Читать книгу Am Rande. Eine Bemerkung - Anna Lohg - Страница 7

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Aber, was soll ich sagen? Eine Absage habe ich bislang nicht bekommen, sehr geehrter Herr Professor, lieber Max. Wie lange ist das jetzt her? Du hast Dich nicht mehr gemeldet und das wundert mich, gelinde ausgedrückt. Sicher, auch ich hätte längst anrufen können, wir hätten höflich ein paar Worte gewechselt und die Sache damit aus der Welt geschafft. Wie zwei Erwachsene hätten wir diese Absage ausgeräumt. So steht das Unausgesprochene noch immer im Raum, mir merkwürdig im Weg, während Dir die Angelegenheit vermutlich zwischen Stapeln an zu bearbeitenden Papieren verloren gegangen ist. Irgendwo zwischen den Zeilen bin ich Dir entfallen.

Es war nett von Dir, mag auch nett nicht das richtige Wort sein, mich diese Ewigkeit nach meiner Prüfung anzurufen, um mir eine Stelle anzubieten, es wenigstens zu versuchen. Dein Anruf versetzte mich eine kurze Weile in Hochstimmung, diese Aussicht auf eine Stelle hinter Büchern, das ist mir immer noch das friedlichste Versteck der Welt. An der Universität konnte ich dieses Getöse vom erklärten Krieg um das beste Produkt noch weitestgehend überhören, zumindest glauben, es hätte nichts mit mir zu tun. Das war mehr als naiv, denn auch im Elfenbeinturm geht es darum, sich selbst als Marke zu begreifen und Forschung als Marketingstrategie mit patentierbarer Erkenntnis. Das Überleben der Gattung scheint von frisierten Quartalsbilanzen abhängig, weswegen Innovation zum Erfordernis wird und nur jene Fragen erlaubt sind, die einen beträchtlichen Gewinn versprechen. So war es vermutlich auch nicht die Neugier, welche den ersten Menschen vom Baum gelockt hat, sondern seine Gier.

Bei diesem tierischen Spiel wollte ich nicht mitmachen, dafür war ich mir viel zu schön, drauf geschissen, auf den Abschluss, all die bunten Titel, mir ist es nämlich scheißegal, wer das größte Geweih hat. Mich interessieren andere Sachen, also verließ ich eilig die Universität, wunder wer weiß, was ich glaubte zu finden. Aber in all meiner schönen Pracht und eiteln Verweigerung musste auch ich von irgendwas leben, so habe ich mich kleinlaut ein ums andere Mal beworben, um irgendeinen verlorenen Posten im akademischen Mittelbau, schließlich habe ich sonst nichts gelernt. Natürlich sollte ich nichts finden, nicht mal eine Stelle zum Papiere sortieren, bleibt ohne Vermarktung oder Beziehungen selbst ein Gewinnspiel aussichtreicher. Und auch im Wettbewerb kann nur gewinnen, wer überhaupt mitspielt. So zogen sie gemächlich an mir vorbei, meine vermeintlichen Chancen, als hätte ich nie welche gehabt. Nebenbei bin ich älter geworden und mit mir meine Studien, wie die abgelaufene Milch im Kühlschrank, mag die jetzt länger halten. Es ist ein Prozess des beschleunigten Verfalls, überholt von der nächsten stets schnelleren Generation. Meine Abschlüsse gibt es heute gar nicht mehr, die sind so schrottig wie ein funktionstüchtiges Telefon, welches vom nächsten Modell eingeholt wurde. Mein Klingelton will heute keiner mehr hören, der ist viel zu schrill geworden, wie Du hörst.

Das war der Stand, als Du angerufen hast: nach meiner letzten Prüfung sollte ich tunlichst den Doktor verschweigen, um wenigstens irgendwo als Aushilfe ein paar Kröten zu verdienen. Sogar in langen Schlangen habe ich angestanden und um Geld vom Staat gebettelt, und wer dort ansteht gilt ja gemeinhin als Schmarotzer. Was soll ich dazu sagen: anderen geht es noch schlechter? Selbst schuld? Schuldig, gierig Bildung konsumiert zu haben und jetzt als lebende Vergeudung dieser Ressource umher zu wandeln? Da wird der Einfall des Humankapitals als beachtlicher Fortschritt gefeiert, obschon sich damit das Leben als Geldverschwendung begreifen lässt und Menschen einfach unrentabel werden können, denn immerhin taugt sonstiger Bioabfall wenigstens als Dünger.

