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Der Wald

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Die Morgenbrise war lauwarm und frisch. Die Tautropfen sonnten sich auf den Blättern der Laubbäume. Um diese Zeit atmeten die Holzbalken des Balkons alle Düfte des Frühlings ein. Ein neues Erwachen. Ein neuer Tag, der unerwartete Geheimnisse bringen könnte, und das in jeder Sekunde. Die Vögel zwitscherten so sorglos und unbeschwert, sodass niemand ahnen konnte, dass dieser Tag Ninas Leben völlig verändern würde.

Am Balkon reflektierten die geflochtenen Holzstühle die Strahlen der Morgensonne. Die Holzstühle wurden durch rosarote Kissen mit weichem Textilbezug gemütlicher, heimischer. Sie umarmten Ninas zarten Po, als sie schläfrig in sie plumpste. Sie nippte an ihrem heißen, süßen Kakao aus ihrer Lieblingstasse. Der laue Wind blies ihr liebkosend durch ihr honigblondes Haar. Ihre fliegenden Haarsträhnen kitzelten die zahlreichen Sommersprossen auf ihrer Nase. Mit ihren blauen Augen beobachtete sie neugierig wie auch der Garten erwachte.

Am Tag zuvor war sie sechzehn geworden. Sie war fast die ganze Nacht wachgeblieben. Ihre Eltern und ihre Freunde hatten ihr langsames Erwachsenwerden gemeinsam gefeiert. Am Tag danach hatte sie nichts vor, außer sich von der Euphorie des Vorabends wieder zu erholen. Als sie ihren Kakao ausgetrunken hatte, entschied sie sich dafür, ihr leichtes Sommerkleid anzuziehen, das im Wind flatterte. Sie liebte es, leichte Seide zu tragen. Sie liebte es, wenn ihr flatterndes Kleid zwischendurch vom Wind hochgeweht wurde, sodass andere Leute ahnungsvolle Blicke erhaschen konnten. Sie fand es sehr aufregend, wenn Männerblicke an ihr hängen blieben, während sie durch die Stadt spazierte. Sie wollte endlich jemandem auffallen.

Sie zog also das auserwählte Kleid an, nahm ihre Bürste, kämmte damit einige Male durch ihr langes, glänzendes Haar und stellte sich vor den Spiegel. Sie fand den Anblick äußerst zufriedenstellend.

Direkt hinter ihrem Haus befand sich ein Wald, der auf Nina wartete. Sie und ihr Vater waren sehr viel in diesem Wald unterwegs gewesen, als sie noch ein kleines Mädchen war. Dieser Wald war ihr Spielplatz. Ihr sicherer Spielplatz. Hier lernte sie zum ersten Mal den Kreislauf des Lebens, die Geburt und den Tod kennen.

Ninas Eltern waren schon fort, als sie aufwachte. Deshalb entschloss sie sich dazu, einen Spaziergang in ihrem alten Freund, dem Wald zu machen, um ihre Langeweile zu vertreiben. Sie ging los, verschloss die Tür und flanierte barfuß über das taunasse Gras. Ihre Haut glänzte im Sonnenlicht, das durch die Bäume strahlte. Auf dem Weg zum Bächlein erkannte sie jeden Baum und Busch wieder. Der Weg schien nicht mehr lang zu sein.

Ein paar Minuten später war sie angekommen. Am Bächlein, an dem sie vor ein paar Jahren noch stundenlang spielen konnte. Sie setzte sich und ließ ihre Beine ins Wasser gleiten. Kleine Wellen tanzten auf ihren Füßen. Das durchsichtige Wasser war der Träger des Lebens, es floss heiter durch den Wald und streichelte die Kieselsteine, die auf dem Bachboden ruhten. Das Wasser schliff sie hunderte und tausende Jahre lang, bis sie rund und seidig waren. Jeder einzelne von ihnen.

