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II. Kapitel

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Sophie saß auf der Bank mit einer pompösen Schleife im dünnen Haar. Das sah irgendwie ulkig aus und war dennoch nicht als Belustigung gedacht. Das pompöse Ding schien im steten Fall begriffen, wanderte wundersam entschleunigt im Laufe eines Tages von ganz oben bis hintunter zu einem Ohr, hing dann da und trotzte der Schwerkraft.

In einem Akt unverhoffter Mütterlichkeit sollte Mia ihrer Tochter Sophie die Schleife ins Haar stecken. Während sie ihrem geliebten Sohn Paul herrlich aufwendige Uniformen nähte, ihn als Matrose verkleidete, zog sie ihrer Tochter hastig umgenähte Schürzen an. Und Strümpfe aus dicker Wolle, wegen denen sich das Kind unentwegt an den Beinen kratzte. Eines schönen Tages, niemand weiß warum, auch Mia nicht, als wäre ihr ein verirrter Blitz durch den Kopf geschossen, stand sie unvermittelt von ihrer Nähmaschine auf, ließ die halbfertige blaue Jacke für Paul liegen und eilte auf den Dachboden. Dort standen etliche große Truhen, voll mit ihren ausgefallenen Hüten und ihren prächtigen Kleidern, die sie längst nicht mehr anzog. Eine Truhe nach der anderen öffnend, suchte sie darin nach einem ganz bestimmten Stück Stoff, noch von vor dem Krieg, aus den vergangenen, heiteren Zeiten ihres Lebens. Ein übrig gebliebener Rest blau, weiß gepunkteter Stoff, aus dem sie sich ihr erstes Kleid genäht hatte. Sie sollte finden, wonach sie suchte, irgendwo ganz tief unten. Hier kramte sie auch nach einer alten Spange für die Haare. Zurück an der Nähmaschine machte sie aus dem Rest eine ominöse Schleife, mit der sie sodann die Spange verzierte. Nach dem letzten Handgriff ging sie mit dem Ding nach unten in den Garten und steckte es Sophie ins noch dünne Haar. Mitten auf den Kopf. Auf dem Absatz drehte sie sich um und verschwand, wie sie gekommen war, wieder im Haus.

Jeden Tag, früh am Morgen, nachdem sie das Kind gefüttert und angezogen hatte, brachte sie es raus in den Garten und setzte es auf dieser hölzernen Bank ab. Das sollte vollauf genügen. Die Beine reichten der Kleinen nicht bis zum Boden und also blieb Sophie dort sitzen, betrachtete ungerührt den Garten, stundenlang. Das war ihre ganze Welt, die sowieso immer nur ein Ausschnitt ist. Wobei dieser eingeschränkte Ausblick von der Bank aus gesehen noch ungemein unterhaltsam ausfiel, denn es war ein schier unglaublich belebter Garten, voller zwitschernder Vögel, krabbelndem, surrendem, raschelndem, noch nicht ausgestrobenem Getier, Schlangen, Schleichen, Echsen. An dem Garten, drüben auf der Straße, fuhr ganz manchmal laut ratternd ein Auto vorbei, öfter noch ein klackernder Pferdewagen, allerdings kaum sichtbar wegen den hohen Hecken und den Bäumen, von denen bisweilen polternd Obst runter fiel.

Der alte Mann neben Sophie auf der Bank war geradeso in aufmerksamer Betrachtung versunken. Dort saß auch er den lieben langen Tag in einer ausgedienten Postuniform von Edmund und rauchte Pfeife. Ob es regnete oder schneite, im Haus wurde seine Pfeife nicht geduldet. Der Rauch würde ungeheuerlich stinken, in jeden Winkel, jede Ritze eindringen. Oft genug verbrannte er gar keinen Tabak, sondern stopfte seine Pfeife mit anderweitigem Grünzeug, er hatte schon alles mögliche probiert, Eichenlaub, Kohlblätter, Unkraut. Im Garten wurde ihm ein kleines Fleckchen zugestanden, für seine Tabakpflanzen, aber die Ernte war selten gut. Deshalb, wenn es mal wieder eigenartig roch, kaufte Edmund ihm eine Dose Tabak und stellte sie unter die Bank. Sehr viel mehr schien er nicht zu brauchen, sowieso hatte er sein halbes Leben anspruchslos im Wald verbracht.

