Читать книгу Von einer, die auszog, einen Büstenhalter zu stehlen - Anna Milow - Страница 4

Der Büstenhalter

Оглавление

Von der nahegelegenen Hügelkuppe betrachtet, wirkte unser Dorf wie aus dem Bilderbuch. Die Kirche mit dem Friedhof bildete die Mitte, daneben gab es den Dorfplatz, auf dem drei große Linden wuchsen und ein natürliches Dach für die Märkte dienstags und donnerstags bildeten. Um den Markplatz herum waren, wie bei einer Modelleisenbahn, Fachwerkhäuschen aufgereiht. Die Inneren nannten die Menschen im Dorf diese schwarz-weißen, uralten Häuschen. Verwinkelte Gassen und enge Kopfsteinpflasterstraßen wurden nach und nach zu einer Fußgängerzone. Hier befanden sich auch die wichtigen Läden und Institutionen. Es gab eine Apotheke, einen Arzt, eine Grundschule, einen Schuster, der auch Schuhe verkaufte, einen Lebensmittelladen und einen Klimbim-Laden, in dem man alles kaufen konnte, was man brauchte, es aber im Lebensmittelladen nicht bekam.

In einem äußeren Kreis um die Dorfmitte lagen ausgedehnte Wiesen, manchmal mit Bebauung. Auf einer dieser Wiesen, an der Hauptverkehrsstraße, stand auch unser Haus. Klein, schwarz-weiß und schief. Genau gegenüber diesem kleinen Häuschen stand der Friseurladen meines Großvaters und direkt daneben das Haus meiner Tante Sophie. Dort gab es auch einen Bäcker, eine Metzgerei, eine Bank und eine Post. Und dann war da am Ortsausgang noch Gertruds Laden. Sie führte alles für die moderne Frau: Wolle, Nähgarn, Pullover, Unterhemden und Unterhosen.

Selbstverständlich gab es im Dorf auch Kneipen. In der direkt an der Kirche trafen sich die Männer nach dem Sonntagsgottesdienst zum Frühschoppen. Einige gingen auch direkt dorthin und nahmen nicht erst den Umweg über die Kirche. Ab ein Uhr mittags wurden die Kinder des Dorfes geschickt, die Väter und Großväter zum Mittagessen zu holen. Murrend und knurrend und meistens ziemlich schwankend kamen sie nach Hause, um dann den Sonntagnachmittag laut schnarchend auf der Couch zu verbringen. Kurz vor dem Abendessen standen sie wieder auf, um sich zu wundern, wie schnell doch die Sonntage immer vergingen. „Wenn man mal frei hat, dann ist es schon vorbei! Furchtbar!“, bemitleidete sich mein Großvater dann.

Am kleinen Ölbach, der durch das Dörfchen plätscherte, stand die Kneipe, in der sich genau dieselben Männer donnerstags abends zum Kegeln trafen. Die meisten von ihnen mussten sich vor dem Kegeln umziehen, so wollten es ihre Frauen und Töchter. Es war Frauensache, den Männern die Kleidung herauszulegen. Es sah fast so aus, als gäbe es einen kleinen Wettbewerb, wer seinen Mann oder Vater am besten anzog, den feinsten Zwirn kaufte.

Mein Großvater versuchte jeden Donnerstag, sich heimlich, still und leise an meiner Mutter vorbeizuschleichen.

„Saach dinger Motter, ich wör ald fott!“, forderte er mich leise konspirativ auf und öffnete langsam und vorsichtig die Haustür. Das Knarren dieser schweren Tür hörte man durch das ganze Haus.

„Warte, Vati!“, erschütterte dann die Stimme meiner Mutter unser Haus und das der Nachbarn gleich mit. „Warte – was hast du an?!?“

„Hach“, zog mein Großvater die Luft zwischen den Zähnen ein, „verdammich, se hat et widder gemerkt!“

Grimmig schnaufend quälte er sich mit seinem Lungenemphysem wieder die Treppe hoch, um sich dann unter lautem Gemeckere meiner Mutter umziehen zu lassen. Niemals hätte er sich selbst umgezogen. Das war ihm viel zu lästig. Während Sie ihm die Hose über die Schuhe zog, schimpfte sie ihn aus: „Was sollen denn die Leute denken, wie ich dich laufen lasse? Mensch, Vati! Jedes Mal dasselbe mit dir! Wie siehst du aus! Das Hemd musst du auch ausziehen! Gut, dass deine Frau das nicht mehr erlebt! Wie du jetzt immer herumlaufen würdest, wenn ich mich nicht um alles kümmern würde!“

Mein Großvater machte dann jedes Mal ein Gesicht, als wollte er in Tränen ausbrechen. „Nä, wat bin ich für ene ärme Düvel. Wat werde ich hier drangsaliert und terrorisiert!“, bemitleidete er sich und hielt seine Arme weit von sich, als wolle er gleich losfliegen, damit meine Mutter ihm das Oberhemd ausziehen konnte.

Später dann, als die Männer alle frisch gekleidet in der Kneipe versammelt waren, hörte man ab und zu ihr gut Holz, gut Holz, gut Holz durch das Dorf dröhnen, wenn alle neune gefallen waren.

„Wieder 'ne Runde!“, seufzte meine Tante Sophie dann. „Wie viel woren et denn jetz' ald?“

„Der fährt bestimmt noch“, knurrte meine Mutter dann.

„Jo, laufen wird er auch nicht mehr können“, nickte Tante Sophie dann sorgenvoll beipflichtend.

Mein Opa, das wusste ich, sollte nicht rauchen und tat es trotzdem. Er rauchte auch eher unheimlich als heimlich. Den hier und da erhobenen Finger, vor allem den seines Arztes, pflegte er mit dem Spruch zu kontern: „Alkohol und Nikotin, rafft die halbe Menschheit hin. Aber ohne Schnaps und Rauch, stirbt die andere Hälfte auch.“

Das konnte ihm nicht einmal sein Arzt widerlegen und prophezeite ihm drohend sein frühes Ende. Irgendwann war es dann soweit. Er ist an seinem Lungenemphysem gestorben. Allerdings lange nach dem Arzt.

