Читать книгу Tod an der Wallmauer - Anna-Lena Hees - Страница 7
ОглавлениеKapitel 1
Das Gewitter der Nacht hatte sich verzogen, und die Sonne bahnte sich ihren Weg durch die Wolkendecke. Bald war kein einziges Wölkchen mehr zu sehen, und ein weiterer schöner Sommertag lag über dem Ortskern des Trierer Stadtteils Pfalzel. Die Vögel zwitscherten in den Bäumen am Moselufer, und das kleine Dorf erwachte aus seinem nächtlichen Schlaf. In manchen Gärten sprangen die ersten Rasenmäher an. Entlang der ehrwürdigen Wallmauer waren bereits einige Jogger unterwegs. Was sich aber dort in der Nacht abgespielt hatte, wusste bis jetzt noch keiner. Es dauerte nicht sehr lange, bis ein Jogger sich eine Ruhepause gönnen wollte. Dieser Jogger hörte auf den Namen Ben Hansen, der zusammen mit seiner Frau schon seit einigen Jahren in Pfalzel lebte. Er war groß, hatte breite Schultern und schlanke, muskulöse Beine. Er hatte sehr kurzes, dickes Haar. In seinem Gesicht zeigten sich ein paar Stoppeln. Ben war bereits seit einer Stunde unterwegs. Nun war er völlig aus der Puste und lief ein Stück auf die Wallmauer zu. Unterhalb der großen Mauer fand sich eine asphaltierte Fläche, ebenfalls von dieser und einem niedrigeren Mauerstück umgeben. Über diese Fläche konnte man zu einer Gittertür kommen, die einem Zutritt zu einem dunklen Gang, einer der Kasematten unter der Anlage, gewährte. Diese Tür war allerdings die meiste Zeit verschlossen, sodass sich keine Menschenseele in die Geheimgänge der Befestigungsanlage verirren konnte.
Ben interessierte sich auch recht wenig für die Gittertür. Er wollte sich bloß auf das Mäuerchen setzen, um sich auszuruhen. Nichtsahnend kam er immer näher, und als er die Mauer erreicht hatte, fiel sein Blick auf eine Person, die auf dem Asphalt in einer Blutlache lag. Ben stockte der Atem. Er zitterte am ganzen Leib. Die leblose Person, auf die seine dunklen, tiefen Augen nun blickten, lag auf dem Bauch, sodass ihr Gesicht nicht zu sehen war. Ben stieg auf die Mauer und sprang auf den Asphalt, um die Person zu begutachten. Die Person schien weniger muskulös zu sein. Die dunkelbraunen Haare waren kurz geschnitten. Ganz vorsichtig drehte Ben die Person auf den Rücken und schlug sich die Hand vor den Mund. Er realisierte, dass es sich um einen Mann handelte, der nicht mehr lebte. Das rasierte Gesicht des toten Mannes hatte überall blutige Wunden, aus denen nun aber kein frisches Blut mehr strömte. Selbst aus den offenen, glasigen Augen schien Blut gequollen zu sein, weil davon Spuren erkennbar waren. Ben spürte, wie sein Herz heftig pochte.
»Ich muss die Polizei rufen. Schnell!«, sagte er mehr zu sich selbst und nahm sein Handy hervor. Eilig wählte er die Nummer der Polizei und schilderte detailliert den Sachverhalt. Danach sollte er so lange warten, bis die Polizei eintraf. Genauso lange musste er auch bei dem Toten ausharren. Erschöpft ließ er sich auf der Mauer nieder und hielt Ausschau. Die Polizei war zehn Minuten später vor Ort. Ben war erleichtert, als er die Polizisten auf sich zukommen sah. Hektisch winkte er ihnen zu.
»Hallo! Wie gut, dass Sie so schnell kommen konnten«, sagte er und wies mit einer Hand auf die Leiche.
»Guten Morgen, der Herr. Sie haben die Leiche gefunden?«, fragte ein großer, bärtiger Polizist und musterte den Toten.
Ben nickte. »Ja, habe ich. Ach, ich habe mich noch nicht vorgestellt. Hansen mein Name. Ben Hansen. In der Aufregung vergisst man so einiges.«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Hansen. Das kann schon mal passieren.« Der Polizist – Bruno Schmidt – klopfte Ben beruhigend auf die Schulter. Seine Kollegen hatten sich inzwischen dem Toten gewidmet und schauten diesen ganz genau an, um ansatzweise sagen zu können, was da passiert sein mag.
»Das sieht ziemlich übel aus«, sagte Brunos Kollege Dietfried Schwartz nach einer Weile. »Ich nehme an, dass er von der Mauer gefallen ist. Stellt sich mir bloß die Frage nach dem Warum. Auf jeden Fall müssen wir hier die Kollegen von der Kriminalpolizei hinzuziehen.« Schon sprach er in sein Funkgerät und nickte hinterher bestätigend.