Nach der Beerdigung seiner Schwägerin, Edmunds Mutter, war er in dem Haus geblieben, niemand hatte ihn darum gebeten, er hatte nicht danach gefragt, letztlich war es auch sein Elternhaus. Von jetzt an schlief er in dem Bett seiner Schwägerin, er wäre zu alt, um weiterhin alleine im Wald zu hausen. Seit seine Ziege Wilhelmina gestorben war, fühlte er sich tatsächlich alt, weil ihm danach die Einsamkeit so schwer wog. Trotzdem wollte er nach Wilhelmina keine andere Ziege, denn manchmal lässt sich selbst ein alter, häßlicher Ziegenbock nicht ersetzen.

Hin und wieder aß er mit am Tisch, bei seinem Neffen Edmund, gar niemals unten in der Küche bei Erwin, seinem anderen Neffen. Er mochte Erwin nicht, das war so einer, als hätte er einen ausufernden Futterneid, der stets die größten Portionen für sich einforderte. Erwins Ehefrau Edit mochte er dagegen sehr, sie hatte ihm die Haare gewaschen und geschnitten, seinen langen Bart mäßig gestutzt, als er zur Beerdigung gekommen war, aus dem Wald. Edit war im Vergleich zu Mia sehr fürsorglich. Indes wollte er grundsätzlich niemandem zur Last fallen, daher aß er meist alleine in seinem Zimmer, hielt den Teller auf seinem Schoß und saß auf dem kurzen Holzbett seiner toten Schwägerin. Mias Essen, das schmale Zimmer und die Bank im Garten, von mehr konnte ein alter Mann nicht träumen. Als Mia dann ihr zweites lebensfähiges Kind gebar, neun Monate nach der Heimkehr von Edmund, setzte sie das Mädchen, sobald möglich, neben ihn auf die Bank. Sophie erinnerte ihn an Wilhelmina, obschon das Kind irgendwann anfing zu sprechen.

"Opa.", sollte sie eines Tages sagen, als sie es endlich auf die Bank geschafft hatte und wie immer darauf wartete, er möge ihr die vermaledeit picksigen Strümpfe ausziehen. "Opa.", sie strahlte ihn erwartungsvoll an. Lange bevor sie Mama sagte oder Papa, sollte Sophie ihren Großonkel Opa nennen. Ihm wäre fast die Pfeife aus der Hand gefallen, als hätte eine Ziege sprechen gelernt, blieb es ein Geheimnis, wer Sophie gesagt hatte, der bärtige, alte Mann auf der Bank wäre ihr Opa. Im ersten Moment musste er um Worte ringen, ohnehin hatte er nur mit Wilhelmina viel geredet, aber der Opa sollte alsbald sehr viel sprechen und seiner unverhofften Enkelin ausführlichst die ganze Welt im Garten erklären. Mit dem langhaarigen Mann aus dem Wald an ihrer Seite erlernte Sophie die Sprache, dürfte er ihre Weltanschauung erheblich geprägt haben.

Sobald Sophie sicher auf ihren Füßen stand, machte sie in diesem wunderbaren, vielfältigen Garten, voll von Würmern, Spinnen und Käfern, ihre allererste wegweisende Entdeckung, reicht oft genug ein Ausschnitt, um die ganze Welt zu verstehen.

"Opa." Wie angewurzelt stand sie auf einem kleinen Stück Wiese und verlangte nach seiner Aufmerksamkeit. "Wenn ich jetzt einen Schritt gehe, guck mal", sie verlieh ihren Worten Anschaulichkeit, "dann trete ich auf Ameisen. Ich mache auch Spinnen tot." Sie schüttelte heftig den Kopf. "Ich will das aber gar nicht." Ihr war es fürchterlich, indes er bloß nickte, wissend, dass der Mensch unweigerlich alles mit Füßen tritt, während sie, entsetzt von ihrer Entdeckung, vorerst lieber sitzen blieb. Sie säße wohl noch heute auf dieser Bank, wenn es ihre einzige Einsicht geblieben wäre, indes die wachsende Erfahrung scheinbar zur Abstumpfung führt, weil Sophie schon bald wieder über das Gras hüpfte, wenngleich sie dabei die Ameisen kaum vergessen konnte. Mit einem begrenzten Wortschatz war sie zu einer Erkenntnis gelangt, die ihr beständig bleiben sollte, wie eine Warnung, dass die Grausamkeit selbst mit unbedachten Schritten daher kommen konnte.

