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EINLEITUNG: DIE SACHE MIT DEM GLÜCK
ОглавлениеWeißt du noch, wie sich dieses Kribbeln im Bauch angefühlt hat, wenn du als Kind in die tosenden Wellen des Meeres gerannt bist? Und erinnerst du dich daran, wie dich Aufregung und Glück durchströmt haben, als sich beim ersten Spaziergang mit deiner Partnerin oder deinem Partner wie zufällig eure Hände berührt haben und ihr beide leise in euch hineingegrinst habt? Glücksgefühle tun so unfassbar gut. Wer frisch verliebt ist, gerade einen großen beruflichen Erfolg gefeiert oder ein persönliches Ziel erreicht hat, weiß, wovon ich rede. Unser Körper schüttet einen Cocktail an Glückshormonen aus, und wir könnten die ganze Welt umarmen. Es ist die berühmte rosarote Brille. Ein paar Tage lang kann einem kein Problem der Welt etwas anhaben.
Kein Kaffee mehr da? Macht nichts, dann gönne ich mir beim Zwischenstopp am Coffeeshop noch einen leckeren Bagel zum Frühstück!
Stau? Endlich Zeit, um einen tollen Podcast zu hören!
Die Joggingrunde fällt wegen Rückenproblemen aus? Genau der richtige Moment, um mit Yoga zu starten – ist doch sowieso wahnsinnig gesund!
Wer gut drauf ist, schwebt voller Optimismus durch den Alltag. Jede Situation hat eine gute Seite, auf die wir uns sofort konzentrieren. Kein Wunder, dass wir dieses Hochgefühl am liebsten für immer festhalten wollen. Glücksratgeber rund ums Thema »Positive Thinking« vermitteln uns, dass genau das möglich ist. Schon 1952 erschien Die Kraft positiven Denkens von Norman Vincent Peale. Seine Aussage ist genau die gleiche, die sich auch heute in unterschiedlicher Formulierung in fast jedem Glücksratgeber findet:
Probleme, Sorgen und Schwierigkeiten sind da, um überwunden zu werden. Wir dürfen es nie zulassen, daß sie unser Leben beherrschen. Wir müssen uns kategorisch weigern, ihre Herrschaft anzuerkennen, und sollen geistige positive Kräfte an ihrer Stelle auf uns wirken lassen. (…) Dieses Buch zeigt Ihnen, wie Sie die gegenwärtigen Lebensumstände ändern und verbessern und wie Sie die Kontrolle über die Verhältnisse gewinnen können (…). Ihre Beziehungen zu anderen Menschen werden sich verbessern und vertiefen; Sie werden als Persönlichkeit gewinnen, mehr geachtet und geliebt werden. (…) Ihre Einflußsphäre wird sich erweitern, und Ihre Fähigkeiten werden sich steigern.1
Na, klingt das gut? Eigentlich scheint es doch ganz simpel zu sein: Du kontrollierst deine Gedanken, deine Gedanken kontrollieren deine Gefühle – somit kannst du jederzeit glücklich sein, wenn du nur die richtigen Knöpfe drückst und dein Gehirn »umprogrammierst«.
Spürst du schon den Druck? Denkst du auch: Ach, Mist, ich müsste auch mal wieder an meinem Glück arbeiten, meditieren, mein Dankbarkeitstagebuch beginnen und ein bisschen »Me-Time« einschieben – dann wäre mein Leben viel leichter? Kennst du die Hoffnung, dass vielleicht deine Beziehungen einfacher wären, du längst befördert worden wärst und deine Kreativität viel ausgeprägter wäre, wenn du es nur endlich schaffen würdest, positiver zu denken?
Stattdessen hast du vielleicht schon heute Morgen entnervt den Boden gewischt, weil dein Kind ein Glas Milch umgeworfen hat, warst mal wieder zu spät im Büro, hast dein vorgekochtes Mittagessen zu Hause im Kühlschrank vergessen und dich dann über Kritik deiner Vorgesetzten geärgert. Uff.
Vielleicht geht es dir auch psychisch und/oder physisch gerade nicht gut, du oder geliebte Menschen um dich herum sind krank, dein Alltag wird auf den Kopf gestellt und zusätzlich musst du dir finanzielle Sorgen machen, weil du deinem Job kaum noch nachgehen kannst. Alles wird zu viel.
