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MITTEN IM LOCKDOWN – UND SCHWUPS IN DIE TOXIC-POSITIVITY-FALLE GETAPPT

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All die Erlebnisse, all die Zweifel, Sorgen und Ängste, mit denen ich während der Coronakrise konfrontiert wurde – sie alle wurden von völlig gegensätzlichen Aussagen aus dem Außen begleitet. »Lasst euch bloß nicht eure Frühlingsgefühle nehmen!«, las ich in einem Instagram-Post. »Don’t forget to smile!«, in einem anderen.

Glaubte man den sozialen Medien, vertrieben sich die Menschen die Zeit während des Lockdowns damit, ihre Kleiderschränke auszumisten, den Keller aufzuräumen, ihre Wohnungen zu renovieren und mit einem Fitnessprogramm zu starten. Gefühlt las jeder Mensch mindestens ein wahnsinnig kluges Buch pro Woche, ging täglich 15 Kilometer joggen und »nutzte« nebenbei noch die Zeit, um eine Online-Weiterbildung zu machen. Selbstverständlich galt dabei stets: Tue Gutes und rede, äh, poste darüber. Bücher wurden online rezensiert, die Joggingrunden mit Distanz, Pace und Streckenverlauf täglich geteilt und Online-Seminare empfohlen. Innerhalb weniger Wochen gab es neue Geschäftsideen, Gründungen, zig Online-Stammtische und -Seminare sowie digitale Co-Working-Gruppen.

Ich verfolgte all diese Entwicklungen und dachte nur: Wie bitte? Woher nehmen all diese Menschen die Energie und Zeit? Ich fühlte mich schlecht. Statt aktiv zu werden und das Beste aus der Situation zu machen, hatte ich mit negativen Gedanken zu kämpfen und war froh, wenn ich geduscht, vernünftig angezogen und geschminkt war. Und wenn ich mal einen Tag keine dicken Augen vom Weinen hatte.

Auf die Frage, ob es wirklich möglich war, dass die Menschen um mich herum die negativen Gefühle einfach übersprungen hatten und tatsächlich total positiv gestimmt waren, antwortete Psychotherapeutin Amanda Nentwig: »Ich kann mir vorstellen, dass es eine Form des ›Copings‹ ist, also eine Bewältigungsstrategie. Wenn emotionale Bedürfnisse nicht erfüllt werden, dann rutschen wir oft in einen automatischen ›Überlebensmodus‹. So kann Person X durch Corona das Gefühl haben, nie genug zu machen, macht deshalb besonders viel und teilt dies mit der Umwelt, um sich vor anderen nicht unzulänglich zu fühlen. Es kann auch der Versuch sein, Kontrolle in einer unkontrollierbaren Situation zu gewinnen. Möglich, dass Influencer*innen um ihr Einkommen fürchten und dadurch noch mehr Content pushen. Vielleicht ist es aber auch so, dass Menschen tatsächlich helfen wollen, ohne dabei zu merken, dass ihre betont positive Art für andere Menschen auch belastend sein kann. Die Beweggründe für diese ›Überkompensation‹ sind auf jeden Fall meistens in Gefühlen und Bedürfnissen zu suchen.«

Irgendwie beruhigend, dass hinter der glitzernden Social-Media-Fassade in vielen Fällen oftmals auch nur verunsicherte Seelen stecken. Dennoch: In der akuten Situation ging mir das Happiness-Getue der anderen schlichtweg auf den Keks. In unserem Alltag war von Glück und Frohmut nur wenig zu sehen: Mein Sohn war zu Hause, Micha zum Glück auch, und wir teilten uns die Betreuung untereinander auf. An »freien« Tagen wurde gearbeitet, geputzt, ein wenig Sport gemacht. Ich versuchte, Artikel für meinen Blog zu schreiben und bei (potenziellen) Auftraggeber*innen anzuklopfen. Es war mühsam. Es zahlte sich nicht aus. Meine Produktivität lief ins Leere, meine Motivation sank von Tag zu Tag. Ich zweifelte sowieso schon. Und sobald ich dann online all die gut gelaunten, erfolgreichen Krisenbewältiger sah, wurden mein schlechtes Gewissen und meine Selbstzweifel nur noch größer.