Diese Strümpfe aus der Wolle die ihre Großmutter am Rad gesponnen und ihre Mutter verstrickt hatte, so unerträglich kratzig, die konnte sie alsbald selbst ausziehen, bloß wenn die Wintertage erbarmungslos kalt ausfielen, hielt sie notgedrungen aus. Um sich der Strümpfe zu entledigen, brauchte sie ihren Großvater längst nicht mehr, aber sonst noch für alles andere. Er war ihr ein verlässlicher Anker, dort auf der Bank, zu dem sie stets zurückkehrte, während er ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte. Ihm erzählte sie, wofür sich sonst niemand interessierte. Und an einem dieser eisigen Tage im Winter, an dem ihr die Beine fürchterlich juckten, saß er nicht mehr da, auf seinem unverrückbaren Platz. Er hatte das letzte Mal an seiner Pfeife gezogen und sie würde den Rauch schrecklich vermissen.

Daran gab es nichts zu ändern, der Großvater blieb unwiederbringlich und so war für Sophie die Zeit gekommen, den Garten zu verlassen und sich das Haus, den Rest der Familie eingehender anzuschauen. Sonderlich erbaulich sollte das nicht ausfallen. Der untere Teil des Hauses wurde vollständig von ihrem Onkel Erwin belegt, ein übelgelauntes Tier, dem möglichst jeder aus dem Weg ging, auch ihre Tante Edit, die sich wie ein Schatten bewegte. Oben fand Sophie ihre Mutter, die sich eigentlich um gar nichts kümmerte, entweder am Herd stand, im Keller am Wäschetrog hantierte oder an der Nähmaschine saß, meist ihrem Bruder eine Uniform nähte. Der wiederum war regelrecht unerfreulich, ihr Bruder, ein abscheulicher Matrose, der nun obendrein in dem verwaisten Bett ihres Großvaters schlafen durfte. Immerhin musste sich sie nicht mehr das Zimmer mit ihm teilen, in dem auch ihre Eltern schliefen. Es verblieb einzig ihr Vater, der sogar ein wenig Ähnlichkeit mit ihrem toten Opa hatte. Wenn er nachmittags nach Hause kam, in seinen blauen Sachen, mit dem Posthorn auf den goldenen Knöpfen, dann sah er fast so aus wie ihr Opa. Wie zum Ersatz vergab Sophie fortan ihre ungeteilte Aufmerksamkeit an Edmund und er kam unverhofft zu einer Tochter. Sie setzte sich ungefragt auf seinen Schoß, obschon er das nicht besonders mochte, wehrte er sich nicht, wenn sie mit seinen Haaren spielte oder mit ihren Fingern seine krumme Nase vermaß.

"Warum rauchst du nicht?", sollte sie ihn bald fragen. Er könnte doch in den Garten gehen, sich eine Pfeife stopfen und unverrückbar auf der Bank sitzen. Er erzählte ihr stattdessen eine Geschichte von ungerauchten Rationen an Zigaretten mit denen er sich im Krieg Brot gekauft hätte, auch mal gegen ein Stück Seife getauscht habe, um es mit der Feldpost ihrer Mutter zu schicken. Von diesem spannenden Krieg sollte ihr Vater noch viele weitere erstaunliche Geschichten erzählen, da kamen Wassermelonen drin vor, fremde Länder, fremde Sprachen, große Autos, das blaue Meer, unglaublich, dachte Sophie, so ein Krieg, so ungeheuer weit weg. Diese Märchenstunden machten ihm unverkennbar Spaß und Sophie hörte stets gespannt zu. Ihre Mutter konnte davon nichts erzählen, sie war da ja gar nicht gewesen, doch auch sonst erzählte niemand etwas darüber, schien einzig ihr Vater in diesem phantastischem Krieg gewesen zu sein.