„Siehste!“, pflegte mein Opa zu sagen. „Der hat nicht geraucht und liegt jetzt kerngesund im Sarg. Da rauch' ich doch lieber!“ Dass der Herr Professor auch nicht der Gesundeste war und lange mit einem halben Magen lebte, unterschlug er dabei.

Mein Opa rauchte nicht nur. Ich glaube er hat, egal zu welcher Tageszeit, selten seinen Kaffee ohne Cognac getrunken.

In unserem Dörfchen gab es noch eine Gaststätte mit einem großen Saal für die Feierlichkeiten. Dort traf man sich: die Kolpingfamilie, der VdK, der Mütterverein, die Frauen, die Kinder. Man feierte Hochzeiten, Sterbefälle, Karneval, einfach alles, was so anfiel. Feiern war, egal aus welchem Anlass, immer eine sehr wichtige Angelegenheit. Im Laufe der 60er trauten sich die Menschen langsam, ausgelassener zu werden, dabei half ihnen vor allem der Alkohol, so schien es mir manches Mal. Bald gab es dort auch eine riesige Kinoleinwand. „Wir sind modern, die alten Zeiten sind vorbei“, pflegten sie hier und da einzuflechten. Sie wollten Spaß, statt Schinderei. Was erleben. Spannendes und Großes. Wie zum Beispiel das Schützenfest. Oder Karneval. Und im Kino nicht mehr nur Das Erbe von Björndal sehen, sondern Filme von Oswald Kolle oder mit Hildegard Knef.

Es war Ende der 60er, ich muss so vier, fünf Jahre alt gewesen sein. Die Räume in unserem Fachwerkhaus waren winzig, die Decken niedrig. Ich weiß noch, dass es in diesem kleinen Häuschen, wie es die ganze Familie nannte, immer eher dunkel war – wohl wegen der verhältnismäßig kleinen Fenster. Eine sehr steile Holztreppe direkt neben der Haustür führte auf die erste Etage. Dort oben befanden sich die Schlafzimmer und ein Badezimmer, so auch das Kinderzimmer von meiner Schwester und mir.

Im Wintergarten standen Gummibäume – ihre langen Girlandenzweige waren an den Wänden entlang drapiert, die gezackten Blätter baumelten von der Decke herab. In meiner Fantasie waren es Gefangene, die an den langen Girlanden aufgereiht schlotterten. Traurig und aufgehängt. Wenn die Sonne in die Fenster schien, tanzten die Staubteilchen in der Luft. Auf den Fensterbänken standen Töpfe mit Sansevierias. Einer neben dem anderen. Trotzig reckten sie ihre langweiligen, steifen, grünen Blätter in die Höhe. Da die Pflanzen hoch wuchsen, war das Gewicht nicht gleichmäßig verteilt. Sie wurden kopflastig und fielen schon um, wenn man sie nur leicht streifte. Ich erinnere mich genau an die schallende Ohrfeige, die mir mein Großvater verpasste, als ich im Wintergarten eine dieser Sansevierias umstieß. Offensichtlich schien es keine anderen Zimmerblumen zu geben, als diese hässlichen, lästigen, grünen Liliengewächse.

Die dunkel gepolsterten Möbel aus den 50ern waren irgendwie viereckig. Die Sofalehne war aus poliertem Holz und es tat weh, wenn man mit dem Kopf daran stieß. Es roch immer ein bisschen muffig, stickig und trostlos.

Am Eingang unseres Wohnzimmers war eine große, lose Bodenplatte eingelassen, die ein wenig klapperte, wenn man darüber ging. Ich glaube, darunter war der Öltank. Ich lief tagsüber öfters darüber. Wenn es zu laut klapperte, bekam ich einen Klaps auf den Po, als Merkhilfe, damit ich übte, leise zu gehen. So balancierte ich irgendwann nur noch auf Zehenspitzen über diese Platte, auch wenn niemand in der Nähe war.

Abends, wenn der Fernseher angemacht wurde, durfte ich dreimal die Mainzelmännchen ansehen, dann musste ich ins Bett. Es gab keine Widerrede. Die Werbeblöcke im ZDF wurden von den Mainzelmännchen unterbrochen. Ich war zwar noch sehr jung, aber durchaus in der Lage zu rechnen. So trickste ich ein wenig und fing mit dem nullten Mal an zu zählen. Dann konnte ich insgesamt viermal die Mainzelmännchen sehen. Irgendwann bemerkten meine Eltern den Betrug und es gab – wie so oft – Ärger. Mein Vater sprach eine sehr deutliche Sprache mit mir – mit anderen nicht so, fand ich, aber zu mir war er sehr streng.

Damals hatte niemand, am allerwenigsten meine Eltern, die Idee, Medienkonsum von Kindern fernzuhalten. Im Gegenteil, hier sollte ich etwas lernen. Ich schaute also in unserem Schwarz-Weiß-Fernseher kurz vor acht die Reklame. Mit Ausnahme der Mainzelmännchen ein doofes Fenster, fand ich. Auch langweilig. Bis zu jenem Abend.

Eine sorgfältig toupierte, lächelnde Frau rekelte sich eher hölzern als frivol im Fernsehfenster. Sie war nur bis zur Taille zu sehen und schwärmte in den höchsten Tönen von ihrem Büstenhalter. Dabei hielt sie sich selbst umschlungen und streichelte ihre Oberarme genüsslich.

Aha, dafür interessieren sich die Menschen also! Für Büstenhalter! , dachte ich. Ich weiß noch genau, wie egal mir das war und wie ich kaum fassen konnte, dass es irgendjemanden geben könnte, den das interessiert.

