: »Wieso kann ich deine Gedanken nicht lesen?«
Es ist wie bei Crys.
Pack zieht nur nachlässig eine Augenbraue in die Höhe. »Glaubst du wirklich, mein Vater macht mich nicht immun gegen die Fähigkeiten, die er durch seine Drogen in die Welt getragen hat? Er ist kein Idiot.«
Cam verzieht die Lippen.
»Warum kann ich dann deuten, ob du lügst oder nicht?« Tyler zieht die Augenbrauen zusammen.
»Lügen zu erkennen funktioniert anders als Gedankenlesen. Also? Habt ihr die Akte?« Sein Blick streift kurz mich, ehe er weiter zu Violet gleitet. Für einen Augenblick ruht er auf ihr, und ich festige meinen Griff um Violets Finger, ehe Pack Tyler ansieht.
»Wenn wir heute abhauen können, kriegst du sie. Besser gesagt jetzt, weil Carter uns sicherlich schon das gesamte Requiem auf den Hals gehetzt hat.« Tyler schüttelt den Kopf. »Hoffentlich ist der ganze Scheiß es wert.«
»Ihr seid aus dieser Anstalt entkommen. Und jetzt überlegst du wirklich, ob wegzulaufen es wert ist, deine eigene Freiheit zu behalten?« Pack lacht kurz auf und stößt sich von der Wand ab. Langsam geht er auf Tyler zu, bis er dicht vor ihm stehenbleibt. »Du weißt ja gar nicht, was da draußen abgeht«, raunt er.
Cam greift zu seiner Jacke und streift sie sich über. Die Pistole steckt er hinten in den Gürtel seiner schwarzen Hose. »Lasst uns verschwinden. Carter ist kein Idiot, irgendwann hat er uns.«
Pack bricht den Blickkontakt und sieht über Tylers Schulter zu Cameron. »Wir sollten uns aufteilen. Eine so große Gruppe fällt auf.«
Cam nickt zustimmend.
»Ich gehe mit Pack.«
Helena wirft Neptune einen scharfen Blick zu. »Wir gehen mit Pack.«
Cam und Tyler sehen sich an.
»Was? Habt ihr ernsthaft geglaubt, ich klaue für euch ohne Gegenleistung? Ihr nehmt mich mit.« Eine Feststellung, keine Frage.
Pack antwortet mit einem Schulterzucken: »Klingt fair.«
»Gut, dann gehen wir vier zusammen«, kommt es von Cam, und er nickt mir und Violet zu.
Pack nimmt seinen Mantel vom Haken und schlüpft hinein. »Wir treffen uns am Hafen. Wer in einer Stunde nicht da ist, wird zurückgelassen.«
Und kaum sind die Worte aus seinem Mund, sind alle auf den Beinen. Neptune verschwindet im Schlafzimmer und kommt wenig später in einer dunklen Jeans und einem roten Sweatshirt wieder heraus.
Cam atmet einmal tief ein und aus, ehe er an uns herantritt. »Lange nicht mehr gesehen.« Nur für Violet hat er ein kurzes Nicken übrig.
Mein linker Mundwinkel zuckt. »Siehst gut aus.«
Das entlockt ihm tatsächlich ein halbseitiges Grinsen. »Du auch.«
Und das war’s, er dreht sich zu Tyler um, dessen Wut gegen die Welt diesmal nur gegen das Requiem schlägt.
Das ist die erste Begegnung von Cam und mir, seit Crys verschwunden ist. In all den Wochen habe ich gedacht, dass ich ihn noch mehr hassen würde als zuvor. Weil er es nicht geschafft hat, Crys zu beschützen. Aber wo war ich damals? Was habe ich dafür getan, Crys zu retten? Jetzt spüre ich aber, dass es okay ist. Dass ich ihn nicht mehr hasse für etwas, für das ich selbst zu schwach war.
»Ich muss noch etwas erledigen.« Bevor einer von uns etwas erwidern kann, ist Tyler auch schon um die nächste Ecke verschwunden.
»Tyler!« Meine Stimme ist zu rau, um laut genug zu werden.
»Lass ihn. Es kann ihn sowieso niemand aufhalten.« Cam schüttelt den Kopf, und wir gehen in die andere Richtung.
»Können wir diesem Pack trauen?« Violets Stimme ist ruhig, während wir Seite an Seite durch das noch schlafende Edinburgh hasten.
»Er weiß, wo Crys ist. Haben wir eine Wahl?«
Ich drücke Violets Hand. Etwas lässt auch mich misstrauisch werden. Pack sucht uns. Pack hilft uns. Er organisiert sogar einen Transport nach Irland. Und er verlangt dafür was? Eine einzelne Akte?
Was sollen wir machen? Entweder wir verschwinden oder das Requiem macht mit uns, was es will. Verkauft uns in die entlegensten Gegenden der Welt, aus denen wir wahrscheinlich nie wieder zurückkehren würden.
Außerdem ist es die erste Spur, die zu Crys führt. Bei meinem nächsten Gedanken fährt mir ein Stich durch den Körper: Wir werden uns immer lieben, auf irgendeine Weise.
Nur dass dieser Stich nicht mit den Worten aus meinem Kopf zieht. Binnen einer Sekunde gewinnt er an Übermacht. Drückt mich zum Boden. Meine Beine können mich nicht mehr halten. Meinem Gehirn werden meine eigenen Gedanken zu viel.
Violet wird fast mit zu Boden gerissen. Ich habe keine Zeit, mich irgendwie zu fangen, bevor mein Schädel auf die Pflastersteine knallt.
»Scheiße, was ist mit ihm?« Camerons leises Zischen wird begleitet von seinen Händen, die sich um meine Oberarme schließen und mich grob in die Höhe zerren.
Sag es ihm nicht, flehe ich Violet stumm an.
Sie zögert.
Braves Mädchen.
»Er hat Krebs.«
»Was?«, entfährt es Cameron laut. »Wieso weiß ich das nicht?«
»Niemand weiß es. Er hat die Behandlung schon bekommen. Aber es braucht etwas Zeit, bis der Körper die Krankheit bezwingen kann, hat Willem gesagt.« Violet schlüpft unter meinen Arm und nimmt einen Teil meines Gewichts auf sich. »Das Medikament ist … heftig.«
Ich glaube kaum, dass meine Füße es schaffen, mein Gewicht zu tragen, wenn ich nicht mal meine Lider offenhalten kann. Mein ganzer Körper brennt.
Nicht wie Feuer.
Sondern wie die ganze Hölle in mir zusammengepfercht.
Und mit Cams gemurmelten »Verdammt, Ace« wird mir endgültig schwarz vor den Augen.