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WIE ALLES BEGANN … ODER: KACK-CORONAKRISE

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Ich saß an meinem Schreibtisch, rechts neben meinem Laptop lagen ein paar zusammengeknüllte Taschentücher, links stand eine Tasse Ingwer-Zitronen-Tee. Ich trug Jogginghose und Kapuzenpullover. Der ätzende Schnupfen wollte einfach nicht besser werden. Während mein Sohn seinen Mittagsschlaf machte, erledigte ich noch schnell ein paar Dinge am Computer. Mein Smartphone leuchtete auf und vibrierte kurz. Meine Freundin Janne, die in Mailand lebt, hatte eine Sprachnachricht geschickt. Obwohl ich eigentlich anderes zu tun hatte, hörte ich sie mir sofort an.

»Corona ist angekommen«, erzählte Janne. »Hier ist alles zu. Das ist wirklich gruselig. Wir dürfen ohne triftigen Grund nicht mal mehr spazieren gehen. Ich war gestern einkaufen, das ist jetzt unser Highlight der Woche. Obwohl das auch echt nervig ist, da man immer anstehen muss. Zum Glück hat der Aufpasser gesehen, dass ich schwanger bin, und mich vorgelassen. Heute war ich dann mit meiner Tochter kurz draußen. Als wir uns auf eine Wiese setzen wollten, wurden wir direkt verjagt und mussten wieder reingehen. Ich bin ja mal gespannt, wie lange das so weitergehen soll …«

Ich trank einen Schluck Tee und schüttelte den Kopf. Irgendwie begriff ich immer noch nicht, was hier vor sich ging. Es war der 11. März 2020 – der Tag, an dem die WHO eine weltweite Pandemie ausgerufen hatte. Die Lage spitzte sich täglich zu. Es fühlte sich unwirklich an. Hier war doch alles wie immer. Wieso sollte sich dann plötzlich unser ganzes Leben ändern?

Als der Virologe Christian Drosten noch am selben Tag dazu riet, dass Großeltern ihre Enkel nicht mehr sehen sollten, sagte ich endgültig den Heimatbesuch ab, auf den ich mich so gefreut hatte. Eigentlich hatte ich geplant, vom 13. bis zum 15. März zu meiner Mutter zu fahren, die Geburtstag hatte, und bei dieser Gelegenheit noch ein paar Freundinnen von früher zu treffen. Während ich weg war, am 14. März, sollte zudem mein Mann Micha wieder in Hamburg ankommen, der als Kameramann gerade bei einem Dreh auf einer spanischen Insel unterwegs war. Alles war gut durchgeplant, und als mein Sohn Anfang März eine Bronchitis bekam, hatte ich nicht einmal darüber nachgedacht, ob es eventuell Covid-19 sein könnte. Und selbst wenn: War das nicht sowieso bloß eine Art Grippe? Wozu die ganze Aufregung?

Doch in den folgenden Tagen änderte sich vieles in meinem Kopf. Hier ging es nicht nur um eine Grippe. Es ging um unser Gesundheitssystem, das gerade zusammenzubrechen drohte. Es ging um die Risikogruppen, die wir schützen mussten. Und die Langzeitfolgen von Covid-19, die noch niemand genau einschätzen konnte. Janne war in Italien mittendrin. Und wir in Deutschland steuerten direkt auf die Katastrophe zu. Noch konnten wir das Worst-Case-Szenario verhindern – doch dafür waren drastische Maßnahmen nötig. Nach und nach machten in ganz Deutschland die Kitas und Schulen dicht. Scheiße. Auch für uns brach die Kitabetreuung weg. Wie lange würde das so bleiben? Was war mit den Gebühren? Und wie sollten wir arbeiten? Keiner hatte Antworten auf diese Fragen. Eltern waren ahnungslos, wie es weitergehen sollte. Die Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit der Situation machte allen zu schaffen – inklusive mir.

Mein Sohn und ich waren beide erkältet: Husten, Schnupfen, das volle Programm. Wir befanden uns demnach in freiwilliger Quarantäne. Kind krank, ich selbst krank, und abends, wenn der Kleine schlief, musste ich meine Freelancer-Aufträge abarbeiten, statt mich ausruhen zu können. Gleichzeitig rückte Corona näher, immer mehr Fälle wurden in Deutschland bekannt. Mir ging es dabei gar nicht gut. Ich fühlte mich traurig, erschöpft und überfordert und konnte diese Pandemie nur schwer begreifen. Ich vermisste den persönlichen Austausch mit Freund*innen, und mir fehlte Micha. Nun blieb nur zu hoffen, dass er zurückreisen durfte.