Es dauerte auch gar nicht lange, da war der Wagen des Ermittlertrios um Ottfried Braun, Hermann Zinn und Sabrina Fass zu sehen, allerdings waren nur Ottfried und Hermann zu diesem Einsatz ausgerückt. Ottfried war der leitende Kriminalhauptkommissar in dieser Truppe. Er war schon etwas älter, 62 Jahre, hatte schon in anderen Städten viele Fälle gelöst und war immer noch fit wie ein Turnschuh. Sowohl seine Haare als auch sein voller Bart präsentierten sich in gräulichem Weiß. Seine großen, dunklen Augen lagen in tiefen Höhlen, strahlten aber sehr viel Wärme und Sympathie aus. Der Kommissar war kräftiger gebaut als der Rest der versammelten Männer. Über seiner beigen Hose wölbte sich ein dicker Bierbauch, der in ein gestreiftes Hemd gepresst war.
Eilig liefen die beiden Kriminalkommissare auf die Schutzpolizisten und Ben, den Jogger, zu und machten sich ein erstes Bild von der Situation. Dann fuhr ein weiteres Auto vor und hielt an der Wallmauer. Es war der Rechtsmediziner vom Institut Homburg; Herbert Meyer war sein Name.
»Eine Leiche?«, fragte er. Polizist Bruno Schmidt nickte langsam und machte den Weg zu dem Toten frei. Der Rechtsmediziner stieg auf das Mäuerchen und sprang hinunter auf die Asphaltfläche, auf der die Leiche lag. Er kniete neben dem Toten nieder und fühlte nach dem Puls der reglosen Person. Dann nickte er. »Ja, ich kann selbst nur den Tod feststellen. Kein Puls. Man sieht es auch seinen glasigen Augen an. Die Totenstarre ist auch schon vollständig eingetreten. Habt ihr schon eine Ahnung, wie er zu Tode kommen konnte?« Fragend schaute Herbert die Polizisten an, die ebenfalls um den Toten herum standen. Die beiden Schutzpolizisten zuckten zunächst die Schultern, dann ergriff Dietfried aber das Wort. »Ich nehme ganz stark an, dass er von der Mauer dort oben gefallen ist. Dass er erschossen wurde, kann ich mir nicht vorstellen, denn an ihm ist keine Schusswunde zu sehen. Eventuell hat ihn auch jemand erdrosselt oder zu Tode geprügelt und ihn dann hierher gelegt. Ich habe noch keine genaue Ahnung. Das müssen die Ermittlungen zeigen, vor allem aber auch die Obduktion, sobald die Leiche von der Staatsanwaltschaft dazu freigegeben wurde.«
»Das ist richtig«, bestätigte Kriminalhauptkommissar Ottfried Braun. »Dem Mann kann alles Mögliche passiert sein. Meine Kollegen und ich werden es herausfinden.« Mit einem Nicken betrachtete er Hermann. Der Kollege trug eine Brille; er war kurzsichtig. Sein Körper war recht schmal, dafür hatte er ziemlich große Hände, mit denen er immer wieder tatkräftig anpackte. In dem Moment meldete sich Herbert zu Wort: »Erdrosselt wurde der Mann hier nicht. Ansonsten hätte man es am Hals gesehen. Die Verletzungen lassen auf eine Schlägerei mit Todesfolge zurückschließen. Was es auch immer es war, die Rechtsmedizin wird es herausfinden.«
Ottfried wollte gerade etwas sagen, da trafen die Spurensicherer Manuel Frey und Elias Schneider ein, die von der Kriminalpolizei bereits verständigt wurden.
»Wir sind nun auch da. Mal schauen, was wir finden können.« Manuel und Elias nickten der Besatzung zu und machten sich ohne ein weiteres Wort an die Arbeit. Allein der Anblick der Leiche verriet, dass der Sturz von der hohen Mauer nicht auszuschließen war. So gingen die Spurensicherer in die Klosterstraße, in der sich einer der Eingänge der Befestigungsanlage befand. Den beiden Männern der Spurensicherung war schnell klar, dass die nun tote Person über die Klosterstraße auf das Gelände der Anlage gelangt war, denn das Tor stand noch immer sperrangelweit offen.
»Denkst du, was ich denke?« Manuel schaute seinen Kollegen vielsagend an. Dieser nickte.
»Ja, die Person muss auf jeden Fall von der Mauer gestürzt sein. Sonst wäre das Tor hier nicht aufgebrochen. Lass uns mal schauen gehen, was wir auf dem Gelände finden.«
»Ja, aber Moment noch.« Manuel griff nach seiner Lupe, die er nach jeder Arbeit desinfizierte, und betrachtete das Tor ganz genau. Noch konnte er keine Spuren erkennen, aber er war sicher, dass es sie geben musste, da die Person das Tor aufgebrochen haben musste. Das ging seiner Meinung nach nicht, ohne Fingerabdrücke zu hinterlassen.
»Kannst du was sehen? Die Nacht hat es geregnet. Nicht, dass der Regen irgendwelche brauchbaren Spuren vernichtet hat.« Elias blickte ein wenig skeptisch drein.