Willkommen im echten Leben. Keiner von uns ist davor gefeit, Unglück, Schmerz, Trauer oder den ganz alltäglichen Stress zu erleben. Doch mit dem Heilsversprechen der »Glücksritter«, die in Form von Achtsamkeitsseminaren, Selfcare- und Glücksratgebern daherkommen, wächst der Druck, vom trotzigen Kleinkind bis zum schweren Schicksalsschlag stets alles gelassen wegzulächeln. Wer von Grund auf positiv denke, führe ein glücklicheres Leben, so die Annahme. Du kannst die Umstände nicht ändern, aber du kannst ändern, was du draus machst.
Das bedeutet im Umkehrschluss aber auch: Wer nicht glücklich ist, ist selbst schuld. Wenn du ein Tief hast, wenn du genervt bist, wenn du dich unfair behandelt fühlst, dann ist das dein Problem. Du musst umdenken. Du bist verantwortlich für deine Emotionen. Du musst dich dafür entscheiden, glücklich zu sein. Ja, man müsste eigentlich so weit gehen zu sagen: Selbst wenn du nicht gesund wirst, ist das dein Fehler. Jede*r weiß doch, dass die Psyche eine große Rolle bei der Heilung des Körpers und für das Immunsystem spielt, also bist du dafür verantwortlich, wenn du krank bist. Das wäre zumindest die logische Konsequenz dieser Denkweise.
Da stimmt doch etwas nicht. Schon seit Längerem störte mich etwas an diesem Heile-Welt-Narrativ. Es erschien mir zu simpel, nicht weit genug gedacht, die leeren Worthülsen berühren mich nicht. Und die Täter-Opfer-Umkehr ließ mich schon öfter mehr als stutzig werden.
Als ich während der Coronakrise dann all die Motivationssprüche auf Instagram las, all die »Good Vibes Only«-Postings und »Macht das Beste draus«-Ratschläge, wurde ich richtig wütend. Schön für euch, wenn ihr jetzt motivierter und glücklicher denn je seid, Leute. Ich bin raus, mir geht’s nicht gut. Bin ich jetzt eine Versagerin? Ich begann zu recherchieren, begegnete dem Begriff »Toxic Positivity« und dachte: Das ist es!
Ich las weiter und vergrub mich immer tiefer in das Thema. Nach und nach wurde mir bewusst, wie viele Lebensbereiche der Druck des positiven Denkens berührt und dass sich längst zahlreiche gesellschaftliche Normen etabliert haben, die genau auf diesem Happiness-Narrativ beruhen.
In diesem Buch möchte ich dich an meinen Gedanken, meinen Gefühlen und den Ergebnissen meiner Recherche teilhaben lassen. Ich möchte dir zeigen, wie die von Psychologin Susan David sogenannte »Diktatur der Zuversicht«2 jedes Individuum sowie unsere gesamte Gesellschaft betrifft und was toxische Dosen an positivem Denken anrichten können.
Natürlich soll es auch darum gehen, wie wir es besser machen können. Wie wir im Umgang miteinander und mit uns selbst neue, hilfreichere Wege finden, statt ständig unsere Sorgen und unangenehmen Gefühle wegzulächeln.
Du wirst hier keine Schritt-für-Schritt-Anleitung für ein besseres Leben finden. Ich bin weder Psychologin noch Soziologin, sondern Journalistin und Texterin. Ich lese, ich höre in mich hinein, ich spreche mit Expert*innen, Freund*innen und erzähle von meinen Erfahrungen und auch von meinen Unsicherheiten. Du wirst in den nächsten Kapiteln Beobachtungen und Gedanken aus meinem Alltag und meiner Vergangenheit finden, die zeigen, in welchen Lebensbereichen mir persönlich Toxic Positivity begegnet ist. Zudem gibt es Denkanstöße von Expert*innen, die zumindest mir geholfen haben, umzudenken. Vielleicht findest du dich an der ein oder anderen Stelle wieder.
Vor allem hoffe ich, dass du am Ende des Buches etwas weniger Last auf deinen Schultern spürst und merkst: Es ist in Ordnung, sich auch mal nicht in Ordnung zu fühlen.