Dein unerwarteter Anruf kam dazwischen wie ein Lichtblick, als gäbe es eine Perspektive. Einzig Perspektiven ermöglichen Hoffnung und die gibt niemand gerne auf, so wenig wie Deine Kollegen ihr Institut aufgeben würden. Da saßen wir also recht locker an diesem Tisch und ich sollte dringlich gefallen, aber damit fange ich erst gar nicht an, soviel Angst habe ich davor, nicht zu gefallen, dass ich mich erst gar nicht darum bemühe. Vielleicht hätte ich mit einer bestechenden intellektuellen Brillanz überzeugen können, nur, wo hätte ich die auf die Schnelle hernehmen sollen? An mir ist partout nichts Besonders, eben wie die meisten, schnöder Durchschnitt. Für Deine Kollegen war es leicht, aber Du konntest diese Absage bislang noch nicht einmal aussprechen. Ehrlich, Absagen können mich nicht mehr erschüttern, die perlen inzwischen an mir ab, dermaßen habe ich mich daran gewöhnt. Im Grunde erwarte ich nichts anderes mehr, mag dies genauso traurig klingen, wie es ist. So ist die noch ausstehende Absage nicht der Grund meines Schreibens, mich beschäftigt eine andere Kleinigkeit.

Es ist ein kurzer Satz, der in meinem Kopf nachklingt. Mag sein, weil Du die Absage bislang nicht ausgesprochen hast, wäre sonst vielleicht auch dieser Satz an mir abgeperlt, über kurz oder lang hätte ich ihn wahrscheinlich vergessen. Doch nun haftet er, wie eine klebrige Angelegenheit.

"Du hast keine Manieren.", hast Du mir gesagt. Ich hätte keine Manieren! Erinnerst Du Dich? Du hast es gesagt, als würdest Du es plötzlich erkennen und als würde Dich Deine Erkenntnis überraschen.

Wir standen uns gegenüber, in Deiner Küche. Das war am Tag meiner Ankunft, kurz nach diesem zwanglosen Mittagessen mit Deinen Kollegen. Du hattest mich in Deine Wohnung begleitet, in welcher ich freundlich übernachten durfte. Danach warst Du noch einmal zurück gegangen ins Institut, denn an diesem Tag würde es noch ein Vorstellungsgespräch geben, das hatten Deine Kollegen vereinbart. Eine junge Frau, frisch von der Universität, würde kommen. Nach Ihrer Bewerbungsmappe war sie Deinen Kollegen als geeignete Kandidatin erschienen, unbefangen, fast möchte ich sagen unbefleckt, eben kein Günstling wie ich. Eine junge Frau vermutlich voller Tatendrang, doch vor allen Dingen wäre sie nach allen Seiten offen, denn sie würde ihre Vorlieben erst noch ausprägen. Das wäre eine faire Wahl, hatte ich mir gedacht, als ich in Deiner Wohnung auf Dich wartete. Du hingegen warst ein wenig genervt fort gegangen, denn Du hattest Deine Wahl doch eigentlich schon getroffen. Das bevorstehende Gespräch schien Dir eine Zeitverschwendung.

Nach ein paar Stunden, in denen ich ausgiebig Deine beeindruckende Sammlung an Büchern bestaunt hatte, warst Du zurück gekommen. Und dann standen wir da, in Deiner Küche. Du an die Küchenzeile gelehnt, ich an den Türrahmen. Während Du durstig ein Glas Wasser hinunter spültest, solltest Du mich betrachten, fast so, als hättest Du es nie zuvor getan. Von oben schautest Du an mir herab: diese Frisur, die keine war, nachlässig mit einem Gummi gehalten bildeten meine Haar oben auf dem Kopf eine Art Pinsel. Dann dieses fein gerippte Hemd, vielleicht ein Unterhemd, wirst Du Dich gefragt haben, und ja, ein Unterhemd. Dann diese Hose, längst aus der Form und viel zu groß. Ja tatsächlich, ich ziehe Jungshosen an, die sind mir zwar zu groß, dafür haben sie Taschen in die mehr hinein passt als nur ein Lippenstift, den ich nicht einmal benutze. Auf diesem allseits gepriesenen freien Markt, der für Geld keine Wünsche offen ließe, finden sich für Mädchen fast ausschließlich Hosen mit einem Witz von Taschen und die obendrein knapp über der Schamhaargrenze einfach aufhören Hose zu sein, wird auf diesem gelobten Markt am Ende auch nur die Paarungswilligkeit verhandelt.