Plötzlich sprach die Dame mit dem Büstenhalter einen Satz, den ich seit dem nie mehr vergessen habe. Sie sah mich auffordernd an, hielt den Kopf ein wenig schief, lächelte, kreuzte die Hände über der Brust und versprach, als wäre sie von ihm berauscht: „In diesem Büstenhalter fühlen Sie sich zehn Jahre jünger!“

Ich war wie elektrisiert, mein ganzer Körper vibrierte. Ich verstehe! Das ist es also!, schloss ich messerscharf. Deshalb bringen sie es in einem so wichtigen Ding wie dem Fernsehen. Man fühlt sich zehn Jahre jünger!

Meine Gedanken überschlugen sich und ich wurde ganz kribbelig. Die Dame mit dem Büstenhalter wiederholte es noch mehrere Male – eindringlich und leidenschaftlich. Wahrscheinlich, damit es auch jeder mitbekam. Zehn Jahre jünger! Ich war noch keine zehn Jahre alt. Wenn ich also nun diesen Büstenhalter anzöge, dann würde ich erfahren, wo ich war, als es mich auf dieser Welt noch gar nicht gab! Ich zitterte vor Aufregung. Was für eine Vorstellung! Kein Mensch hatte mir bis zu diesem Tage eine befriedigende Antwort geben können auf meine Fragen, wo ich vor meiner Geburt war, wo ich gewesen bin und wo die Seelen der Toten hingingen, die auf dem Friedhof lagen, den ich an der Hand meiner Tante Sophie immer besuchte, um die Gräber der Familie zu pflegen. Selbst meine Tante Sophie, die eigentlich meine Großtante war und von der ich glaubte, sie sei mit dem gesamten Wissen der Welt ausgestattet, konnte mir keine Antworten geben. Jetzt schimmerte Hoffnung durch diesen schweren undurchsichtigen Vorhang der Antwortlosigkeit. Wenn ich spüren und erleben dürfte, wo ich herkam, würde das sicher die meisten meiner Fragen beantworten. Was für eine Aussicht! Ich war unendlich gespannt.

Inzwischen waren die Mainzelmännchen bereits einige Male über den Bildschirm geflimmert, aber ich nahm nichts mehr war. Ich dachte nur noch an den Büstenhalter. Den musste ich haben! In jedem Fall! Und meine Gedanken kreisten darum, wie ich einen Erwachsenen dazu bewegen könnte, mir erstens zuzuhören und zweitens diesen Büstenhalter zu besorgen. Über meine physische Entwicklung wusste ich auf jeden Fall so viel, dass es noch einige Zeit dauern konnte, bis man mir den Büstenhalter aus rein praktischen Gründen gekauft hätte. So lange konnte ich nicht warten.

In meiner Euphorie über die mögliche Zeitreise machte ich einen großen Fehler. Ich zog meinen Vater ins Vertrauen. Ich weiß noch genau, wie ich vor ihm stand, um ihm zu erklären, dass und warum ich diesen besonderen Büstenhalter gerne, unbedingt und auf jeden Fall haben musste. Ich war ein wenig besorgt, dass er denken könnte, es könne irgendein Büstenhalter sein, den ich gerne hätte. Ich wusste, meine Mutter hatte genug davon. Aber ich wollte nur diesen einen aus der Fernsehwerbung!

Verständnislos blickte mein Vater auf mich herunter und ich bin mir sicher, er hielt es wohl für eine entwicklungspsychologische Irritation seiner Tochter. Er rang um Erklärungen und wirkte genervt, als ich nicht locker ließ. Das war er von mir nicht gewohnt. In der Regel schüchterte er mich bereits beim ersten strengen Blick ein. Ich spürte: Ihn weiter um den Büstenhalter anzubetteln, war Zeitverschwendung.

Damit hatte ich eine große Chance vertan. Ich hätte es besser vorbereiten müssen, einen geeigneteren Zeitpunkt wählen sollen. So ein Mist! Was sollte ich jetzt nur tun? Hätte ich etwas Geld besessen, wäre ich losgezogen, den Büstenhalter zu kaufen. Ich musste mich jemandem anvertrauen, der Geld hatte, viel Geld, und mich verstand. Wer konnte das sein? Mit einem Herz voller Verzweiflung ließ ich mich ins Bett abkommandieren. Nur schlafen konnte ich nicht.

Für mich waren die Erwachsenen eine Art verschworene Gemeinschaft, die die wichtigen Dinge des Lebens für sich behielten und sich im Beisein von Kindern über Metaphern und Augenzwinkern verständigten. Mit Metaphorik und Gleichnissen kannte ich mich aus. Ich war ein großer Fan der Evangelien, in welchen es hieß: Mit dem Himmelreich ist es wie mit diesem und jenem. Das Evangelium Matthäus 25,14-30 und Lukas 19,12-27 faszinierte mich besonders. Es handelt von dem Mann, der auf Reisen ging und seinen Dienern Talente überließ mit der Aufgabe, diese zu mehren. Damals, so erinnere ich mich, war ich schon fest entschlossen, meine Talente nicht in der Erde zu vergraben.

Ich hatte dieses verschwörerische Verhalten der Erwachsenen mehr als einmal beobachtet. Ich hatte gesehen, wie sie sich vielsagend ansahen, wahrgenommen, wie sie plötzlich aufhörten zu sprechen, oder so taten, als wäre dies und das belanglos, wenn ich den Raum betrat. Es musste ungeheuer bedeutend sein, was sie über die Geheimnisse des Lebens wussten. Wenn ich in diese Geheimnisse irgendwann eingeweiht würde, raubten sie mir den Atem, da war ich mir sicher. Vielleicht würde mein Herz sogar für einen Moment stillstehen. Aber mit einem so kleinen Mädchen wie mir sprach eben niemand. Auch der Geschwätzigste unter ihnen nicht. Man sprach sogar in meiner Gegenwart meistens über mich. Oder eben zu mir. Das waren dann in der Regel Anweisungen. Man würde mir nichts, gar nichts erzählen!, dachte ich resigniert und haderte mit meiner gesellschaftlichen Stellung, meinem Alter und meinem Dasein als Kind. Obwohl ich damals schon ganz sicher wusste: So wie die Großen will ich nicht werden. So nicht! Ich werde ein anderer Erwachsener. Ein lieber Erwachsener, ein zugewandter Erwachsener. Und nicht so elend langweilig. So nervig.