Wenn man auf den Themenbereich Familie schaut, sah es nicht wirklich anders aus. Mama-Bloggerinnen zeigten auf ihren Instagram-Profilen Ausflüge ins Grüne, kreative Bastelideen und leckeren Kuchen. In Facebook-Gruppen wurden Beschäftigungs- und Rezeptideen ausgetauscht. Es wirkte, als seien einige Mamas richtig erleichtert, endlich mal Zeit mit der Familie verbringen zu dürfen. In einer WhatsApp-Mama-Gruppe, in die ich irgendwie reingerutscht war, wurden stolz die letzten Bastelarbeiten der Kleinen herumgeschickt. Von beruflichem Chaos durch fehlende Betreuung und von gähnender Langeweile, weil man niemanden treffen durfte, las ich wenig.

Ich saß also im Sandkasten hinter unserem Haus – mein Sohn buddelte neben mir –, scrollte lustlos durch meinen Instagram-Stream und bekam dabei ein zunehmend schlechtes Gewissen. Schnell steckte ich das Smartphone weg. Statt mich zu grämen, sollte ich doch eigentlich genießen, dass die Sonne schien und wir einen Sandkasten im Garten hatten. Ich sollte mit meinem Sohn die Zeit auskosten, statt mir Sorgen zu machen und mich zu langweilen, weil ich zum zwanzigsten Mal Sand mit dem Spielzeugbagger von einer Ecke in die andere schaufelte. Sollte, müsste, könnte. Ich spürte den Druck des gesellschaftlichen Narrativs auf mir: Glück und Genuss sollten jederzeit im Vordergrund stehen. Wir sollten alles tun, um das Beste aus jedem Moment rauszuholen. Schlechte Gedanken ziehen uns selbst und unsere Liebsten nur runter. Also, reiß dich zusammen, Anna! Im Sinne aller. Sei mal ein bisschen positiver und verstrick dich nicht in deinen Sorgen! Plan Ausflüge, back Kuchen – und zwar nicht nur aus Sand! Denk dir neue Spiele aus! Und im Hintergrund kann dein Gehirn gleichzeitig doch bestimmt noch irgendeine schlaue Geschäftsidee entwickeln, oder? Andere kriegen das doch auch hin. Mach doch mal, los jetzt!

Meine Freundin Lisa startete zu dieser Zeit die »Three Good Things«, eine Art Dankbarkeitstagebuch in Form von Sprachnachrichten. Jeden Tag schickte sie eine lange Nachricht an all ihre Freundinnen, in der sie erzählte, welche drei Dinge ihr am Vortag gute Laune gemacht hatten. Ein Stück Kuchen, ein Spaziergang am Deich, ein frischer Blumenstrauß. Sie rief dazu auf, es ihr gleichzutun und ebenfalls drei persönliche Highlights des Vortags rumzuschicken. Am dritten Tag der »Three Good Things«-Aktion – zu diesem Zeitpunkt war ich noch erkältet, mit krankem Kind in Quarantäne und voller Unsicherheit – erklärte ich Lisa, dass ich ihr Engagement zu schätzen wisse und verstünde, dass sie es nur gut meinte, aber dass mir diese Nachrichten gerade überhaupt nicht guttaten. Dabei verstand ich im ersten Moment selbst gar nicht, wieso. Auch meine Freundin fühlte sich von meiner Ablehnung vor den Kopf gestoßen. »Positives Denken kann doch nicht schaden, sondern nur helfen!«, sagte Lisa. Hatte sie recht? War ich zynisch, depressiv, eine Pessimistin? Das mit dem Dankbarsein und dem positiven Denken hatte ich schließlich auch schon tausendmal gehört. Wieso wehrte ich mich dann so sehr dagegen?

Ich ging auf die Suche, um mein Gefühl besser einordnen zu können. Die Happy-Peppy-Glitzerwelt von Instagram und Co., in der alles toll und nichts doof ist, war mir schon lange auf den Geist gegangen. Jetzt in der Krise war der ganze »Good Vibes Only«-Hype mit einem Mal so präsent – und mir so zuwider – wie nie zuvor. Als ich schließlich auf einige englischsprachige Artikel stieß, die mir erklärten, dass dieses Phänomen einen Namen hatte, war ich erleichtert. »Toxic Positivity« – das war es! Hatte ich zuerst die leise Befürchtung gehabt, dass ich einfach ein zutiefst neidischer, fieser Mensch war, der anderen ihr Glück nicht gönnte, wurde ich nun eines Besseren belehrt. Daran lag es nicht. Es waren weder Neid noch Missgunst, die mich runterzogen – es waren giftige Mengen an zwanghaftem positivem Denken.