Nina genoss die Sonne, neigte ihren Kopf nach hinten und schloss die Augen. Mit tiefen Atemzügen ließ sie den Duft der feuchten Erde in ihre Lunge eindringen. Ihre Gedanken flogen davon und sie flog mit. Die Stille des Waldes holte sie jedoch wieder zurück. Beunruhigt öffnete sie die Augen. Dass die Stille der Vögel immer einen Grund hatte, wusste sie bereits. Sie rechnete damit, dass jeden Moment etwas Unerwartetes passieren könnte. Sie schaute umher, bemerkte jedoch nichts Ungewöhnliches. Sie spürte, dass sie nicht alleine war und dieses Gefühl täuschte sie nicht. Sie hatte Angst sich umzudrehen, weil sie wusste, dass sie wehrlos war. Sie blieb still sitzen und rührte sich nicht. Sie hoffte auf das Wiedererwachen des Waldes und wartete.

Der Mann war groß und schlank. Der Wald diente als sein Versteck und das seit einer Woche. Seine Hauptnahrungsquelle waren die Vorratskammern der Ferienhäuser. Es fehlte ihm jedoch etwas in seinem Leben. Er wollte seine Männlichkeit ausleben. Er sehnte sich nach der leidenschaftlichen Umarmung einer Frau.

Als er aufwachte brach er sofort auf. Jeden Morgen wusch er sein Gesicht im erfrischenden Wasser des Bachs.

Er war noch weit weg, aber doch nah genug, um das frische Fleisch zu riechen. Er bewegte sich langsam und beobachtete das Rehkitz, auf das er schon seit so langer Zeit gewartet hatte. Er kam näher und näher, bis sich das Mädchen in seiner Reichweite befand. Er wollte sie nicht erschrecken, aber er wollte die Chance auch nicht verpassen. Sein Kopf pulsierte. Sein Blut kochte. Er konnte nicht mehr klar denken und sah nur noch ihre appetitliche, unbedeckte Schulter und ihre honigblonden Haare, die wie ein Wasserfall über ihren Rücken fielen und roch nur noch den süßen Duft ihrer Haut. Diesen Duft, den er für immer in seiner Erinnerungen behalten würde. Er konnte seinem Trieb nicht wiederstehen.

Er wusste genau, dass seine wirren, lockigen Haare, sein brauner Stoppelbart und seine zerrissene, schmutzige Kleidung dem Mädchen Angst mache würden. Er dachte nicht lange nach und handelte impulsiv. Schnell wie der Blitz streckte er seine Arme aus und hielt Nina mit beiden Händen fest. Mit seiner rechten Hand bedeckte er ihren Mund und ihre Nase, die linke Hand legte er auf ihren Hals. Er hielt sie so fest er konnte und hoffte, sie würde bald ohnmächtig werden.

Ninas Instinkte setzten aus. Sie vergaß, dass sie einst gelernt hatte, wie sie sich wehren könnte. In diesem Moment ging es nicht mehr ums Leben, sondern ums Überleben. Sie kämpfte und versuchte sich loszureißen. Sie strampelte mit den Beinen, klammerte sich an seinen Händen fest und zog sie nach unten, so fest sie konnte, um Luft zu bekommen. Ihre Adern traten hervor, als sie um ihr Leben kämpfte. Aber sie konnte sich nicht befreien. Die fremden, schmutzigen Hände waren zu stark. Sie hatte das Gefühl, dass die starken Hände sich umso mehr um ihren Hals klammerten, je mehr sie gegen sie ankämpfte.

Langsam verließ Nina die Kraft. Ihre Hände glitten nach unten. Sie strampelte nicht mehr und versuchte auch nicht mehr zu entkommen. Die Umgebung verdunkelte sich. Das Leben verdunkelte sich. Sie schloss ihre Augen und brach zusammen. Aber sie war nicht gänzlich ohnmächtig, sie bekam noch mit, was um sie herum geschah. Sie fühlte die Sonne auf ihrer Haut, fühlte, dass sie auf den Boden gelegt wurde und fühlte die abgestorbenen Blätter, die ihren Rücken kitzelten.