»Ja, das kann sein. Aber noch haben wir Hoffnung, doch was zu finden. Warte nur ab!« Manuel widmete sich wieder der Gittertür. Dann verkündete er lauthals das Ergebnis: »Da, am Türgriff. Hier hat die Person das Tor angefasst, um es irgendwie aufzudrücken. Ich konnte Fingerabdrücke erkennen!«
Kollege Elias zuckte wegen des lauten Rufes zusammen, fasste sich aber schnell wieder und bat seinen Kollegen, ihm die Lupe zu geben. »Zeig mal! Ich sehe mir das mal selbst an!« Mit den Worten nahm er die Lupe entgegen und prüfte das Tor ebenfalls auf die Fingerabdrücke. Tatsächlich konnte er sich davon überzeugen. »Du hast Recht! Da sind in der Tat Abdrücke zu erkennen. Ich will wissen, ob sie auch wirklich von dem Toten stammen. Komm mit!« Elias ging eilig voraus und stapfte einen schmalen Pfad entlang. Sein Blick fiel auf den Pavillon, dann auf die Mauer, von welcher der tote Mann auf den Asphalt gestürzt war. Neben der Mauer lag das Brecheisen. Elias’ Blick fiel darauf. »Manuel, komm schnell her! Ich habe was gefunden!« Sofort lief Elias zur Mauer, gefolgt von seinem Kollegen. Die Männer schauten sich das Brecheisen genau an. Da sie Schutzanzüge und Handschuhe trugen, konnten sie das Eisen guten Gewissens aufheben. Elias rief nach der Polizistentruppe und dem Rechtsmediziner, um ihnen das Brecheisen zu zeigen. »Der Tote muss von der Mauer gestürzt sein. Die Gittertür wurde aufgebrochen. Außerdem lag hier oben neben der Mauer dieses Brecheisen, von dem ich annehme, dass es für das Aufbrechen des Tores verwendet wurde.« Beinahe siegessicher stand Elias dort an der Mauer und blickte auf die Herrschaften unter ihm herab.
»Nehmen Sie die Zange bitte mit. Und sichern Sie weitere Spuren, die uns von der Kripo bei den Ermittlungen behilflich sein könnten«, rief ihm Ottfried zu. Elias nickte und reichte das Brecheisen seinem Kollegen. Auch dieses wurde gründlich auf Fingerabdrücke geprüft. Mit Erfolg. Es waren die gleichen Abdrücke wie auf der Gittertür. Die Spurensicherer waren sich einig. Kurz entschlossen machten sie sich auf den Rückweg und schauten beide zu Boden. Sie hatten den Eingang schon fast erreicht, da blieb Manuel neben einer Bank abrupt stehen. »Warte mal! Schau dir das dann! Hier, auf dem kleinen Stück Erde, das auf diesen Pflastersteinen zu sehen ist. Da sind Fußspuren!«
»Stimmt!« Elias nickte. Auch er sah jetzt die Fußspuren, die den beiden Männern zuvor nicht aufgefallen waren. »Und es sind nur diese. Keine weiteren! Das kann bedeuten, es war nur eine Person in der Nacht hier, falls nicht noch jemand anderes gekommen und um den Fleck Erde herum gegangen war. Unsere Spuren können es nicht sein, denn sie passen nicht zu unserem Schuhwerk.«
»Ja, stimmt. Noch können wir beide Varianten in Betracht ziehen.« Manuel nahm einen Teststreifen hervor und klebte die Fingerabdrücke auf dem Brecheisen damit ab. Er musste die Abdrücke sichern, um sie später der Kriminalpolizei vorlegen zu können. Daneben mussten auch noch einige Bilder von den Fußabdrücken gemacht werden, damit der Kripo bei den Ermittlungen ein Vergleich vorlag. Noch war nicht klar, von welchem Schuhwerk die Abdrücke auf dem Boden unter dem zweiten Torbogen stammten. Mit den Bildern und der genauen Betrachtung der Schuhe des Opfers konnte das aber schnell nachgewiesen werden.
Nach der erfolgten Arbeit kehrten die Spurensicherer zurück zum Tatort, an dem die Leiche lag. Inzwischen hatte der Rechtsmediziner ein weißes Tuch über sie gelegt. Zuvor hatten die Polizisten mit einem Stück Kreide einen Umriss um den toten Mann gezogen. Nun konnte er bald mitgenommen und in die Rechtsmedizin gebracht werden.
Die beiden Spurensicherer Elias und Manuel traten zu den Beamten der Kriminalpolizei und berichteten über den Fund auf dem Gelände der Befestigungsanlage. Dabei betonten sie, dass es sich bei den Fingerabdrücken und den Fußspuren allen Anscheins nach um die des toten Mannes handelte. Die Beamten der Kripo nickten daraufhin. Ihnen war bewusst, was das hieß. Während sich die zwei Spurensicherer mit den Kriminalpolizisten unterhielten, wurde der Tote in einen plastikartigen Sarg gelegt. Dieser wurde dann in den Wagen geschoben. Damit war die Leiche bereit zum Transport in das rechtsmedizinische Institut in Homburg.
Die Polizisten begannen unmittelbar nach der Abfahrt des Leichenwagens mit den Ermittlungen, ahnten aber nicht, dass der Tod des Mannes sie vor ein großes Rätsel stellte, dem noch weitere folgen sollten.