Aber, mal unter uns, es war Dir doch stets egal, wie ich rum gelaufen bin. Es ist Dir zuvor vermutlich nicht aufgefallen, dass mir meine Hosen schon immer ein wenig zu groß waren. Du hast nie darauf geachtet, was wer anzieht, darauf kam es Dir nicht an. Die anderen Sachen waren Dir wichtig, nicht einmal innere Werte. Du hast auf die soziologischen Überzeugungen gesetzt, der Rest ging Dir am Arsch vorbei, wenn Du darüber hinaus überhaupt etwas bemerkt hast. Fraglos machst auch Du ab und zu Zugeständnisse an die Etikette, zumindest konnte ich das bei meiner letzten Prüfung feststellen. Doch, ja, durchaus eine feierliche Prüfung, wirst Du Dir gedacht haben, also hast Du den Hokuspokus bedient und ein halbwegs ordentliches Jackett angezogen. So wie ich, deswegen war es mir aufgefallen. An diesem Tag hatte auch ich mir gedacht, es sei wohl angemessen, auf die Klamotte zu achten. Irgendwie waren wir an dem Tag gleich angezogen, alte gebeulte Hosen, schmutzige Schuhe, aber immerhin ein ganz passables Jackett. Meines hängt nach all den Jahren noch immer im Schrank, bereit für den nächsten Anlass. Solche Jacken sind das minimalste Zugeständnis an den feierlichen Sonntag, sie hängen Jahre ordentlich auf einem Bügel und bleiben somit gut erhalten, diese Modelle längst vergessener Zeiten sind offenbar noch lange nicht aus der Mode gekommen.

Aber an dem Tag in Deiner Küche, da solltest Du mich plötzlich mustern. Du stelltest das Glas Wasser ab und erzähltest von dem Vorstellungsgespräch, noch sichtlich beeindruckt. Ja, diese junge Frau, die Dir vorher als Zeitverschwendung erschienen war, hatte Dich offenbar fasziniert. Mag sein, dass mir dies einen Stich verpasste, sowas wie ein Anflug von Eifersucht nicht mehr der Liebling im Korb zu sein. Zwar bin ich von der leidigen Eitelkeit nicht verschont geblieben, aber es ist nicht meine erste Sache, somit hörte ich Dir ungerührt aufmerksam zu. Arg viel musstest Du gar nicht sagen, bloß die paar Worte, das reichte für ein eindrückliches Bild.

"Aus gutem Haus.", sagtest Du, während Du die junge Frau in Gedanken weiter betrachtetest, um sie sodann mit mir zu vergleichen, wie ich so da stand, im Türrahmen mit einem Pinsel auf dem Kopf. "Sehr gut erzogen."

Diese grobe Skizze sollte völlig genügen und ich konnte die junge Frau ebenfalls in Gedanken sehen. Ihre Haarfarbe war gleichgültig, die Farbe der Augen oder was sie sonst noch von mir unterschieden hätte. Aus gutem Haus und sehr gut erzogen meinten die Merkmale eines Archetypus, Soziologie im ersten Semester über die feinen Unterschiede. Diesen Klassiker habe ich nie gelesen, nur drin geblättert, ich gebe es zu, dennoch hat das Werk auch mein Augenmerk auf den Habitus der so genannten besseren Gesellschaft gelenkt. Es sind die Kriterien der Auslese, wie Erkennungszeichen mit denen gewährleistet wird, dass alle hübsch auf ihren Plätzen bleiben. Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen.

Das ist uns beiden vermutlich fein säuberlich durch den soziologisch verseuchten Kopf gegangen, während wir uns dort in Deiner Küche gegenüber standen. Diese junge, wohl erzogene Frau aus gutem Haus spukte durch unsere Gedanken und mit ihr all die feinen Unterschiede zwischen gesellschaftlichen Klassen und den unsichtbaren Barrieren dazwischen. Aber die gäbe es doch heute kaum mehr, im Verschwinden begriffen, vielleicht vor ein paar Jahrzehnten noch, als Bourdieu seine Untersuchung machte, obendrein in Frankreich, bekannt und berüchtigt für seine Eliteschulen. Aber hierzulande, heutzutage gäbe es doch für alle die gleichen Chancen, wenigstens die eine oder andere Aufstiegschance für jene die sich anstrengen, sowas wie Leistungsgerechtigkeit. Die Kriterien der Auslese wären andere, auf den aristokratischen Gestus käme es doch nicht mehr an, nicht hier, nicht jetzt, auf gar keinen Fall in Deiner Küche!