Ich könnte an dieser Stelle noch berichten, was ich alles unternommen habe, um die heiß ersehnten Antworten auf alle meine Fragen zu bekommen. Ich lernte zum Beispiel sehr früh lesen und las alles, was ich in den Regalen meiner Eltern und meiner Großtante an Gedrucktem fand. Irgendwann konnte ich es einfach. Lesen. Die Buchstaben hatte ich mir in dem ein- oder anderen Heimatblättchen erarbeitet, Bilder und Buchstaben kombiniert. Gehört, was meine Großtante sagte oder vorlas. Nachgeschaut, wie es geschrieben war. Ich war fasziniert, dass Nichtlesen ab sofort nicht mehr möglich war. Das meiste, was ich in Büchern, in Zeitungen, auf Beipackzetteln und Gebrauchsanweisungen entzifferte, verstand ich noch nicht oder brachte es in einen völlig falschen Zusammenhang. Im Liboriusblatt, der Zeitung aus der Metzgerei, im Lukkulus und in der Kirchenzeitung las ich die Witze. In derFrau und Mutter gab es keine Witze. Daher hielt ich die Zeitung für ernst und langweilig. Eine Zeitung ohne Witze war keine gut gelaunte Zeitung. Warum lesen Erwachsene diese ernsten Zeitungen?, fragte ich mich. Wieso freuten sie sich eigentlich nicht den ganzen Tag, sie waren doch frei? Nur Kinder hielt man irgendwie in unsichtbaren Mauern gefangen.

An der Bibel, sie stand bei Tante Sophie in mehreren Ausgaben im Regal, faszinierten mich die Ziffern vor den Zeilen. Ich sah die Bibelexemplare ehrfürchtig an und dachte: Ja, wenn sie das Geschriebene nicht abgezählt hätten, würden sich sicher alle in diesem dicken Buch mit den dünnen Seiten und den langen, langen Texten mit den klitzekleinen Buchstaben verlieren oder gar einige Zeilen vergessen. Ob das je schon einmal ein schlauer Mensch ALLES gelesen hat?

Manchmal blieb ich bei den Versen des Alten Testamentes hängen und sah den erhobenen Finger wie ein Wasserzeichen durch die Zeilen schimmern. Unverständlich und sehr beunruhigend empfand ich im Neuen Testament das Evangelium nach Johannes. Mit jemandem darüber zu reden, getraute ich mich nicht. Sie hätten ja dann gemerkt, dass ich lesen konnte und dann wahrscheinlich die interessanteste Lektüre vor mir verschlossen oder versteckt. Das durfte auf keinen Fall geschehen, wurde doch meine Neugier auf das Lebendige und das, was die Welt im Innersten zusammenhält, immer größer, je mehr ich las.

Einmal war es nahe daran, dass mein Geheimnis aufgedeckt worden wäre. Tante Sophie und ich schnitten mit Wonne die Milchpunkte von den Milchtüten aus. Die schickten wir ein und bekamen wunderschöne Bildchen zu den verschiedensten Themen, wie Tieren, Pflanzen oder fremden Ländern. Die dazu gehörenden Sammelalben bestellte Tante Sophie gleich mit. Ich sehe uns beide im kleinen Esszimmer: Sie saß am Tisch, hatte ein Album vor sich liegen und ich stand schräg dahinter und schaute über ihre Schulter. Wir sortierten Bilder ein, blätterten immer wieder die Seiten um und sprachen darüber, was auf den Bildern zu sehen war, manchmal stundenlang. So hatten wir einmal neue Tierbilder einzukleben und ich las ihr wie sonst auch den Text auf den Bildern vor. Das kam ihr nicht seltsam vor, weil sie wohl dachte, ich würde die Tiere erkennen und benennen. Als ich aber nun auch exotische Exemplare, die mir eigentlich nicht bekannt sein konnten benannte, stutzte sie: „Sag' mal, kannst du das lesen?“ Ich hatte sie gefragt, was ein Gürteltier sei. Mir wurde ganz warm. Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf stieg. Gut, dass sie mein Gesicht in diesem Moment nicht gesehen hatte. Ich habe nichts darauf geantwortet und sie hat auch nicht mehr gefragt.

Ich kontrollierte in den darauf folgenden Tagen die Bücher in den Regalen und an den verschiedenen Plätzen. Offensichtlich war nichts weggeräumt worden. Also, falls sie eine Ahnung hatte, sagte sie nichts. Das tat sie oft: nichts sagen.

Wie auch immer – ich lag im Bett, ertrug das Geschnatter meiner kleinen Schwester und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sie war, Gott sei Dank, mit dem Schlafsack am Bett festgebunden. Wie meistens, hatte sie überhaupt keine Lust zu schlafen und war hellwach. Wenn ich ihr keine Antwort gab, wurde sie immer lauter und eindringlicher. So konnte ich mich nicht konzentrieren. Also gab ich ihr Antworten. Irgendwann war sie dann eingeschlafen und ich hatte die nötige Ruhe nachzudenken.

