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Ich klopfe an die Tür und hoffe, auf eine Frau zu treffen, die mich erkennt. Nicht mein Gesicht oder meinen Namen, sondern als Mensch. Die mich sieht, mich hört, mich spürt, ohne dass ich über meine Hautfarbe definiert werde, ohne dass ich die Fassade, die nun mal mein Gesicht ist, erklären muss. Ich fühle mich wie die wissbegierige Schülerin, die ich einst war, und bin bereit zu lernen, zu begreifen, mich einfach leiten zu lassen.

Inzwischen bin ich 47 Jahre alt und habe gerade die Rolle der Eva in Burhan Qurbanis Kinoadaption des Romanklassikers Berlin Alexanderplatz bekommen. Ein schwerer Stoff, an den sich Burhan da gewagt hat. Doch in seinem Drehbuch spielt die berühmte Geschichte des Franz Biberkopf nicht im Berlin der 1920er-Jahre, sondern im Berlin der Gegenwart. In Burhans Berlin Alexanderplatz ist überhaupt alles anders und dennoch ganz nah an Alfred Döblins Roman. Eva ist Schwarz statt schwarzhaarig. Franz Biberkopf kommt nicht aus dem Gefängnis, sondern als Schwarzer Flüchtling aus dem Meer. Die Essenz aber bleibt: das Streben danach, gut zu sein, sich zu etablieren in einer feindlichen Gesellschaft. Eva ist in dieser Neufassung eine starke, Schwarze, unabhängige Geschäftsfrau. Was für ein wichtiges Signal in Zeiten wie diesen. Ich habe geschrien vor Glück, als ich die Rolle bekam! Und mich direkt gefragt: Schaffe ich das? Kann ich diesem anspruchsvollen Stoff gerecht werden? Werde ich Eva mit der Authentizität spielen können, die diese Figur verdient?

Ich höre Schritte. Die Tür öffnet sich, und ich begegne der Frau, die mich als Schauspielerin verändern wird.

Ich bin aufgeregt und doch ganz ruhig, denn Lena sieht mich mit ihren durch die Brille fast eulenhaft wirkenden Augen direkt und unvoreingenommen an; sie sieht und nimmt mich mit meinen sportlichen 1,80 Metern an, wie ich bin, und nimmt mir damit die Angst, dieser Herausforderung nicht gerecht zu werden. Ich rede drauflos, lasse zu, dass Lena tief und immer tiefer in mich hineinblicken kann, damit sie versteht, wo die Ressourcen liegen, die ich für mein Spiel nutzen kann. Mein Leben ist durchwachsen von Tiefschlägen, Unfällen, Erfolgen und Misserfolgen, von Enttäuschungen, Wut, Heiterkeit, physischen und finanziellen Kämpfen, um zu überleben, daran zu wachsen und mich zu finden. Als professionelle Autodidaktin habe ich mir alles, was ich kann, selbst beigebracht, habe nie studiert, da ich keinen Studiengang fand, der meiner bunten Seele entsprach, habe nur durchs und vom Leben gelernt.

Schon bald bin ich ziemlich erschöpft, denn mich nur halb zu offenbaren, kommt für mich nicht infrage. Ich gebe mich her. Für Eva. Und Lena forscht und fragt, bis sie findet, was mich erschüttert, und meine Dämme brechen.

»Da musst du hin«, sagt sie, »um deine Tiefe für dein Spiel zu finden. Das ist es, was dich begleitet, seit du allein mit deiner Mutter nach Pakistan musstest. Dort musst du hineinspüren.«

Ich sitze da und heule wie ein Schlosshund. »Das will ich nicht.« Tränen fließen mir übers Gesicht. Auch jetzt, da ich darüber schreibe.

»Doch«, sagt Lena, »diesen Preis musst du zahlen.«

Und so stelle ich mich schließlich meiner größten Lebensangst: meinen Bruder Ousmène zu verlieren.

Überrascht? Das bin ich auch. Natürlich weiß ich, dass mir unsere Abschiede immer schwerfielen. Seit über dreißig Jahren lebt er im Ausland, und wir sehen uns viel zu selten. Doch dass das so tief geht … Meine Eltern ließen sich scheiden, als ich noch miniklein war, gerade mal eineinhalb. Mein Bruder war sechseinhalb, und zusammen blieben wir bei unserer deutschen Mutter, die einen wirklich guten Job machte, um uns zu stärken, damit wir uns behaupten, indem wir Bildung und Zielstrebigkeit in uns aufsaugen. Und das in den Siebzigerjahren. Mein Bruder und ich stritten und liebten uns wie wahrscheinlich fast alle Geschwister; wieso also sitze ich nun völlig aufgelöst bei Lena und putze mir den Rotz aus der Nase? Weil ich zwar um diesen wunden Punkt wusste, ihn bislang aber gekonnt ignoriert habe …

Es gibt Gemeinsamkeiten zwischen der Eva in Berlin Alexanderplatz und mir. Die Zähigkeit, die Loyalität, und geradeaus ist sie auch. Da finde ich mich wieder. In dem Zerrissensein und darin, die eigene Hautfarbe so sehr zu spüren, wie Eva es tut, finde ich mich allerdings nicht. Natürlich bin ich mir meiner Hautfarbe bewusst, dafür sorgt mein Umfeld schon, keine Sorge! Rassismus ist mir mein Leben lang begegnet, Vorurteile haben meine Arbeit als Schauspielerin und Moderatorin beeinflusst und behindert. Aber meine Hautfarbe macht mich auch stark. Ich kann nichts für sie, sie wurde mir in die Wiege gelegt, und ich will keine andere haben. Das wollte ich nie.

Lena sieht mich an und lächelt. Sie gibt mir Tipps und technische Hilfen, damit ich dieses starke Gefühl abrufen kann. Jeder Satz wird auseinandergenommen und in Abschnitte unterteilt, die jeweils einem eigenen Impuls folgen. Danach wird jedem Teil eine Erinnerung oder ein Vergleich zugeordnet, was ich nutzen kann, um mich in das Gefühl hineinzuversetzen.

»Solange du in dir etwas Wahrhaftiges findest, das du direkt oder indirekt für dein Spiel nutzen kannst, wirst du den Zuschauer berühren«, sagt sie. Szene für Szene geht sie mit mir durch, ohne dass es je um den eigentlichen Text geht. Es geht darum herauszufinden, warum Eva so handelt. Was ist ihr Bedürfnis, was ist ihre Fassade, was hindert sie? Das Schauspieler-Einmaleins. Langsam entspanne ich mich. Mit Lena an meiner Seite werde ich die Eva spielen können, ohne sie zu »spielen«. Ich werde ihre Geschichte wahrhaftig erzählen können. So wie ich hier meine eigene erzähle.

Umwege sind auch Wege

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