Doch ich stand Dir genau gegenüber in meiner zu großen Hose, und es war als solltest Du eine Wahl treffen zwischen mir und diesem manierlich Geschöpf. Auf Deinem Gesicht konnte ich deutlich einen Schreck ablesen.

"Du hast keine Manieren.", stelltest Du plötzlich fest. Tatsächlich war es Dir eine schlichte Feststellung, keinesfalls eine Beleidigung.

Ausgerechnet Du, vor der Wahl stehend, solltest Dich für die junge Frau entscheiden. Kaum wegen ihren ordentlich gekämmten Haaren hattest Du Dich für sie entschieden, nicht wegen ihrem brillianten Intellekt, noch weniger wegen ihren soziologischen Standpunkten, nein, Du hattest Dich für die junge Frau entschieden wegen ihren Manieren! Das sollte Dich mehr erschüttern als mich, wenigstens in dem Moment. Wir, so dachtest Du bestimmt, wir kannten doch die feinen Unterschiede und wir würden uns davon nicht beeindrucken lassen. Doch im dirketen Vergleich eben dieser feinen Unterschiede solltest Du erweichen, dieser Gestus, der nicht Dein eigener ist, sollte Dich überzeugen.

Das kann ich sogar verstehen, ohne damit zu meinen, dass ich mich ebenso für die angeblichen Manieren entschieden hätte. Aber so ein Habitus aus gutem Haus kann durchaus ganz eindrücklich ausfallen, letztlich ist er etwas Besonderes, schon weil es vergleichsweise nicht viele dieser guten Häuser gibt und darin nicht um jeden Preis die vermeintlich gute Erziehung gelingt.

Mir ist klar, dass es bei den Manieren nur vordergründig mit einer zahmen Frisur und einer passenden Hose getan ist. Die Verkleidung ist bloß ein erstes sichtbares Zeichen, allerdings nicht zu unterschätzen. Die Texturen sind wichtig, die Makellosigkeit eines Stoffes, der Glanz der Fäden, die Reinheit eines Webmusters, die Sorgfalt der Nähte, die Spuren des Gebrauches und der tadellose Sitz eines jeden einzelnen Kleidungsstücks. Das sind Äußerlichkeiten die einen Eindruck ergeben, so wie die Haut, ob sie glatt ist, sorgenfrei gefaltet, wenn sie geschont werden konnte, hat sie keine Schwillen, Beulen, grob verheilte Narben. Zähne, Nägel, Haare all das zusammen ergibt einen sichtbaren feinen Unterschied. Aber wäre es das alleine, es ließe sich mehr oder weniger gekonnt nachahmen.

Die kostbarste Mitgift der vermeintlich guten Häuser ist das Gemüt, und das lässt sich nicht nachäffen, als sei die reichliche Ausstattung in jede Pore eingedrungen. Jede Faser drückt Zuversicht aus, wenn der Zweifel ein unbekannter Gast ist; die Augen strahlen, wenn sie nie eine Niederlage gesehen haben; die Bewegungen fließen, wenn sie keine Bedrohung kennen; die Gedanken können sich wohl ordnen, wenn sie frei von erdrückenden Sorgen sind. Es ist ein Ausdruck der Gewissheiten verheißt, als sei alles machbar, als gäbe es stets ein sicheres Ziel, wirkt genau das mitreißend, es wird verführend dem zu folgen, obschon unbeirrt meist nur Wahnsinnige sind. So ein Habitus aus gutem Haus ist wie ein Versprechen auf wahre Größe, überzeugend, imposant, majestätisch, denn wer in Watte gepackt ist, hat keine Angst davor, auf die Schnauze zu fallen, als ob das jeder könnte. Nur die Spitze der Nahrungskette gewährt eine solch gnadenlose Lässigkeit, erst wenn all Beutetiere restlos ausgerottet sind, gibt es einen ernsten Grund die Contenance zu verlieren.