Endlich konnten meine Gedanken einen Faden zum heiß ersehnten Büstenhalter spinnen: Ich müsste zu Gertruds Laden, er lag etwa sechshundert Meter vom kleinen Häuschen entfernt. In diesen Laden wurde ich hin und wieder von den Damen meiner Familie mitgenommen, wenn diese sich dort mit Unterwäsche, neuen Pullovern oder Wolle versorgten. Ich liebte es Susanna, Sophies Tochter, meine Mutter oder Tante Sophie zu Gertrud zu begleiten. Gertrud war eine sehr freundliche Frau mittleren Alters, immer perfekt gekleidet und mit äußerst gepflegten Händen. Wenn sie auf die Leiter stieg und zum Beispiel einen Pullover aus den hohen Regalen holte, breitete sie ihn anschließend auf der Ladentheke aus und ihre Fingernägel klimperten dabei auf dem Glas der Thekenoberfläche. Ich war jedes Mal hingerissen. Dabei sah sie ihre Kunden fragend an. Dann wartete sie ab. Dann strich sie wieder über den Pullover, beschrieb, was man alles mit ihm machen könnte und wie er zu pflegen sei, sagte „Hmhm“ und aus welchem Material er wäre und klimperte dabei. Sie machte das einfach toll. Außerdem roch es in dem kleinen Ladengeschäft immer ganz wunderbar nach frischer Wäsche. Und Gertrud verkaufte auch Büstenhalter! Das wusste ich genau. Sie hatte bestimmt auch die neusten Modelle. Klar hatte sie diesen Büstenhalter aus der Reklame im Fernsehen! Die Frauen mussten doch Schlange danach stehen. 10 Jahre jünger! Ich war wie besessen darauf, diesen Büstenhalter anzuziehen, nur ein einziges Mal. Völlig egal, dass er mir nicht passte. Darüber machte ich mir gar keine Gedanken. Er wirkte bestimmt, auch wenn man ihn nur über die Schulter legte. Und selbst, wenn er mich nur fünf Jahre jünger gemacht hätte – es würde reichen, um zu entdecken, wo ich damals war. Und wer ich war. Und bei wem ich war – bevor meine Mutter mich geboren hatte. Ich spürte ein aufgeregtes Kribbeln im ganzen Körper. Konnte es etwas Interessanteres geben?

Ich musste warten, bis mich wieder jemand mit zu Gertrud nahm. Das wäre eine Strategie. Und dann? Es wäre Tante Sophie sicher unangenehm, wenn ich Gertrud einfach fragen würde, ob ich den Büstenhalter einmal anfassen dürfte. Das hätte ja möglicherweise gereicht. Was würde Tante Sophie dazu sagen? Sie wäre sehr peinlich berührt, würde es herunterspielen und ich wäre zwar bei Gertrud, aber den Büstenhalter würde ich nicht bekommen. Immerhin wusste ich, dass Büstenhalter etwas sehr Privates waren. Und nur etwas für Mädchen und Frauen, die bereits groß waren und einen Busen hatten. Ich war weder groß, noch hatte ich einen Busen. Heimlich, wenn ich mich unbeobachtet fühlte, betrachtete ich mich im Spiegel. Meine sehr helle, fast weiße Haut hatte dort, wo Frauen einen Busen hatten, nicht mehr als zarte, rosa Flecken. Ich erinnere mich, wie enttäuscht ich war: über meinen Körper und das langsame Wachstum.

Ich überlegte was Susanna, Sophies Tochter, wohl sagen würde. Sie würde sicher eher lachen und sich mit dem Zeigefinger an die Stirn tippen. „Du spinnst doch wohl“, sagte sie manchmal, wenn ich Fragen stellte, die ihr komisch vorkamen. Falls sie mich verstand, würde sie mir den Büstenhalter kaufen können? Eher nicht, verwarf ich die Überlegung wieder, sie war eine junge Lehrerin. Sie hatte bestimmt nicht genug Geld. Was meine Mutter sagen oder machen würde, dachte ich vorsichtshalber nicht. Sinnlos, darauf auch nur einen Gedanken zu verschwenden, sie würde mir nicht einmal zuhören.

Was gab es noch für Möglichkeiten? Gab es überhaupt irgendjemand, den ich ins Vertrauen ziehen konnte, der mich verstand und der dann auch noch mit mir zu Gertrud ging, um mir den Büstenhalter zu kaufen? Nein, außer Kopfschütteln der Erwachsenen war auf geradem Wege einfach nichts zu erreichen. Da war ich mir sicher. Leider. Ich durfte jetzt auf keinen Fall noch einen Fehler machen. So einen wie mit Papa. Nur war Geduld damals wie heute nicht meine Stärke. Ich wollte diesen Büstenhalter – sofort!

Offensichtlich hatte ich keine andere Wahl: Ich musste es bis auf die Straße schaffen und dann den Bürgersteig entlanglaufen. Bis dahin war es in jedem Fall machbar, überlegte ich. Aber dann? Wie sollte ich in das Geschäft kommen? Ohne Schlüssel? Ich musste in den Laden einbrechen! Bei dunkler Nacht. So wie es Einbrecher gewöhnlich tun. Sie schleichen nachts zum Einsatzort und schlagen Fenster ein. Das hatte mir mein Opa oft erzählt. Der sprach immer von Spitzbove – Spitzbuben. Dann stehlen sie sich heimlich hinein, klauen Gold und Silber, so beschrieb es mein Großvater, und gingen wieder. Einbrechen war meine einzige Chance. Was für ein Wahnsinn! Der Gedanke daran machte mich ganz elend. Das wäre das Aus für mich als gutes Christenkind. Jesus würde mich sicher fallen lassen. Oder? Nein, der würde mir wahrscheinlich wenigstens zuhören.