Nach dem Garten und dem Haus sollte Sophie allmählich das Dorf als Spielplatz entdecken. Auf der Straße schloss sie sich schnell einer kleinen Rotte frei herum laufender Kinder an, vorneweg ihr Vetter Theobald, einer der Söhne vom Klempner. Gemeinsam gingen sie auf Erkundung, sie sollten sogar eine Burg finden, wenigstens ein kleines Mäuerchen aus lose gestapelten Steinen, in deren Nähe eine Kapelle stand. Hier verbrachten sie lange Stunden, ahmten voller Hingabe Burgfräulein und Ritter nach, waren Kunigunde und Kuno zu einem Kinderspiel geworden. Auf dem Hügel gegenüber lag noch eine Burg verstreut, aber dort spielten andere Kinder, so malten sie sich manchmal einen Krieg aus, wie ein großes Abenteuer, bei dem sie diese anderen Kinder auf der Burg gegenüber bezwingen würden, mit langen Ästen und Steinen, die Schwerter und Kanonenkugeln waren, nehmen Erwachsene diese Kinderspiele meist fürchterlich ernst. Diesen Hügel, ihre Burg verließen sie nur ungern, wenn es langsam dunkel wurde. Bis auf manchmal, wenn mitten am helllichten Tage unvermittelt die Glocke der Kapelle läutete, dann liefen sie eiligst den Hügel hinunter, querfeldein, ab durch den dichten Wald. Es war sonst niemand da, der hätte am Seil der Glocke ziehen können.

Sophies Ausschnitt war schon bald richtig groß geworden, in ihre Welt passte neben die Burg beizeiten sogar die alles beherrschende Kathedrale rein. Das wuchtige Gemäuer war ihr der verwunschenste Ort, in den der Blitz stets als erstes einschlug, wenn es donnerte und zwischen Hügeln gewittert es oft gewaltig. Es war der Mittelpunkt vermutlich des Weltenalls, denn da drin wohnte der liebe Gott, obschon der nie zu Hause war. Dennoch wurden herrlich unergründliche Geschichten darum herum gemacht, von denen sie längst nicht alle verstand oder irgendeinen größeren Zusammenhang erfasste, aber das war vorerst unerheblich, konnte sie sich das Verständnis für später aufheben. Doch gerade weil so vieles unbegreiflich blieb, erscheinen diese Geschichten glaubwürdig, nicht so wie bei Hänsel und Gretel, deren Knusperhäuschen sie trotz ausgiebiger Suche noch nicht gefunden hatte. Die Kathedrale aber gab es wirklich und sogar echte Hexerei, wenn Wasser in Wein verwandelt wurde und Brot in Hostien, so ähnlich hatte sie es gehört, aber nie gesehen, steckt der Zauber aber immer im Unsichtbaren.

Mit der imposanten Kathedrale direkt vor der Haustür musste Sophie nachgerade unumgänglich über den Katholizismus stolpern und ganz feste an all die Geschichten glauben. In ihrer Welt gab es neben Burgfräuleins und Rittern, über jeden Zweifel erhaben nun auch Engel, den heiligen Geist, die Auferstehung, einen Eier legenden Hasen, das Christkind und sein Papa, der liebe Gott und die Hölle irgendwo da unten, keinesfalls hier oben. Das musste alles durch und durch wahr sein, denn niemand würde so viel Aufwand betreiben, wenn das alles Märchen wären, sonst könnten doch alle auch an den Froschkönig glauben. Nein, irgendeine Ungereimtheit konnte Sophie nicht erkennen, eben weil niemand ein so riesiges Haus baut, wenn kein Gott darin wohnen würde. Kein Mann zöge ein langes, besticktes Kleid an, würde von der Kanzel aus vom Erzengel berichten, vor Todsünden warnen, unheimlich gut riechenden Weihrauch schleudern, die Beichte abnehmen und Rosenkränze verordnen, wenn all das nicht wahr wäre, dachte Sophie folgerichtig über alle Ungereimtheiten hinweg. In der Kathedrale hauste also das ganz große Mysterium und jenes ging sie oft suchen.

Wenn sie nicht mit Theobald und einer handvoll Gleichgroße in der kalt feuchten Stätte mal wieder Verstecken mit dem Pfarrer spielte, der davon nie etwas bemerkte, ging Sophie alleine zu diesem düsteren Ort. Beherzt suchte sie Gott zwischen den langen Holzbänken, hinter dem Altar sollte sie ihn auch nicht finden, nicht auf der Empore, nicht hinter der Orgel. Nirgendwo ein Gott zu sehen. Mit leichtem Schauder ging sie nach und nach an jede einzelne auffindbare Tür, die sie stets langsam öffnete und vorsichtig hinein luckte. Hinter den Türen verborgen fand sie spärlich eingerichtete Räume, als würden sie das Nichts beherbergen, zumindest aber die Belanglosigkeit. Jedesmal war es eine Enttäuschung, die sie dennoch beruhigte, da sie letztlich nicht genau wusste, was zu tun wäre, wenn sie dem allmächtigen Wesen endlich gegenüber stand. Auf die Knie fallen? Doch auf der linken Seite, dort wo immer die Frauen saßen, da gab es eine Tür die unverschämt verschlossen blieb. Als sie längst jeden Winkel der Kathedrale kannte, zog es sie immer wieder genau da hin, hin zu dieser einen Tür. Irgendwer schien ihre Ausdauer zu belohnen, an dem Tag, an dem die sonst so beharrlich verschlossene Tür sperrangelweit offen stand.