In diesem Moment, als er sie nicht mehr festhielt, hätte sie versuchen können wegzulaufen, aber sie wollte es nicht. Sie hatte Angst, dass sie dann auch der letzte Hauch ihres Lebens verlassen würde. Sie blieb also. Bald fühlte sie nichts mehr und fiel in Ohnmacht.

Endlich konnte er sich sein Rehkitz schnappen. Er dachte nicht darüber nach, dass man ihn bemerken könnte oder, dass das Mädchen noch ein Kind war. Er folgte seinen quälenden Trieben.

Er kniete nieder, öffnete seine Hose und hob das Mädchen hoch. Er drückte sie gegen einen Baum, legte seine Hände auf ihre Hüfte und fing an. Er wollte keine Zeit verlieren. Er hielt sich nicht zurück und erledigte schnell, was erledigt werden musste. Es dauerte nicht lange, bis er alles loswurde, was ihn quälte. Nachdem er fertig war, beharrte er noch eine Weile in seiner Position, um sich der Realität nicht sofort wieder stellen zu müssen. Er beobachtete sein Opfer und ihre zarten Gesichtszüge. Er kniete ein letztes Mal nieder, um die Unschuld des Mädchens noch einmal einzuatmen. Dies war der Moment, in dem Nina aufwachte. Es fiel ihr nicht leicht, ihre Augen zu öffnen, ihre Wimpern fühlten sich zu schwer an. Ihr war noch schwindlig, aufgrund des fehlenden Sauerstoffs. Sie hatte immer noch Angst.

Der fremde Mann stand schnell auf und verschwand zwischen den Bäumen. Nina war allein. Sie lag da und versuchte ihren Körper wiederzubeleben. Sie machte ein paar tiefe Atemzüge, spürte, wie die frische Luft in ihre Lunge gelang und spürte, wie ihre Adern frisches Blut in ihr Herz pumpten. Sie hörte das Wiedererwachen des Waldes. Das Laub der Bäume rauschte im Wind. Die Vögel fingen wieder an zu zwitschern, als wäre nichts geschehen. Langsam kam Nina wieder zu Kräften und öffnete ihre Augen. Sie setzte sich auf und sah sich um. Mit ihren Händen versuchte sie den Schmutz von ihrem Rücken abzureiben. Sie versuchte damit, das Geschehene möglichst schnell wieder ungeschehen zu machen. Sie war verwirrt. Sie wusste nicht genau, was gerade mit ihr passiert war. Sie konnte sich nur an die starken Händen erinnern, die ihr beinahe das Leben genommen hätten.

Aber der Schmerz, den sie spürte, machte die Situation klar. Ihre Scheide schmerzte. Sie spürte, dass eine flüssige Substanz aus ihr floss. Bisher hatte sie von solchen Situationen nur in der Zeitung gelesen, nur in den Nachrichten gehört. Sie versuchte ihren Schicksalsschlag zu akzeptieren. Weiterzuleben mit dem Wissen, dass sie den Moment, nachdem sie sich schon so lange gesehnt hatte, nicht miterlebt hatte.

Sie setzte sich auf, stützte ihren Kopf in ihre Hände und dachte darüber nach, wie wohl der Mann, der zum ersten Mal in ihren seidig weichen Körper eingedrungen war, aussah. Ein paar Minuten lang schaute sie noch gedankenverloren vor sich hin, bevor sie von dem Gedanken an ihre Eltern wieder nüchtern wurde. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie bewusstlos gewesen war. Ihr war aber klar, dass sie sich nun auf den Weg nach Hause machen musste und, dass sie Niemandem erzählen durfte, was passiert war. Sie stand auf, ging ein paar Schritte und kniete sich neben dem Bach nieder. Genau an die Stelle, an der sie vor kurzem noch als unberührtes Kind gesessen war. Sie tauchte ihre Hände ins Wasser, schöpfte ein wenig heraus und wusch ihr Gesicht und ihren Hals. Während die kleinen Wassertropfen ihren Körper berührten, konnte sie sich noch weiter beruhigen. Sie war jetzt so weit. Sie stand wieder auf und machte sich auf den Weg. Sie ging nach Hause in das Haus, das ihr zuvor so langweilig erschienen war, an diesem Tag jedoch der schönste Ort war, den sie sich vorstellen konnte. Mit jedem Schritt wurde ihr klarer, dass sie denselben Weg, den sie vor ein paar Stunden zurückgelegt hatte, nun als neuer Mensch betrat. Das machte ihr wiederum Angst. Sie hatte Angst vor der Wahrheit. Sie hatte Angst vor den Lügen. Sie wollte nicht, dass ihre Eltern sich zu große Sorgen um sie machten und sie nicht mehr alleine aus dem Haus gehen lassen wollten. Sie wollte aber auch nicht, dass ihr Geheimnis sie zerfraß.

