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Flucht aus Ostpreußen, Winter 1945
Es war ein düsterer Tag gewesen. Jetzt stand vor den Fenstern die schwarze Nacht. Mathilde zögerte. Im Esszimmer lag alles noch auf dem Tisch, die Terrinen, die Platten, die Teller und das Besteck. Ihr Vater hatte es so gewollt. Und die Köksch hatte voller Verachtung gesagt: „Du schließt nicht ab! Dann müssen sie nicht erst die Tür eintreten, bevor sie sich bedienen.“ Sie ging noch einmal zurück, nahm das Besteck und den Serviettenring mit ihren Initialen sowie die silberne Schöpfkelle und wickelte alles in eine Schürze.
Der Treck war fort. Sie war die letzte.
Marie Mathilde von Bergen ließ alle Türen offenstehen, nahm die Jacke vom Haken, schlüpfte in die Gurte des gepackten Rucksacks, steckte das Bündel mit dem Tafelsilber in die Satteltasche und ging über den Hof zum Stall. Es war eisig kalt, bestimmt längst unter zwanzig Grad Minus. Der Wind pfiff über die Dächer, aber es schneite wenigstens nicht.
Im Stall scharrte Falla unruhig im Stroh. Die meisten Tiere waren fort und die übriggebliebenen schienen die Veränderung zu spüren. Vielleicht vermisste die Stute den Hund? Papa hatte Wotan erschossen, bevor er ging. Er hatte mit Tränen in den Augen die Kühe losgebunden und die Türen zum Schafstall aufgelassen.
Sie nahm Sattel und Halfter von der Wand. Falla reckte ihr den braunen Kopf mit der weißen Blesse entgegen. Sie öffnete den Verschlag, tätschelte der Trakehnerstute den Hals und ließ sie ein Bein nach dem anderen heben, um ihr die scharfen Stolleneisen unter die Hufe zu schrauben. Hoffentlich half das auf den vereisten Straßen. Dann sattelte sie das Tier, führte es aus dem Stall, sah ein letztes Mal hinauf zum ersten Stock von Gut Jechow, in dem ihr Zimmer lag, stieg auf und ritt zum Tor hinaus.
In keinem der umliegenden Gehöfte und Katen brannte noch Licht. Das Grollen hinterm Horizont war jetzt ganz nah. Falla hob den Kopf und spitzte die Ohren. Mathilde spürte die Unruhe des Pferdes wie ein Echo der eigenen Angst vor dem unbekannten Verhängnis.
„Wir kommen zurück“, hatte Mama beim Abschied geflüstert. Nein, dachte Mathilde. Der Osten ist verloren.
Kilometer für Kilometer rückte die vertraute Landschaft in die Ferne. Sie versuchte, sich alles noch einmal einzuprägen in den Farben der Jahreszeiten. Aber sie sah nur Weiß und Schwarz und Grau. Wie auf einer Fotografie, die man Jahre später in der Hand halten würde, um „damals“ zu seufzen.
Als es auf die Straße zuging, wurde Falla immer langsamer und blieb schließlich schnaubend stehen. Ein schwarzer Lindwurm kroch dort vorne, ein schweigendes Ungeheuer aus tief vermummten Menschen, die im Schritttempo den Pferdekarren hinterherstapften oder Handwagen zogen, Schlitten, vollgestopfte Kinderwagen. Es gab kein Schluchzen, es fiel kein Wort – man hörte nur das Rascheln von Kleidern und das Knirschen des Schnees und das Schnauben der Pferde, die so müde aussahen wie die Menschen. Noch nicht einmal die Kinder schrien.
Mathilde flüsterte Falla beruhigende Worte ins Ohr und lenkte sie sanft an den Rand der endlosen Schlange geduckter Menschen. Der Treck kroch gen Westen, bis es licht wurde am Horizont. Bald darauf kamen den Flüchtenden Kübelwagen mit Soldaten und Geschütze auf Lafetten entgegen. Und dann rollten Panzer heran, geradewegs zu auf die Menschenmassen, die eingekeilt waren zwischen den schweren Wagen und nicht ausweichen konnten. Mathilde versuchte, ihre Tränen mit der behandschuhten Hand wegzuwischen, bevor sie ihr auf den Wangen gefroren. Am Wegesrand und im Straßengraben lagen armseliger Hausrat, gestrandete Karren und verendete Pferde. Und kleine Leichen.