Und dazu fielen Dir als erstes Manieren ein. Bei Manieren denke ich sofort an Tischsitten, an Regeln für ein affiges Gehabe, welches seinen Zweck verschleiert. Nach der Soziologie im zweiten Semester erfasste der Zivilisationsprozess auch die Reglementierung bei Tisch, allerdings ging es dabei weniger um ein manierliches Hantieren mit Messer und Gabel, als vielmehr darum, sich nicht im Streit um die größte Keule an Gurgel zu gehen. Danach meint zivilisiert nicht den Umgang mit dem Besteck, sondern das schnöd Friedliche, immerhin wird anderswo ausgesucht kultiviert mit den Fingern gegessen. Doch übrig geblieben sind offenbar nur die Manieren, als das alberne Getue mit welcher Hand das Messer geführt werden soll, dabei sei es gänzlich gleichgültig, wie die Keulen aufgeteilt werden. Der Zivilisationsprozess dürfte damit unweigerlich im Morast stecken bleiben, weil das Hauen und Stechen um das größte Stück Fleisch wieder ansteht, immerhin darf dann seelenruhig bei Tisch gerülpst, gefurzt und gekotzt werden.

Und Du solltest plötzlich feststellen, dass ich nicht aus gutem Haus sei, mir entsprechend diese Manieren abgingen, als hätte ich am Zivilisationsprozess nicht teilgenommen.

"Du hast dich auch hochgearbeitet.", sagtest Du anschließend mehr zu Dir selbst. "Wie ich.", hörte ich Dich murmeln. "Aus der Arbeiterklasse."

Diese kurzen, schwer hörbaren Fragmente reichten aus, um mir vorzustellen, wie Du Dich hochgearbeitet hattest. Du hättest um Deine Rechte gekämpft, Dich durch einzelne Schichten nach oben gebissen, um einen Status zu erlangen. Einen gesellschaftlichen Rang einnehmen, für den es als unsichtbares Abzeichen die scheinbar allgemeine Anerkennung gibt. Dafür wolltest Du studieren, aber das hätte in Deiner Familie nie zuvor jemand getan, das lag jenseits aller denkbaren Möglichkeiten. Als Kind der Arbeiterklasse war womöglich nicht einmal klar, ob Du überhaupt den nötigen Verstand für ein solches Abenteuer mitbringen würdest. Das Neugier und Eigensinn nichts mit sozialen Klassen zu tun haben, das hattest Du zwar geahnt, aber eben nicht gewusst. Den Unmut darüber, oder ist es sogar Wut, jemals geglaubt zu haben, Du seist als Arbeiterkind zum Studium nicht fähig, wolltest Du Dir bewahren. Doch jetzt solltest Du Dich dabei ertappen, mich zu benachteiligen, ein offensichtlich armes Kind aus der untersten Schublade, eindeutig an den fehlenden Manieren zu erkennen. Ausgerechnet Du, solltest ein reiches Kind aus den vermeintlich besseren Kreisen vorziehen.

Das war der Schrecken, der sich deutlich auf Deinem Gesicht abgezeichnet hatte, als sei Dir eine feste Überzeugung entglitten. In dem Moment dürfte Dir ebenso die soziologische Tragweite Deiner Entscheidung bewusst geworden sein, als hättest Du es gesehen, wie sich die gesellschaftlichen Kreise schließen und wie sie gleichsam ausgrenzend wirken. Zumindest habe ich es so gedeutet, als Du mich fragtest, ob ich auch einen Cognac möchte. Der sollte wohl den bitteren Beigeschmack übertünchen. Doch wohin mit all den schönen sozialen Wissenschaften, wenn diese junge Frau, selbstsicher, aufgeschlossen und wunderbar ungetrübt, Dich einfach nur an Deine Tochter erinnert hat? Beide fast gleich alt, beide aus gutem Haus, beide gut erzogen und Du wärest zu dem geworden, der Du nie sein wolltest. Prosit, es möge nützen.

Wie gesagt, ich wusste schon lange vor dem Cognac, dass ich die Stelle, die Du mir angeboten hattest, nie antreten würde. Nicht, dass mir das einerlei gewesen wäre, lediglich klar. Denn manche Figuren ziehen notgedrungen die Arschkarte, wenn eben solche im Spiel sind. Und weil es davon immer mehr gibt, ist es gar nicht mehr ungewöhnlich quasi am Arsch zu sein, inzwischen verschiebt sich der Durchschnitt dahin. Von daher kann ich mich ganz lässig zu den durchschnittlichen Verlierern zählen, was vor ein paar Jahrzehnten noch die Spießbürger waren, friedfertig, selbstvergessen und prall im Mittelmaß. Noch jene halbwegs zufriedenen Bürger, die von einer selbsternannten Avantgarde gerne als bieder tituliert wurden, um selbige sodann zum banausigen Publikum zu erklären, welches unbedingt belehrt werden muss, als gelte es die Zufriedenheit auszutrieben, weil die bloß langweilig wäre. Doch Spießbürger kann sich heute niemand mehr leisten, weswegen es auch keine Avantgarde mehr gibt, da selbige sich ohne Publikum langweilt. Zum Glück gibt es dafür jetzt ganz viele arme Leute, an denen es sich bei einem Galadiner für die Wohltätigkeit erfreuen lässt. Etwa beim fünften Teller angekommen, spätestens beim Dessert, lässt es sich dann genüsslich und durchaus sehr verständig über den Hunger auf der Welt parlieren.