Sie machte ganz kleine Schritte, denn der Schmerz hatte noch nicht nachgelassen. Das störte sie nicht. Was sie vielmehr störte war, dass sie wohl nie erfahren würde, wer der Mann war. Sie würde nie erfahren, wie er aussah oder wie er hieß. Sie würde sich nie daran erinnern können, wie er sie angesehen hatte, als ihn seine Begierde übermannte.

Es gab viele Jungs, die von Nina besessen waren. Ihre selbstsichere Ausstrahlung und ihre Schönheit berührten jeden tief im Herzen. Aber Nina wollte schon immer etwas mehr. Sie wollte einen reifen Mann.

Sie war so tief in ihren Gedanken versunken, dass sie fast am Haus vorbeiging. Als sie bei der Haustür ankam, blieb sie vor ihr stehen und starrte sie an. Sie wusste, dass hinter dieser Tür die Rückkehr in die Realität auf sie wartete. Sie wusste, dass sie es sich nicht anmerken lassen durfte, dass sie nicht mehr dieselbe war.

Als sie das Haus betrat, hörte sie Geräusche, die aus der Küche kamen und scheinbar durch fleißiges Arbeiten verursacht wurden. Ihre Eltern waren schon zuhause. Ihre Mutter war gerade dabei, das Abendessen vorzubereiten. Nina wollte eigentlich versuchten unbemerkt in ihr Zimmer zu schleichen, aber unbeabsichtigt blieb sie vor der Küche stehen. Vor der Küche, in der sie und ihre Eltern sich jeden Abend versammelten. Der viereckige Holztisch und die dazu passenden Holzstühle waren ein Symbol für den Zusammenhalt der Familie.

-Wo warst du? Dein Vater und ich haben uns schon schreckliche Sorgen gemacht. Es ist schon vier Uhr nachmittags und du hast noch nicht mal zu Mittag gegessen. Und wie siehst du denn aus? Dein Kleid ist ganz schmutzig. Du warst schon wieder am Bach. Aber den ganzen Tag lang? Ab mit dir ins Badezimmer, mach dich fertig für das Abendessen - wenn ich bitten darf!

Nina bemerkte erst jetzt, dass ihr Lieblingskleid wirklich voller Schmutz war. Auch einen Blutfleck entdeckte sie, ihre Mutter glücklicherweise nicht. Eilig lief sie ins Badezimmer und zog sich aus. Mit kaltem Wasser versuchte sie den Blutfleck händisch auszuwaschen, bevor ihre Mutter Fragen stellen konnte. Das gelang ihr auch. Anschließend warf sie das Kleid in die Wäsche.

Sie stieg in die Dusche und ließ sich warmes Wasser über ihren ermüdeten Körper, ihr mittlerweile zotteliges Haar, ihren Hals und ihre Brüste fließen. Sie sah, wie der Schmutz an ihrem Körper entlang floss. Am Boden der Dusche sammelten sich der Schmutz, das Blut und die Flüssigkeit, die der Fremde in ihr verteilt hatte. Eine halbe Stunde lang stand sie unter der Dusche. Sie hatte das Gefühl, das Wasser würde nicht nur ihren Körper, sondern auch ihre Seele reinigen.