Hinter Altfelde musste sie absteigen, um sich neben Falla warmzulaufen. Steif vor Kälte stolperte sie über den verharschten Schnee, als sie ein Puppengesicht im schneeverwehten Graben sah, eine winzige Gestalt in einem weißen Tuch, das der Wind oder ein Tier weggezupft hatte. Von nun an achtete sie nicht mehr auf das, was neben ihrem Weg lag.
Die Gegenwart war der nächste Schritt, die Zukunft der nächste Tag.
Alles andere versuchte sie zu vergessen: die Wagen, mit denen schon vor Monaten Jechows Gemälde und Möbel, die Porzellansammlung und die kostbarsten Bände aus der Bibliothek abtransportiert worden waren. Mamas Augen beim Abschied. Papas Bitte, sie möge sich ihren Weg nach Westen abseits vom Treck suchen. Sie wusste, was er dachte und nicht gesagt hatte: Es erhöhte die Chance, dass einer der Jechows überlebte.
Manchmal dachte sie zaghaft an Gregor. Und manchmal schwebte ihr Blanckenburg vor Augen, wie ein Luftschloss, heiter und hell.
Erst nach mehr als zwölf Stunden machte sie Pause. In dem verlassenen Hof hatten Soldaten Quartier gemacht. Es gab Futter und Wasser für Falla, dünnen Kaffee, Brot und ein Lager im Stroh. Sie war kaum eingeschlafen, als sie wieder hochschreckte. „Weg!“ brüllte ein junger Soldat in den Stall hinein. Im Schein der Laterne leuchtete sein Gesicht, die Wangen gerötet, die Augen weit aufgerissen. Er war so jung. Jünger als sie, jünger als Gregor. „Wir sprengen die Brücke über die Nogat!“ Wieder zog sie auf Falla neben dem Flüchtlingsstrom her, voller Hoffnung und voller Angst, dem Treck der Eigenen zu begegnen.
Hinter Dirschau verließ sie den Treck und schlug den Weg nach Schöneck ein. Ein ausgemergelter Jagdhund lief eine Weile hinter ihr her, ohne einen Laut von sich zu geben. In Gladau schlossen sich ihr zwei vermummte Gestalten auf erschöpften Pferden an. Man nickte einander zu. Sie sah müde Augen unter schneeverkrusteten Brauen.
Mathilde fühlte sich wie ausgeschnitten aus der Welt, die sie gekannt hatte. Die Stimmen, Gerüche und Farben waren immer flüchtiger geworden und hatten sich irgendwo auf der Strecke aus ihrem Gedächtnis gelöst. Ihr Kopf war leer. Manchmal spielte die Erinnerung ihr Gedichtzeilen zu, „Er stand auf seines Daches Zinnen“ oder „Die Kraniche des Ibikus.“ Alberne Abzählreime. Kinderlieder. Eine Zeile schwebte immer wieder an und begann sich schließlich einzunisten: „Aber weiter und weiter schlepp ich mich fort, von Tag zu Tag, von Mond zu Mond, von Jahr zu Jahr...“
Im Forsthaus von Ribaken machten sie Rast. Mathilde nahm ihre Umgebung erst wieder wahr, als jemand Brot und heiße Suppe vor sie stellte. Und jetzt erst spürte sie den Hunger. Sie begann gierig zu löffeln.
Die Gaststube des Forsthauses war überfüllt; kein Gesicht sah vertraut aus. Die Wärme und das Essen und die vielen menschlichen Stimmen lullten sie ein, sie wäre auf der Stelle eingeschlafen, wenn nicht die Schmerzen in ihren halberfrorenen Händen gewesen wären. Und die neuesten Nachrichten: Elbing war bereits am 23. Januar von den Russen eingenommen worden. Seither war das nördliche Ostpreußen vom Westen abgeschlossen. Sie war den Eroberern nur wenige Stunden voraus. „Sie kreisen uns ein. Sie sind hinter uns. Sie kommen von der Seite“, sagte ein älterer Mann mit bebender Stimme.
Noch in der Nacht brach sie wieder auf. Einer ihrer stummen Begleiter half beim Nachschärfen der Stolleneisen für Falla. Der Mann hatte die Abzeichen von seiner Wehrmachtsuniform gerissen. Als er ihren Blick sah, sagte er: „Der Krieg ist schon seit letztem Sommer aus. In Berlin hat das nur noch niemand mitgekriegt.“ Sie zog die Sattelgurte fest. „Wehe den Besiegten“, murmelte der Mann.