»Ich kann nicht mehr«, jammerte ich ins Telefon, als ich am nächsten Tag mit meinem Mann telefonierte. »Ich bin so verschnupft, fühle mich komplett erschlagen und würde am liebsten den ganzen Tag im Bett liegen. Aber der Kleine braucht Bespaßung und muss etwas Vernünftiges essen. Sieh zu, dass du noch rechtzeitig von der Insel wegkommst, bevor du in Quarantäne musst.«

Mir graute vor dem Fall, dass ich zu Hause noch tagelang auf mich allein gestellt sein würde, ohne Unterstützung, ohne Kita, isoliert von der Außenwelt.

»Keine Panik, die lassen mich hier schon raus. Die wollen uns doch loswerden«, beschwichtigte mich Micha. Aber ich hörte an seiner Stimme, dass auch er sich nicht mehr ganz sicher war. Inzwischen waren in einigen Hotels in Spanien Covid-19-Fälle aufgetreten; alle Gäste mussten 14 Tage in Quarantäne. Das hätte auch ihm passieren können.

Am 14. März, dem geplanten Abreisetag, verhängte Spanien den nationalen Notstand – zu diesem Zeitpunkt saß Micha zum Glück schon im Flieger. Als ich online verfolgte, wie er abhob und planmäßig landete, weinte ich vor Erleichterung. Das abgesagte Wochenende in der Heimat war mir inzwischen egal. Ich wollte bloß meine kleine Familie um mich haben.

Gesundheitlich ging es in den nächsten Tagen wieder aufwärts, die Erkältung verschwand, Micha war wieder zu Hause. Alles gut? Von wegen. Ich machte mir zunehmend Sorgen um meine Mutter, die aufgrund mehrerer Faktoren zur Risikogruppe gehörte. Besuchen durfte ich sie natürlich nicht. Was wäre, wenn sie sich infizieren würde? Würde sie dann allein im Krankenhaus liegen, ohne Besuch, ohne eine Hand, die ihre hält? Ich versuchte, diese Gedanken zu verdrängen.

Zudem brachen Micha und mir als Freelancer-Ehepaar mehr und mehr Jobs weg. Michas anstehende Dreharbeiten wurden auf einen unbekannten Zeitpunkt verschoben, und meine Auftraggeber*innen gaben immer weniger Texte an Externe raus.

»Wir verdienen bald nichts mehr, was machen wir denn dann?«, fragte ich Micha.

»Es geht doch gerade allen so«, sagte er. »Die werden uns schon nicht das Haus wegnehmen.«

Ich riss die Augen auf. Darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht.

Mein Mann sah meine Angst: »Anna, dieses Problem haben nicht nur wir. Die Unternehmen werden nicht ewig auf Freiberufler verzichten können. Und im Zweifel gibt es Soforthilfen vom Staat. Wir werden nicht pleitegehen, garantiert nicht. Und Rücklagen haben wir auch noch.«

Michas Gelassenheit beruhigte mich ein wenig, aber meine Existenzsorgen ließen mich trotzdem nicht los. Ich geriet immer tiefer in einen Strudel an negativen Gedanken, zweifelte an unserer Entscheidung, uns selbstständig zu machen, und hinterfragte unser gesamtes Lebensmodell. Von Woche zu Woche war ich überzeugter davon, dass nicht nur die Pandemie, sondern vor allem mein fehlendes Talent daran schuld war, dass ich keine Aufträge mehr bekam. Andere hatten doch auch noch zu tun! Wieso lief es bei mir nicht?

Neben den Selbstzweifeln machten mich die Nachrichten fertig. Die Bilder aus den italienischen Kliniken, die unendlich traurigen Geschichten, in denen alte Menschen allein und isoliert im Krankenhaus sterben mussten. Ich weiß noch, wie ich Ende März mit Tränen in den Augen vor dem Fernseher saß. Das war kein Katastrophenfilm, keine düstere Dystopie, die man mit Popcorn in der Hand im Kino anschaute. Das war die Realität. Die Straßen dieser Welt waren leer gefegt. Restaurants, Bars, Cafés, Kinos, Geschäfte, Büros, Kitas, Schulen – alles geschlossen. Mir jagten diese Bilder Angst ein. Was war geschehen? Wie sollte es weitergehen?

Mit meinen Ängsten war ich in guter Gesellschaft. Laut einer Studie des National Opinion Research Center (NORC) der Universität Chicago, die vom 30. Mai bis zum 8. Juni durchgeführt wurde, sagten 72 Prozent der befragten US-Amerikanerinnen und US-Amerikaner unter 45 Jahren aus, dass sie in den letzten sieben Tagen »negative« Emotionen wie Angst, Depression, Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit gespürt hätten.3 Die Coronakrise ging nicht spurlos an uns Menschen vorbei.