Jesus, das wusste ich, war nicht zuständig für Büstenhalter – aber er ist zu den Menschen gekommen, so hatte es der Pastor doziert. Dazu zählte ich doch auch, oder sind Kinder für Gott nicht oder noch nicht richtige Menschen? Sicher war ich mir da keineswegs. Ich wusste aber, er hatte gesagt: „Lasset die Kindlein zu mir kommen.“ Also würde ich zu ihm kommen dürfen. Und er würde verstehen, warum ich unbedingt und ganz dringend wissen musste, woher ich komme und wie es vor meiner Geburt war. Wer ich war. Wer ich jetzt bin und wer ich noch werden würde. Er würde mich nicht wegschicken. Da war ich mir absolut sicher. ER würde mich verstehen und mir zuhören. Wenn ich mit ihm reden könnte, bräuchte ich vielleicht den Büstenhalter gar nicht. Und? Wo blieb er jetzt? „Jetzt liege ich hier im Bett und bräuchte dringend Antworten!“ Ich lauschte in die Stille, hörte meine Schwester atmen, unten den Fernseher meiner Eltern, aber Jesus hörte ich nicht. Ich erinnere mich genau, dass mir damals klar war: Würde ich nur Geduld haben, könnte ich ihn bestimmt irgendwann hören. Aber irgendwann war mir einfach zu spät! Außerdem war mein Ansinnen, einen Büstenhalter zu nutzen, wahrscheinlich höchst unverschämt und viel zu fordernd. Du hast nichts zu wollen! Das war ein Standardsatz, wenn ich mit den Worten begann: „Ich will …“ In diesem Fall würde sich die Antwort wahrscheinlich ungefähr so anhören: „Die armen Negerlein in Afrika haben nicht einmal etwas zu essen und du, böses Mädchen, möchtest einen Büstenhalter!“ Wahrscheinlich würde Jesus sich eher um die armen Kinder in Afrika kümmern. Wenn ich nicht aufessen wollte, fragte mein Vater jedes Mal vorwurfsvoll: „Was sollen die armen Negerlein in Afrika sagen? Die haben nur ein Baströckchen an und müssen Bananen essen, sonst haben sie nichts.“ Ich hörte ihm jedes Mal grimmig zu, hielt schön meinen Mund und beneidete die kleinen Negerlein im Stillen. Nicht um die Baströckchen, aber darum, dass sie den ganzen Tag Bananen essen durften, statt des von mir so ungeliebten Fleisches. Und irgendwie auch, weil sie so herrlich weit weg waren. Irgendwo, frei von Erwachsenen und Zwängen sah ich sie am blauen Meer unter Palmen auf weißem Sand sitzen und Bananen essen. Aber: Wenn ich die Wahl gehabt hätte zwischen den leckersten Bananen und dem Büstenhalter, ich hätte mich immer für den Büstenhalter entschieden. Was war schon eine Banane gegen eine Zeitreise?

Da Jesus, so meine Gedanken, sicher das Überleben über meine Luxusforderungen stellen würde, wären ihm die Negerlein wichtiger. Also würde er nicht mit mir reden. Er würde mich fallen lassen und auch nichts sagen. Und auch dieses Nichtssagen wäre schwerer auszuhalten, als jede Schimpftirade meiner Eltern. Und die würden nicht nur schimpfen. Sie nannten es drüber hauen. In meiner Erinnerung wurde oft drüber gehauen.

Ich konnte es drehen und wenden wie ich wollte – ich musste mir den Zugang zu diesem Büstenhalter ergaunern. Auf ehrlichem Weg war da nichts zu machen. Die Folgen, wie schlimm sie auch wären, musste ich in Kauf nehmen. Also plante ich den Einbruch. Was blieb mir übrig?

Meine Schwester und ich waren abends – gefühlt oft – alleine im kleinen Häuschen. Wenn meine Eltern ausgingen, machten sie einfach eine Kette von außen vor die Kinderzimmertür. Ich erinnere mich noch genau an die quälende Angst, die ich jedes Mal ausstand. Dieses Gefangensein im Kinderzimmer! Ich kann mich noch an mein Körpergefühl erinnern, meinen Herzschlag spürte ich jedes Mal in meinen Ohren. Meine Angst legte sich wie eine Hülle um mich herum, schwer und neblig. Es war, als wäre ich in meiner Angst gefangen und irgendwie kam ich mit dem Atemholen nicht mehr nach. Sie war grauenhaft, diese Angst.

Ich wusste, meine Schwester und ich würden in der Falle sitzen, falls ein böser Mensch, ein Spitzbov, ins Haus käme, zum Beispiel durch die niedrigen Fenster des Wintergartens, um zu klauen. Hatten meine Eltern überhaupt Silber und Gold? Es konnte auch ein Feuer ausbrechen und dann würden wir keine Chance zur Flucht haben. Das wusste ich von den Feuerwehrmännern, die kurz vor Weihnachten immer die riesige Tanne vor dem Haus mit einer Lampenkette schmückten. So etwas tat die Feuerwehr damals noch für einen Kasten Bier. Ich habe zugesehen und weiß noch, wie beeindruckt ich war, als sie die große Leiter ausfuhren, zu mehreren hochkletterten und die Glühbirnen anbrachten. Einer der Feuerwehrmänner erklärte mir lang und breit, dass unser altes Fachwerkhaus sehr schnell brennen würde. Und wir, meine Schwester und ich, würden aus dem Fenster unseres Kinderzimmers im ersten Stock nicht springen können.

Ich habe meine Eltern zwar angebettelt und gefleht, sie mögen doch bleiben oder uns mitnehmen, aber das haben sie wohl nicht gehört. Kindern hörte man nicht zu, damals in den 60ern. Die Erwachsenen waren mit sich und den wichtigen Dingen beschäftigt. Das hatte ich kapiert. Es war zum Verzweifeln. Wenn man wollte, dass einem jemand zuhörte, musste man wohl erwachsen sein. Ich hatte eine Ahnung, dass das noch lange dauern konnte.

Wenn meine Eltern abends also wieder einmal weggingen, meistens über die Straße zu Tante Sophie, dann müsste ich die Tür öffnen. Vorher müsste meine kleine Schwester eingeschlafen sein. Die würde sonst mitkommen wollen. Das wäre dann das Aus. Ich allein konnte vielleicht über die Mauer klettern und dann im Schatten der Häuserwand oder der Bäume auf den Wiesen entlang bis zu Gertruds Haus laufen. Aber mit Beatrix – ausgeschlossen. Also musste ich warten. Auf die eine Gelegenheit. Und wenn diese kam, durfte ich es nicht vermasseln. Es gäbe keine zweite Chance! Falls etwas schief laufen würde, müsste ich womöglich ins Gefängnis. Wahrscheinlich bis zu meinem zehnten Lebensjahr – dann würde es zu spät sein. Die Gelegenheit wäre unwiederbringlich vorbei und meine Sehnsucht, alles zu erfahren über mich, die anderen, das was nicht sichtbar war, die andere Welt, von der ich überzeugt war, dass es sie gab, wäre verloren. Für immer.