Als sie fertig war, stieg sie aus der Duschkabine, trocknete ihren Körper mit einem weichen Handtuch, stellte sich vor den Spiegel und föhnte ihre Haare. Nachdem diese getrocknet waren, nahm sie frische Unterwäsche aus der Kommode und zog sich ein T-Shirt aus Baumwolle an. Sie band sich noch schnell ihre Haare zusammen und lief dann hinunter in die Küche, als wäre alles ganz normal.

Ihre Mutter gab sich immer Mühe, köstliches, aber auch gesundes Essen für ihre Familie zuzubereiten, so auch an diesem Tag. Heiße Hühnerbrust, Petersilienkartoffeln, Salat, Kuchen und selbstgemachter Apfelsaft. Die köstlichsten Speisen waren aufgetischt.

Bevor sie sich setzte, hatte Nina gar nicht gemerkt, dass sie großen Hunger hatte. Es schien, als wäre sie in ihren Gedanken hängen geblieben. Aber ihre Gedanken verflogen abrupt und sie aß. Sie aß, als hätte sie tagelang nichts mehr gegessen. Sie konnte ihren Blick nicht vom Tisch abwenden.

-Geht es dir gut? Du wirkst traurig. Bloß nicht krank werden. Du weißt schon, dass du in der Schule wichtige Tests vor dir hast. Es wäre nicht schön, wenn du etwas verpassen würdest.

Ninas Mutter sah ihre Tochter besorgt an, während diese, ohne mit der Wimpern zu zucken dasaß und emotionslos die Gabel in ihren Mund nahm.

-Nein Mutter, mir geht es gut. Ich werde in der Schule nicht fehlen. - Nina schaute nicht in die Augen ihrer Eltern, nicht einmal als sie diesen gewöhnlichen, alltäglichen Satz über ihre Lippen ließ.

Sie fühlte sich stark und erwachsen. Stark und erwachsen genug, um ihr Geheimnis für sich zu behalten.

-Na gut! Wenn du fertig bist, kannst du in dein Zimmer gehen. Ruh dich aus. Ich bin mir sicher, dass du viel gewandert bist. - versuchte ihre Mutter Nina zum Sprechen zu bringen.

-Ja sehr viel. - offenbarte Nina. Das war der einzige Satz, den sie an diesem Tag an ihre Mutter richtete. Sie stand auf, schob ihren Stuhl an den Tisch und ging in ihr Zimmer.

Sie ließ sich umgehend auf ihr frisch gemachtes Bett fallen. Die beigefarbene Bettwäsche war schlicht, spiegelte jedoch die Fürsorglichkeit ihrer Mutter wieder, auch wenn das Nina gewöhnlich erschien. Sie war an diese Fürsorge gewöhnt. Das Wasser aus dem Hahn erschien ihr gewöhnlich. Die frische Luft in ihrem Garten erschien ihr gewöhnlich.

Sie deckte sich zu und starrte die Decke an. Sie konnte das Klappern des Geschirrs aus der Küche noch eine Weile hören. Danach kehrte Stille im Haus ein.

Nina konnte nicht schlafen. Sie versuchte sich daran zu erinnern, wie sich das Verschmelzen mit dem fremden, mysteriösen Mann angefühlt haben musste. Sie konnte nur noch an ihren Vergewaltiger denken. An seine Leidenschaft, an seine Stärke. Aber ihr Mangel an Erinnerungen machte sie wütend. Sie musste herausfinden, wer er war, um wieder zur Ruhe zu kommen. Sie entschloss sich dazu, jeden Tag zum Bach zu gehen, bis sie ihn wieder treffen würde. Zweifel und Wünsche vermischten sich in Ninas Innerem. Und wenn er nie wieder in den Wald gehen würde? Was wäre, wenn sie ihn nie wieder sehen würde? Das Unwissen und die Neugier betörten Nina. Sie konnte einfach nicht akzeptieren, den Mann nie wieder sehen zu können.

Sie konnte den nächsten Tag kaum erwarten. Sie konnte es kaum erwarten, nach der Schule sofort in den Wald zu gehen, beziehungsweise zu laufen. Sie ertrug den Gedanken nicht, der Mann hätte sie nur ausgenutzt. Was ihr passiert war, konnte kein Zufall gewesen sein.