»Der Begriff ›Toxic Positivity‹ beschreibt das Konzept, dass eine positive Lebenseinstellung der einzig richtige Weg ist, sein Leben zu leben. Es geht darum, sich ausschließlich auf positive Dinge zu konzentrieren und alles abzulehnen, was negative Emotionen triggern könnte«,5 beschreibt Konstantin Lukin, Autor und Psychologe, das Phänomen auf psychologytoday.com. Doch diese Vermeidungsstrategie führe dazu, dass Probleme und negative Emotionen größer würden, statt dass sie verschwänden. Und es sei auch gar nicht wünschenswert, dass wir nur noch positiv denken, denn: Schwierige Emotionen und Gefühle stecken voller wertvoller Informationen, so Lukin. Ein Angstgefühl kann uns auf eine Gefahrensituation hinweisen. Traurigkeit zeigt, dass uns Dinge, Menschen oder unser Umfeld wichtig sind. In jeder Emotion steckt ein Wert. Und jede Emotion ist es wert, gehört zu werden.

Wer mit anderen Menschen über Sorgen, Ängste oder unangenehme Gefühle spricht und ein »Sieh’s doch mal positiv!« als Antwort bekommt, fühlt sich abgefertigt und nicht ernst genommen. Die eigenen Gefühle verlieren an Wichtigkeit – einzig und allein das Erfüllen des gesellschaftlichen Glücksideals scheint wichtig zu sein. In solch einer Welt stellt Glück keinen Ausnahmezustand dar, sondern die Norm. Wer es nicht »schafft«, die gute Laune zu behalten, zieht sich in Krisenzeiten einfach zurück und schämt sich ein bisschen.

»Tut mir leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe«, schrieb mir eine Bekannte nach drei Wochen Schweigsamkeit während des Lockdowns. »Mich hat die Krise hart getroffen, und ich wollte einfach nicht mehr kommunizieren. Ich bin deshalb komplett abgetaucht.«

Ich konnte es ihr nicht verübeln. Denn wenn man gerade finanzielle Sorgen hat, als Single vor Einsamkeit fast durchdreht oder zwischen mehreren Kindern keine Minute zum Durchatmen findet, wirken die Botschaften auf Social-Media-Plattformen, die auch gute Freund*innen oft teilen oder sogar in persönlichen Gesprächen zitieren, fehl am Platz.

Als Lisa ihre »Three Good Things«-Aktion startete, hatte ich das Gefühl, dass sie an meinen Problemen keinerlei Interesse hatte (auch wenn das nicht der Wahrheit entsprach!). Ich erzählte ihr davon und versuchte, meine Emotionen zu beschreiben: »Ich hab einfach gerade keine gute Phase. Es ist ein Auf und Ab, aber miese Tage sind einfach miese Tage.«

»Aber es müssen ja auch nicht immer die großen Dinge sein«, erwiderte Lisa. »Ich glaube, dass es schon hilft, wenn man sich drei minikleine Dinge bewusst macht, die schön waren. Eine ausgiebige Dusche, ein leckeres Essen, ein Lachanfall des Kindes.«

Ich wusste, dass sie es gut meinte und irgendwo ja auch recht hatte. Das Glück liegt im Kleinen. Ich verstand ihren Ansatz und ja, ich freute mich für sie, dass ihr diese Einstellung half. Doch für mich funktionierte das gerade einfach nicht, mir machte die »Verpflichtung«, Glücksmomente zu suchen und zu teilen, viel zu viel Druck. Das Ganze wirkte auf mich wie eine Art Selbstdarstellung, nach der mir gerade nicht der Sinn stand. Schließlich zog ich mich aus der Aktion endgültig raus: »Ich will einfach nicht irgendetwas Positives an den Haaren herbeiziehen, wenn es mir gerade nicht gut geht«, erklärte ich Lisa entschuldigend. Sie meldete sich eine Weile nicht mehr bei mir.