An den nächsten Abenden kam die Reklame wieder und mein Plan wurde konkret: Als Erstes musste die Kette weg.

Ich probte die Entfernung der Kette an der Kinderzimmertür tagelang, wochenlang, bis es klappte. Dazu stellte ich mich auf ein Höckerchen und ertastete mit der Hand durch den Türspalt die Kette. Vorsichtig schob ich den Kettenkopf entlang der Führung. Das war ein kritischer Moment. Der Kettenkopf durfte nicht herausfallen, denn wenn die Kette nicht mehr vorgelegt gewesen wäre, hätten meine Eltern Verdacht geschöpft. Das war gar nicht so einfach, aber ich war höchst motiviert und probierte tagelang, besser gesagt nächtelang, bis es klappte. Manchmal gelang es mir, manchmal nicht. Aber ich wurde immer geschickter.

Dann endlich, an einem Abend kurze Zeit später, spürte ich die Aufbruchstimmung. Meine Eltern rüsteten sich mal wieder zu gehen und ich war bereit. Sie brachten uns ins Bett, stießen noch ein paar wüste Drohungen aus für den Fall, dass wir nicht lieb wären, und gingen. Die Haustür fiel ins Schloss. Dann war es ruhig. Aber nur kurz. Meine kleine Schwester hatte bereits damals eine alle Materien durchdringende Stimme. Sie knöpfte sich den Schlafsack auf, stellte sich in ihrem Gitterbettchen auf, rüttelte an den Stäben und brüllte mich auffordernd an: „Bomm … bomm …“ Das hieß: Komm' und spiel` mit mir!

Ungeduldig kam ich dieser Aufforderung so lange nach, bis sie endlich erschöpft einschlief. Ich vergewisserte mich, dass sie auch wirklich eingeschlafen war, indem ich sie mehrfach anstupste. Sie nuckelte an einem nicht vorhandenen Schnuller. Nur ein Schmatzen war zu hören und die tiefen, regelmäßigen Atemzüge eines Babys.

Also los! Ich schob den Hocker bis zur Tür, kletterte hinauf und drückte die Klinke hinunter. Mit geübter Hand ertastete ich draußen die Kette, mit der anderen zog ich die Tür gefühlvoll etwas aus der Spannung – genauso viel, wie es brauchte, um die Kette langsam, Stück für Stück, aus der Führung zu schieben. Und siehe da: die Kette fiel herunter und klackerte außen gegen die Tür. Besorgt sah ich zu meiner kleinen Schwester. War sie aufgewacht? Nein, sie lag nass geschwitzt verkehrt herum in ihrem Bettchen und schnarchte regelmäßig. Erleichtert atmete ich auf.

Dann rutschte ich die steile Treppe am Geländer hinunter. Für die Treppenstufen war keine Zeit. Heute war nicht der Abend für Angst. Heute könnte ich es erfahren. Unten angekommen, schlich ich mich zur Haustür, öffnete sie, huschte hinaus und ließ sie leise hinter mir ins Schloss fallen. Ich lief über die Waschbetonfliesen, die mein Vater zu einem Weg ums Haus herum durch den Garten in den Rasen gelegt hatte. Mist! Ich hatte vergessen, meine Schuhe anzuziehen. Die Steinchen pikten mich in die Fußsohlen, aber ich konnte an diesem Abend nicht an alles denken. Dann musste es jetzt eben barfuß gehen. Indianer kennen keine Schmerzen! Heute Abend war ich eben ein Indianerkind.

Ich hatte die Kette besiegt, jetzt musste ich nur noch über die Mauer klettern und mich an der anderen Seite vorsichtig herunterlassen. Dumm nur, dass genau an diesem Abend, an dem alles wie am Schnürchen geklappt hatte, auf der anderen Seite der Mauer dieser Mann mit Hut und dunklem Mantel auf den Bus wartete. Der Mann war genauso überrascht wie ich. Er blickte auf mich herab und fragte mich in diesem keinen Widerspruch duldenden Ton, in dem man in den 60ern zu Kindern sprach, was ich auf nackten Füßen und nur mit einem Nachthemd bekleidet und überhaupt um diese Uhrzeit hier zu suchen habe. Mein Herz klopfte so, dass ich dachte, mein ganzer Körper zucke im Takt des Herzschlages und der Mann könne es schlagen hören. Was sollte ich sagen? Ich konnte ihm ja schlecht erklären, ich sei auf der Jagd nach einem Büstenhalter. Das ließ ich vorsichtshalber. Also stotterte ich, dass ich meine Eltern suchen würde und die seien bestimmt bei der Tante Sophie gegenüber.

„Aha, Tante Sophie! Na, das werden wir ja sehen!“ Entschlossen packte er mich mit Schraubstockhänden und brachte mich über die Straße. Ich hoffte, er würde mich nun loslassen und seiner Wege gehen. Leider sah er es als seine Pflicht an, mich persönlich bei Tante Sophie abzugeben. Ich musste ihm die Haustür zeigen, er klingelte und mit dem Öffnen der Tür brach in mir meine kleine Einbruchs-Büstenhalter-Klauen-und-endlich-wissen-woher-ich-komme-und-was-ich-hier-auf-Erde-eigentlich-soll-Welt zusammen und die Strafe über mich herein.