Wenn es Folkert und seinen Freunden gelungen wäre, den Größten Feldherrn aller Zeiten umzubringen, letztes Jahr, im Sommer – wäre sie dann auch hier, in dieser eisigen Nacht?
Falla wirkte zum ersten Mal müde. Sie schien das rechte Vorderbein zu schonen. Mathilde murmelte Liebkosungen und kämpfte gegen die Angst an, die ihr in die Kehle stieg. Wer beten könnte.
Sie erreichten Gut Jannewitz in der Dämmerung. Man hatte die letzten Schweine geschlachtet, die ausgeweideten Kadaver hingen an einem Balken im Hof. In der Wohnstube stand die Luft, es roch nach ungewaschenen Menschen und feuchten Kleidern. Ein ganzer Treck war hier gestrandet – Soldaten hatten Straßensperren errichtet, um Truppen der Wehrmacht ungehindert durchleiten zu können.
Alles in Mathilde wollte weiter. Aber das Pferd brauchte eine Pause – und sie auch. Nur langsam drangen Menschen und Stimmen und Gerüche zu ihr durch: Die alte Dame, die ihr einen zweiten Teller Suppe gebracht hatte und jetzt auf dem Sofa saß und Strümpfe strickte, neben einem müden Mann im Wehrmachtsmantel, der den rechten Arm in der Schlinge trug. Das Mädchen mit den viel zu großen Augen. Das Kind, das den Suppenlöffel nicht halten konnte. Mathilde schob den Teller von sich, wollte aufstehen. Sie musste schluchzend zusammengebrochen sein. Es war ihr peinlich, als sie merkte, dass ihr Kopf an der Brust ihres Nachbarn lag.
Als die Sperre aufgehoben wurde, brach Mathilde mit den anderen auf. Es hatte in der Nacht geregnet auf den gefrorenen Boden, Straßen und Wege waren spiegelglatt. Sie sah fassungslos zu, wie einer der eisenbereiften Wagen vor ihr im Zeitlupentempo von der Straße rutschte und im Straßengraben landete. Pferde strauchelten und stürzten, Menschen schrien und weinten. Die Welt war verrückt geworden
Ob noch Brücken über die Oder führten? Ob Schloss Blanckenburg noch stand? Ob Gregor an sie dachte?
Sie hatten es sich versprochen, damals, als man die Zeichen schon lesen konnte: sie und die beiden Brüder Hartenfels, Folkert und Gregor, Söhne von Tante Betty, der Lieblingskusine ihrer Mutter. Es war wie ein feierlicher Schwur gewesen: Was immer passiert – wir sehen uns wieder in Blanckenburg. Aber Folkert war tot. Und Gregor? Zum ersten Mal, seit sie sich von Jechow verabschiedet hatte, verließ sie der Mut. Sie glaubte nicht mehr daran, dass sie ankommen würde. Dass der Winter je zu Ende ginge, dass der Kanonendonner einmal aufhören würde, dass sich die Kälte wieder zurückziehen könnte aus den Knochen, aus den Muskeln, aus dem Gedärm. Aus der Seele.
In Bassenthin erzählte man, dass die Russen auf Köslin und Schlawe vorrückten; das lag nicht weit hinter ihr. In Pommern flüchtete noch niemand, es sei verboten, sagte eine Frau und lachte verächtlich. Mathilde zog mit den anderen Richtung Oder, zur Autobahnbrücke.
Die Straße war überfüllt und spiegelglatt. Mathilde musste immer wieder absteigen, weil sie so müde war, dass sie befürchtete, aus dem Sattel zu rutschen – und um Falla zu schonen. Die Nacht schien kein Ende zu nehmen.
Weit vor der Brücke begann das Chaos. Soldaten versuchten, den Verkehr zu regeln, um die Flüchtlinge schneller überholen zu können. Mal sollten die Trecks rechts, mal links, mal in der Mitte fahren. Als vier andere Reiter umdrehten und ihr zuriefen, sie wollten zur nächsten Oderbrücke weiter südlich reiten, schloss Mathilde sich an. Eine Weile hielt sie das Tempo der anderen durch. Dann fiel sie zurück.
Es wurde Tag. Langsam setzte Tauwetter ein. Gegen Mittag begann Falla zu lahmen. Bis Dammwiese hielten Ross und Reiter durch. Dort begann Mathildes Abschied vom letzten Stück Ostpreußen, das ihr geblieben war.