Während ich in den folgenden Tagen noch mehr Texte zum Thema »Toxic Positivity« las, hinterfragte ich mich auch selbst. Trotz meines inneren Widerstands gegen das zwanghafte Glücklichsein hatte auch ich längst einige Denkmuster verinnerlicht, die »schlechte« Gefühle wegdrückten. Sowohl bei mir selbst als auch bei anderen. Oft hatte ich schon Dinge gesagt wie »Konzentrier dich auf die schönen Dinge« und »Gönn dir einfach mal wieder ein bisschen Me-Time«. Leere Worthülsen, kaum mehr als Kalendersprüche, in denen keinerlei Empathie für die Probleme und Lebensumstände meines Gegenübers steckte.

Teilweise ging ich sogar mit mir selbst so um und fragte mich, wieso es denn nicht klappte. Ich lag bei Kerzenschein in der Wanne, weil man das nach einem harten Tag doch genau so machen sollte, um sich selbst etwas zu gönnen – nur wieso fühlte ich mich dann trotzdem noch schlecht? Wieso brach ich mit Micha einen Streit vom Zaun, obwohl ich nach einer »Deep Stretch & Relax«-Yoga-Einheit eigentlich hätte tiefenentspannt sein sollen? Ich tat so vieles von dem, was man tun sollte, um glücklich zu sein, aber irgendwie funktionierte es nicht. Oft machten genau diese Dinge sogar alles nur noch schlimmer. Denn zu den Sorgen, die sowieso schon da waren, gesellte sich dann auch noch das schlechte Gewissen, dass man es nicht mal hinbekam, positiver zu denken. Eine Negativspirale. Mit dem Konzept der Toxic Positivity fand ich endlich eine Erklärung dafür. Positives Denken allein war eben nicht die Lösung aller Probleme.

Im August – der Lockdown war lange vorbei und die Welt wieder etwas normaler – saß ich bei meiner Friseurin und erzählte ihr von meinen Gedanken. »Dazu habe ich eine schöne Geschichte«, sagte sie. »Eine Kundin von mir ist auch freie Journalistin und hatte in der Krise keinen einzigen Auftrag. Ihrem Business ging es miserabel. Und sie sagte zu mir den Satz: ›Wenn mir noch einmal jemand erzählt, dass jetzt wieder Delfine in Venedig schwimmen, dann spring ich der- oder demjenigen mit dem nackten Arsch ins Gesicht.‹« Ich lachte laut auf. Schöner kann man den Effekt von Toxic-Positivity-Aussagen wohl kaum erklären.

Ein wichtiger Hinweis: In meinem Leben und in meinem direkten Umfeld geht es meist um »kleine« Probleme, selbst wenn sie sich zwischenzeitlich groß anfühlen. Noch viel gefährlicher sind die »Think positive!«-Beiträge hinsichtlich anderer, größerer Probleme. Während des Lockdowns beispielsweise berichteten Medien von der möglichen Zunahme häuslicher Gewalt. Erste Zahlen bestätigen die Befürchtungen. So hat laut dpa die Berliner Gewaltschutzambulanz im Juni 2020 bei Fällen von häuslicher Gewalt einen Anstieg von dreißig Prozent im Vergleich zum Juni 2019 verzeichnet. In Hamburg stieg in den Monaten Januar bis Juni 2020 die Anzahl an Delikten im Bereich der Beziehungsgewalt auf 2.252 Fälle, im gleichen Zeitraum des Vorjahrs waren es noch 1.812 Fälle gewesen.6 Frauenhäuser sind sowieso schon chronisch überlastet. Kinder waren während des Lockdowns der »Kontrolle« durch Lehrer*innen, Erzieher*innen oder andere Aufsichtspersonen entzogen und konnten »unbemerkter« misshandelt werden – die steigende Zahl der Anrufe bei der bundesweiten Kinderschutzhotline während der Coronakrise7 ist ein Indikator dafür, dass auch hier ein Zuwachs an Gewalt stattfand.

So, und nun sagt diesen Frauen und Kindern, die zu Hause während des Lockdowns verprügelt und misshandelt wurden, doch noch mal, dass in jeder Krise auch eine Chance steckt. Dass sie einfach ein bisschen optimistischer in die Zukunft blicken sollen und diese neue Situation auch gute Seiten hat. Und dass sie sich einfach an den kleinen Dingen wie einem guten Stück Kuchen erfreuen sollen. Am Ende hat schließlich jede*r sein Leben selbst in der Hand – das Glück ist nur eine Frage der inneren Einstellung. Oder?

Die Happiness-Lüge

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