Ich habe bei der psychologischen Psychotherapeutin Amanda Nentwig nachgefragt, wieso diese Krise für viele Menschen so schwierig zu verarbeiten war. Sie erklärte mir: »Wir gehen in der Psychologie davon aus, dass wir Menschen gewisse emotionale Bedürfnisse haben. Während des Lockdowns in der Coronazeit wurden wir insbesondere in der Pflege unserer zwischenmenschlichen Bindungen, in unserer Freiheit, Sicherheit und in unserem Lustgewinn eingeschränkt: Social Distancing, keine Feiern, weniger Urlaub, eine Wirtschaftskrise, die unsere finanzielle und existenzielle Sicherheit bedroht, der ›Zwang‹, eine Maske zu tragen und sich an Regeln zu halten. Corona hat uns somit in fast allen Bereichen in unterschiedlichem Ausmaß eingeschränkt. Und das sorgt für ein emotionales Ungleichgewicht.«

Laut der NORC-Studie aus Chicago waren Frauen (66 Prozent) häufiger als Männer (56 Prozent) von diesen »negativen« Emotionen betroffen. »Ich kenne die kausale Ursache nicht, kann also nur spekulieren, wieso dies der Fall ist«, so Amanda Nentwig. »Aber Frauen übernehmen zu Hause oft mehr Aufgaben. Sie haben häufiger einen höheren Mental Load als Männer. Zudem gibt es eine interessante Studie aus Spanien, die besagt, dass Frauen generell stressanfälliger seien und insbesondere innerhalb der Familie ein höheres Stressempfinden hätten als Männer.4 Ich denke, dass auch bei diesem Ergebnis die Doppelbelastung mit Job und Familie eine große Rolle spielt.«

Berufliche Unsicherheit, Kitaschließung – und dann war da noch unsere Hochzeit. 2018 hatten Micha und ich standesamtlich geheiratet, am 2. Mai 2020 sollte die große Party folgen. Wir hatten eine wunderschöne Scheune als Location gebucht, eine Eventagentur engagiert, mit der wir Deko und Licht planten, der DJ war beauftragt, das Foto-Team auch, mit der Hochzeitsrednerin hatten wir bereits in einem dreieinhalbstündigen Gespräch unsere freie Trauung besprochen und ihr unsere Geschichte erzählt. Die Lieder zur Trauung standen fest. Viele Gäste hatten Züge und Hotelzimmer gebucht, ich hatte mein Traumkleid gefunden. Sogar einen Friseurtermin hatte ich schon vereinbart. Ich freute mich wie ein kleines Kind auf diesen Tag.

Ende März wurde uns langsam klar, dass eine Feier mit über achtzig Gästen inmitten einer weltweiten Pandemie so wahrscheinlich nicht stattfinden könnte. Immer häufiger fragten mich Freundinnen und Freunde, wie denn nun der Stand sei mit unserer Hochzeit.

»Wir müssen so langsam mal eine Entscheidung treffen, damit die Leute ihre Zimmer noch stornieren können«, sagte ich zu Micha.

»Wir warten darauf, dass die Location uns absagt«, antwortete er. »Sonst bleiben wir noch auf den Kosten sitzen.«

Ich war genervt. Immer wieder ein Hin und Her, immer wieder ein Hoffen und Bangen. »Momentan sind noch bis zu hundert Leute erlaubt«, sagte ich. »Solange diese Regelung gilt, wird die Location nicht absagen. Aber es macht doch keinen Sinn, das durchzuziehen.«

»Wir warten ab«, sagte er. Uff.

Schließlich rief tatsächlich noch im März die Eventplanerin an, die sich bereits mit der Location abgesprochen hatte. Auch ihnen war glücklicherweise noch vor dem offiziellen Verbot klar, dass die Kontaktsperren voraussichtlich verschärft werden würden und eine Hochzeit in diesem Umfang Anfang Mai nicht würde stattfinden können. Das hieß also: absagen! Tatsächlich war ich nach dem Warten und Bangen weniger enttäuscht, sondern einfach nur erleichtert, alle informieren zu können: »Storniert eure Hotels, cancelt eure Reisepläne, bleibt zu Hause und bleibt gesund.«

Zudem vereinbarten wir sofort einen neuen Termin für 2021. »Dann erst recht« – so der Plan, auch wenn es noch mehr als 14 Monate bis dahin waren. In diesen unsicheren Zeiten tat diese Entscheidung gut. Endlich etwas, das nicht unklar im leeren Raum rumeierte, sondern sicher war. Haken dahinter. Und auch finanziell war es mir ganz recht, dass nicht mitten in der Krise sämtliche Rücklagen für eine Hochzeitsfeier draufgingen.