Diese Tür war tatsächlich anders als die anderen, denn dahinter verbarg sich kein Raum, sondern eine Treppe. Eine schmale steinerne Treppe nach unten, mitten hinab in das Dunkel. Mit stockendem Atem, rasendem Herzschlag schlich Sophie die Treppe hinunter, stieg hinab in einen Gang. Eine Hand an dem feuchten Gemäuer tastete sie sich vor, noch tiefer hinein in das Dunkel, immer weiter hinein in dieses Verlies merkte sie nicht, wie das Licht sich bedenklich verdünnte. Plötzlich schlug eine Tür. Die Tür. Jetzt erst war sie klar und deutlich zu sehen, die Finsternis, Sophie schaute ihr gradewegs ins Antlitz. Augenblicklich fing sie an zu schreien, lauter als sie konnte.

"Was zum Teufel?", schrie der Pfarrer, der die Tür sofort wieder öffnen sollte. Immer noch schreiend rannte Sophie die Treppe nach oben, schreiend aus der Kahtedrale. Gott hatte sie an diesem Tag nicht gefunden, aber immerhin die Pforte zur Hölle. Die Hölle war also wirklich wahrhaftig dort unten. Genauso wahrhaftig wie dieser schmale, dunkle Gang der zu jenem Bunker führte, in dem sich einst ihre Mutter geängstigt hatte, wegen einer ganz anderen Hölle dort oben.

Besonders die unheimlichen Orte üben eine unwiderstehliche Anziehung aus, aber um diese Tür sollte Sophie vorerst einen Bogen machen. Stattdessen schlich sie auf ihrer andauernden Suche nun um die Kathedrale, außen herum, dort gab es auf einer Seite auch einen Gang, nicht ganz so feucht, schmal und dunkel. Am Ende des Ganges, in einem Spalt in der Mauer, waren Stufen eingelassen, wieder eine Treppe, diesmal nach oben. Hinauf zum Friedhof. Irgendwie unheimlich lag dort ihr Opa unter einem Stück Erde in der ein schmächtiges Holzkreuz steckte, ein paar wenige waren unter schweren Steinen begraben. Hier sollte sie öfter auf einer Bank sitzen, von der aus sie fast alles überblicken konnte, wie damals als er noch lebte, schaute sie aufmerksam einem geschäftigen Treiben zu. Zwischen den Gräbern huschten entrückte Gestalten umher, die mal hier stehen blieben, mal dort, manche knieten, gruben dabei ihre Hände tief in den Boden, um das Grünzeug zu richten, vielleicht aber um ihren Lieben näher zu sein. Und sie tuschelten unentwegt miteinander oder mit den Toten. Bisweilen saß Sophie dort wartend, vielleicht würde ja irgendjemand seiner Grube entsteigen, um in der Kathedrale durch die Pforte zu gehen oder schnurstracks gen Himmel zu fahren.

"Vor denen da unten, brauchst du keine Angst zu haben." Der Rat kam ungefragt. "Es sind die Lebendigen, vor denen du dich fürchten musst." Diese entrückte Gesalt war unvermittelt neben ihr aufgetaucht. Sophie sagte nichts, sie blieb einfach still sitzen. Die Gestalt strich ihr über den Kopf, nahm ihr behutsam die pompöse Schleife aus dem Haar, betrachtete diese sorgfältig und gab sie sodann zurück. "Das musst du nicht auf dem Kopf tragen."

Ohne ein weiteres Wort verschwand die alte Frau, die nicht wie die anderen eine Schürze trug, sondern umhüllt war, von einem langen schwarzen Kleid, vom hoch zugeknöpften Kragen bis auf den Boden. Einzig eine silberne Brosche, wie eine offene Blüte, durchbrach das tiefe Schwarz. Es war Sophies Großmutter, die unweit der Kathedrale in einem Knusperhäuschen wohnte. Eine seltsam anmutende Gestalt, die sie eines Tages schwarze Witwe nennen sollte.

Am Rande. Eine Bemerkung

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