Aufregung, rascher Herzschlag: Wird er wohl am nächsten Tag da sein? Wird er mich wohl noch einmal berühren wollen? Wird er mich wohl mit derselben Leidenschaft ansehen?

Die Äste taumelten im Wind und klopften gegen die Fenster. Die dunkle Nacht verschlang die Straßen und Häuser. Schwarze Wolken senkten sich, Regen wusch die Ereignisse des Tages weg. Für die, die schliefen, brachte der Regen einen neuen, frischen Anfang und für die, die noch wach waren, floss mit dem Regen ein trauriges Ende davon.

Der Sturm weckte Nina aus ihrem, sowieso schon unruhigen, Schlaf. Sie schaute auf die Uhr. Halb vier. Sie hatte noch viel Zeit zum Schlafen, was sie einerseits beruhigte, weil sie noch sehr müde war, andererseits aber traurig machte, da sie wusste, dass ihr heiß ersehntes Treffen noch lange nicht in Sicht war. Sie schloss die Augen wieder und drehte sich zur Seite. Im Halbschlaf fühlte sie plötzlich eine Hand an ihrem Hals. Sie spürte, wie ihr Körper von dem Fremden festgehalten wurde. Sie erlebte noch einmal genau das, woran sie sich noch erinnern konnte. Aber dieses Mal hatte sie keine Angst mehr und das beunruhigte sie. Sie wollte das, was passiert war, wiedererleben. Sie wollte, dass die fremden, schmutzigen Hände ihr wieder den Atem raubten. Lange konnte sie darüber allerdings nicht nachdenken. Von Müdigkeit übermannt viel sie bald in einen tiefen Schlaf.

Es war sieben Uhr als ihr Wecker sie aus dem Bett klingelte. Schnell zog sie sich an, packte ihre Schulbücher ein und lief in die Küche. Sie wünschte ihren Eltern einen schönen Tag und nahm das Sandwich, das ihre Mutter ihr vorbereitet hatte.

Vor ihrem Haus wartete bereits der Schulbus auf sie, wie jeden Morgen. Sie stieg ein und begrüßte den netten Busfahrer, der ihr zuzwinkerte, so wie jeden Morgen. Sie ging nach hinten, setzte sich und machte es sich bequem.

Der Schultag fühlte sich länger an als sonst. Nina konnte sich nicht konzentrieren. Sie hatte keine Ahnung von ihrem Stundenplan, keine Ahnung, wovon die Lehrer redeten. Sie konnte nur das Ticken der Uhr hören.

Um halb 2 mittags war ihr Schultag vorbei. So wie jeden Tag, holte ihr Vater sie von der Schule ab. Mit seinem schwarzen Jeep, auf den er sehr stolz war, stand er bereits auf dem Schulparkplatz und wartete auf Nina. Sie lief zum Auto und stieg schnell ein. Ihr Vater wunderte sich. Normalerweise musste er ewig auf Nina warten, aber an diesem Tag war sie pünktlich auf die Minute. Warum die Eile? - dachte er sich. Aber er fragte sie nicht. In letzter Zeit sprachen sie nicht viel miteinander. Sie führten einen oberflächlichen Dialog und fuhren los.

Als sie zuhause ankamen, war Nina in Gedanken schon im Wald. Sie begrüßte ihre Mutter und stürmte in ihr Zimmer. Sie hatte keinen Hunger. Sie hatte keine Lust ihre Hausaufgaben zu machen. Weil es draußen windig war, zog sie sich etwas Wärmeres an. Auch ihre Regenjacke zog sie sich über, aber nicht weil es regnete, sondern weil der Wind die Wassertropfen der Nacht auf den Blättern im Wald abblies und sie von den Blättertropfen nicht nass werden wollte. Bevor sie die Treppe hinunterlief, schaute sie sich nicht einmal selbst im Spiegel an. Unten angekommen schlüpfte sie geschwind in ihre Stiefel, schloss die Tür hinter sich und war fort. Sie rannte.

Nina Johns

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