Wir informierten unsere Dienstleister*innen über den neuen Termin und hofften, dass sie auch an diesem Tag Zeit hätten. Unser Foto-Team reagierte super, der DJ ebenfalls. Bloß unsere Hochzeitsrednerin stellte sich quer. Sie tat überrascht, verwies in ihrer Mail darauf, dass es doch noch gar keine behördliche Anordnung gebe. Zudem wies sie uns zurecht, dass man Ausweichtermine zuerst mit Dienstleister*innen absprechen sollte, bevor man diese festlegt. Sie habe an unserem neuen Termin bereits eine andere Hochzeit und müsse gucken, ob sie das kombinieren könne.

Ich kam gerade aus der Dusche und stand mit meinem Handy in der Hand im Schlafzimmer, als die Mail mich erreichte. Sofort heulte ich los. Klar, ich wusste, alles, was sie schrieb, war sachlich korrekt – doch ihr patziger Ton, das Zurechtweisen von oben herab und die fehlende Empathie machten mich fertig.

»Sie ist Freelancerin, wir sind es auch. Wir sitzen doch alle in einem Boot«, sagte ich schluchzend zu Micha. »Wie kann man so sein? Ich dachte, vor Corona sind wir alle gleich, das wird doch überall behauptet …«

Ich versuchte, trotz des patzigen Tonfalls nett und freundlich zu antworten, einen Kompromiss zu finden. Die Nerven im Zaum halten. Doch in den kommenden Wochen wurde unser Schriftwechsel so unangenehm, dass ich es kaum mehr aushielt. Wenn ich nur den Namen unserer Hochzeitsrednerin in meinem E-Mail-Postfach sah, legte ich das Handy weg. Es ging mittlerweile nicht mehr darum, eine gemeinsame Lösung für das Problem zu finden, sondern – wie war es anders zu erwarten – nur noch ums Geld. Immer wieder wies uns die Traurednerin darauf hin, dass sie rein faktisch gesehen weiterhin in der Lage wäre, die Trauung durchzuführen. Dass unsere geplante Feier mit über achtzig Leuten mittlerweile verboten war (inzwischen gab es eine behördliche Anordnung), tangiere ihren Job rechtlich gesehen nicht, so ihre Aussage. Theoretisch könnten wir uns zu dritt treffen, damit wäre ihre Aufgabe erledigt.

Selbst wenn formell und juristisch alles richtig war, was sie sagte – ich kochte vor Wut. Das Herz schlug mir bei jeder Mail von ihr im wahrsten Sinne des Wortes bis zum Hals, und selbst Micha, der normalerweise die Ruhe selbst ist, verlor zwischendurch die Fassung. Was, wenn nicht eine Pandemie, wäre ein triftigerer Grund, um eine Trauung zu verschieben? Es wäre ja völlig in Ordnung gewesen, wenn sie uns komplett abgesagt und uns unsere Anzahlung zurückerstattet hätte. Aber sie blieb hartnäckig. »Meine Arbeit ist zu neunzig Prozent erledigt«, erklärte sie immer wieder.

Das Ganze ging so weit, dass Rechtsanwälte aus dem Bekanntenkreis eingeschaltet wurden, sowohl auf unserer als auch auf ihrer Seite. Nach dem fiesen Schriftwechsel hatte ich schon längst keine Lust mehr darauf, von ihr getraut zu werden. Es ging nur noch darum, ob wir ihr wirklich neunzig Prozent ihres Honorars schuldeten, ohne dass je eine Trauung stattfinden würde. Ich zog mich aus den Mails raus, die emotionale Belastung wurde mir zu heftig.

Am Ende zahlten wir viele Hundert Euro. Immerhin schickte sie uns dafür ihre Traurede. Diese dürfen wir zwar nicht für unsere Trauung nutzen, aber wenigstens musste sie beweisen, dass sie für ihr Geld auch wirklich gearbeitet hatte. Ich konnte die Sache endlich abhaken. Doch ein fauler Nachgeschmack blieb.

Von wegen, Corona verbindet uns und bringt uns trotz Social Distancing einander näher. Von wegen, wir sitzen alle im selben Boot. Ich fühlte mich naiv und wie ein kleines, dummes Mädchen, weil ich an diese Nachricht tatsächlich geglaubt hatte. Unsere eigene Erfahrung zeigte mir, dass das Gerede über die positiven Aspekte der Krise zwar schön klingt, aber mit der Realität nur selten etwas zu tun hat.

Die Happiness-Lüge

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