Soweit also alles keine Rede wert, meine Güte, hättest Du mir diese vermaledeite Absage wie auch immer zukommen lassen, mir wäre wenigstens die Freude geblieben, darüber, dass Du an mich gedacht hast, wie an mich geglaubt. Die Stelle dann doch nicht zu bekommen, hätte ich als ganz normalen Misserfolg in Zeiten statistischer Verschiebungen abtun können. Statt dessen hast Du mir Zeit zum grübeln spendiert, grübeln über den Grund der ausbleibenden Absage, über diese Stummheit, die mich vielleicht frustrieren würde, könnte ich sie denn begreifen. Dass Du keine Absagen verteilst, wäre leicht zu erklären, wenn Du eine empfindsame Seele wärest, aber Du doch nicht, denn jene, die sich nach oben beißen, sind selten zartbesaitet. Auf Dein Schweigen ist mir also kein guter Reim eingefallen, wiewohl das Hirn so lange reimt bis Alles einen scheinbaren Sinn ergibt. Bis an die Grenze des Wahns wird fleißig gereimt, um auch das Unerklärliche zu erklären, deswegen gibt es Gott, der letzte Beweger als Beruhigung gegen ratlose Verwunderung.

Und mir blieben nach übermäßigem Reim nur die fehlenden Manieren übrig, als einzige Erklärung für Dein beharrliches Schweigen, scheine ich Dir wohl peinlich geworden zu sein. Zumal mir fehlende Manieren schon beachtlich oft vorgehalten worden sind, bloß weil ich nicht darauf achte, mit welcher Hand ich das Messer halte. Ehrlich, sollte ich Dich damit enttäuscht haben, dann tut es mir leid, auch mir kommt es manchmal so vor, als wäre ich mitten in einem Schönheitswettbewerb aufgewacht und mir ginge völlig der Ehrgeiz ab, mich als Karamelbonbon zu begreifen. Wirklich, das tut mir leid, aber Manieren? Meintest Du wirklich Manieren? Genau die seifige Oberfläche, auf der getrost jemand verhungern darf, dabei aber gefälligst das Besteck richtig halten soll. Sittenwächter einer Zivilisation in der wir uns um jeden Preis Konkurrenz machen, dabei aber tunlichst auf blasierte Attitüden achten sollen, um möglichst irgendeinen vorgeblich humanen Anschein zu wahren. Und ich Trottel dachte, es ginge darum, die Keulen einträchtig miteinander zu teilen. Aber es ist und bleibt ein aberwitziges Missverständnis zu glauben, Zivilisation meine einen verständigen Umgang zur friedfertigen Erhaltung der Gattung. Mit Zivilisation ist offensichtlich nichts anderes als der feine Unterschied zu den Barbaren gemeint, zu jenen, die ihre Teller auslecken, weil sie Hunger haben. Es ist nur ein weiteres Wort, um sich, ach so fein, zu unterscheiden, aus dem üppigen Vorrat der Unterscheidungen wie Klasse, Religion, Nationalität, Rasse, Geschlecht, Aussehen, Statur, inzwischen auch ganz selbstverständlich als Leistung vermessen. Beharrlich halten wir an der Idee der feinen Auslese fest, sortieren wie die Besessenen, ständig auf der Suche nach dem besseren Menschen, den es so gewiss nie geben wird.

Na ja, ich denke, solange noch alle naselang die feinen Unterschiede gemacht werden, kriegen wir das mit der friedlichen Zivilisation sowieso nicht hin, bis dahin bleibt es wohl bei dieser ausgefeilten Party zur Kür des größten Affen. Kann aber auch sein, dass ich bei irgendeiner Gelegenheit vom Pfad in die Zivilisation abgekommen bin.

Am Rande. Eine Bemerkung

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