Mein Vater wartete noch, bis der hilfsbereite Herr in Schwarz über die Straße in Richtung Bushaltestelle verschwand, und ging dann auf mich los: „So, Frollein! Das darf doch nicht wahr sein!“, stieß er hervor und prügelte auf mich ein. Mein Vater verstand da keinen Spaß. Gewöhnlich legte er mich über seine Knie und hieb feste auf mein Hinterteil. Manchmal zog er mir noch die Hose aus und schlug mir auf den nackten Po. Jedes Mal dachte ich: Jetzt ist alles vorbei. Das Leben. Und sie werden mich nie wieder lieb haben. Das wird nie wieder gut. Es tat schrecklich weh. Es war demütigend und auf eine bestimmte Art auch sadistisch. Offensichtlich waren diese Grausamkeiten Kindern gegenüber alltäglich und wurden von jedem Erwachsenen gebilligt und gelebt.

Es war Tante Sophies Beschwichtigungen („Bruno, hör doch auf, es ist jetzt gut!“) zu verdanken, dass es diesmal einigermaßen glimpflich für mich abgegangen war. Aber ich fühlte mich, wie immer, sehr elend. Ich überlegte, ob das Sich-elend-Fühlen daher kam, dass ich eigentlich gar nichts Böses wollte? Und ob ich mich auch so elend fühlen würde, wenn ich etwas richtig Böses mit voller Absicht getan hätte?

Jedenfalls wurde ich unter Schimpfkanonaden („Das Kind ist doch wirklich schwierig und nervig! Nicht einmal abends können wir weggehen, ohne dass dieses blöde Stück uns das Leben schwer macht!“) und wüsten Drohungen für den Wiederholungsfall wieder in mein Bett verfrachtet. Was für eine Last war ich doch meinen Eltern! Fast hätte ich resigniert. Mir war nach Ruhe, nach Aufgabe zumute.

Am nächsten Tag ließ sich mein Vater zeigen, wie ich die Kette hatte entfernen können: „Los, Frollein, zeig' mir mal, wie einfach es ist, die Kette aufzumachen! Was glaubst du, warum ich die angebracht habe? Damit du wegläufst? Mädchen, Mädchen!“, drohte er mir mit erhobener Hand wie so oft und ich hoffte inbrünstig, die Hand würde diesmal nicht auf mich niedersausen. Dann schraubte er, immer noch schimpfend, die Kette so an, dass sie für mich nicht mehr zu erreichen war. Angeblich wegen der steilen Treppe – damit wir nicht hinunterfielen. Nachts war sie wahrscheinlich steiler als am Tage. Tagsüber gab es keine Kette. Was die Erwachsenen nicht wussten: Wenn es keiner sah, rutschte ich sowieso am Treppengeländer hinunter. Das schien mir sicherer, als die steilen Stiegen zu benutzen.

Als ich an einem der nachfolgenden Tage wieder einmal an der Hand meiner Tante bei Gertrud im Laden war, nahm ich all meinen Mut zusammen, fragte Gertrud nach dem Zauberbüstenhalter und erzählte von der Reklame im Fernsehen. Ihr Gesicht verzog sich zum Schmunzeln. Oh, den Büstenhalter, den führe sie gar nicht, sagte Gertrud. Man müsse nicht allen neumodischen Kram mitmachen. Tante Sophie pflichtete ihr bei und rasch waren die beiden in ein Gespräch über die Segnungen und Schattenseiten des modernen Lebens vertieft. Der moderne Kroom, wie sie es nannten, der aus Amerika und England herüber schwappte, nahm keine gute Entwicklung. Vor allem die Beatles seien sehr gefährlich mit ihren langen Haaren! Damals hielten sie jeden jungen Mann mit langen Haaren für einen Beatle. Ungepflegt. Bah! Was sollte nur aus dieser Welt werden, wenn die eines Tages an die Regierung kommen! Jetzt, wo Adenauer nicht mehr lebte und nun auch Bobby Kennedy brutal erschossen worden war! Die letzte Hoffnung der westlichen Welt! Was sollte nur aus uns werden! So lamentierten Tante Sophie und Gertrud voller Sorge und waren offensichtlich in allen wichtigen Punkten einer Meinung.

Als ich mit Tante Sophie aus der Tür des Ladens trat, fiel mein Blick geradewegs auf das große Wegkreuz gegenüber der Straßenkreuzung. Das war sicher ein Zeichen, durchfuhr es mich: Jesus hatte mir doch geholfen und mich davor bewahrt, ins Gefängnis geworfen zu werden. Und davor, meinen Eltern und Tante Sophie eine solche Schande zuzufügen. Schlimm genug, dass ich schwierig war, ohne dass noch alle im Dorf auf meine arme Familie gezeigt und getuschelt hätten: „Stell' dir vor, die Anna ist im Gefängnis!“ – „Ach, das ist das Kind mit dem Büstenhalter … ha, ha, dass ihr so ein Kind habt …“ Und meine arme Familie wäre sehr beschämt gewesen, weil sie so ein dummes, neugieriges und problematisches Kind in ihren Reihen hatte.

Vorsichtshalber, und voller Angst vor neuen Schwierigkeiten, verbat ich mir, weiter über neue Pläne der Büstenhalter-Beschaffung nachzudenken, denn der Teufelsgedanke kam immer wieder: Irgendwo muss es doch diesen Büstenhalter geben!, nagte es an mir. Es kaufen doch Frauen diesen Büstenhalter, die Frau im Fernsehen hat auch einen! So funkten die bösen Gedanken immer wieder in mein Bewusstsein hoch und ich hatte große Mühe meine unstillbare Neugier auf die Zeitreise zu unterdrücken und ein liebes Kind zu sein.

Alles in allem habe nicht verstanden, warum die Erwachsenen so gleichgültig gegenüber den wichtigen, existenziellen Fragen des Lebens sein konnten, wo doch die Antwort so einfach, mit dem richtigen Büstenhalter, zu finden war.

Von einer, die auszog, einen Büstenhalter zu stehlen

Подняться наверх