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Auf der Flucht, März 1945

Das war kein Kaffee, auch wenn er so aussah. Wenigstens war die Brühe heiß. Mathilde legte beide Hände um den Becher und pustete. Ihre Finger waren dünn geworden in den letzten Wochen, in denen sie krank im Bett gelegen hatte.

„Wir hatten dich fast schon aufgegeben, Kindchen“, hatte Elisabeth gesagt, als Mathilde wieder zu sich gekommen war. Ihr Gesicht war das erste, was sie wahrgenommen hatte: ein ruhiges Frauengesicht, die Strenge, die ihm die scharfe Nase und das aus der Stirn gekämmte und am Hinterkopf zusammengesteckte Haar gab, gemildert durch das spöttische Blitzen in den grauen Augen. Später schob sich Gudrun in ihr Gesichtsfeld, schmales Gesicht, kühle Hand, nervöse Stimme. Und Lida, ein Schatten, der vorbeischwebte und wieder im Hintergrund verschwand.

Mathilde stand allein in der großen Küche des Dorotheenhofs, der gleich außerhalb des Örtchens Dammwiese lag. Was für ein Glück, dass Falla den Weg hierhin gefunden hatte, in diese Frauengemeinschaft, die der Krieg gestiftet hatte. Die anderen waren unterwegs, holten Holz, organisierten Essbares. Eine hatte früh schon Wasser aufgesetzt, das auf dem Küchenherd summte. Mathilde hob den Deckel. Es war heiß genug für den Abwasch.

Acht Teller, vier Gläser, Besteck. „Und wenn es die Henkersmahlzeit ist“, hatte Elisabeth gestern Nachmittag verkündet. Und dann waren die Frauen in Keller und Vorratsräume ausgeschwärmt und hatten die Regale geplündert. Eingelegtes, Eingemachtes aus dem vergangenen Sommer. Die vorletzten Kartoffeln. Vier Flaschen roten Burgunder, den Elisabeths Mann für festliche Anlässe zurückgelegt hatte.

Elisabeth v. Rhein war Herrin des Dorotheenhofs, seit ihr Mann gefallen und ihre Tochter verschollen war. Für das Fest gestern Abend hatte sie ihren Kleiderschrank geöffnet. Gudrun wählte ein schwarzes Samtkleid mit Spitzen an Ausschnitt und Ärmeln, steckte sich die Haare hoch, trug Lippenstift auf. Wie eine Großstädterin. Sie war aus Berlin evakuiert worden, nachdem eine amerikanische Bomberflotte das Haus in Schutt und Asche gelegt hatte, in dessen Keller ihre beiden Kinder und die Mutter verschüttet worden waren.

Nur Lida wollte sich nicht schön machen und war weinend aus der Küche gelaufen. Lida war erst vierzehn. Sie hatte nicht viel erzählt von dem Tag, an dem die Russen über Cosel hinwegrollten. Und keine der Frauen hatte sie gefragt, wie oft es gewesen sei. Und wie viele.

Warum auch? Worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen, fand Mathilde – und spürte wieder den Kloß im Hals, wie das erste Mal, als Elisabeth ihr Lidas Geschichte erzählte.

Sie fühlte sich hier in Dammwiese wie in einer Luftblase, während um sie herum die Menschen in die Barbarei taumelten. Es war der Krieg, er gewöhnte an die Gewalt. Was hatte Elisabeth gestern gesagt? „Die unseren haben sich im Osten womöglich auch nicht besser aufgeführt. Den Preis bezahlen wir.“ Selbst ein vierzehnjähriges Mädchen?

Mathilde polierte das Silberbesteck, als ob es sich noch lohnte. Elisabeth dachte nicht daran, irgend etwas zu verstecken – das Porzellan, die Bilder, den Schmuck oder die Uhren. Die Russen würden kommen, sie überrollen und dann weitermarschieren. Man musste den Kopf einziehen und abwarten, bis die Welle vorübergerauscht war. „Wer jetzt flieht, wird eingeholt“, hatte Elisabeth behauptet.

„Ob von Deutschland etwas übrig bleibt?“ Gudruns belegte Stimme klang ihr noch im Ohr.

Wer weiß, dachte Mathilde.

„Sie können uns ja nicht alle totschlagen!“

Wer weiß.

Man musste abwarten. Der Weg nach Westen war versperrt. Die Oderbrücke lag unter Beschuss; ein Nachbar hatte sich vor ein paar Tagen hinausgewagt und berichtete von russischen MiGs, die aus Bordkanonen und Maschinengewehren auf alles feuerten, was sich noch regte; von zusammengeschossenen Trecks, zersiebten Menschen und Pferden. Bleiben. Nicht zurück-, nicht vorwärtsdenken.

Mathilde nahm die Schüssel mit dem Abwaschwasser und ging hinaus. Es war Frühling geworden, ohne dass sie etwas davon mitgekriegt hätte. Grüner Flaum bedeckte die Äste, die Forsythien wurden schon gelb. Sie schüttete das Wasser in den Putzeimer im Hof und nahm den Weg die Anhöhe hinauf. Über einer der glitzernden Wasserflächen des Sumpflandes am Rande der Oder kreiste ein Reiher. Sie hielt ihr Gesicht in die Morgensonne. Dort, weit weg, lag Jechow. Das Gutshaus sei abgebrannt, hatte jemand erzählt, der es von jemand anderem gehört hatte.

Der Geschützdonner war in den letzten Tagen leiser geworden. Gudrun hatte gestern lachend behauptet, es sei alles schon vorbei, nur sie hier in der Einöde hätten nichts davon mitgekriegt.

Am Himmel stand ein Roter Milan und schrie. Als Mathildes Blick wieder hinunter ging zum fernen Horizont, hatte sich dessen Kontur verändert. Er bewegte sich. Sie stand und starrte, bis ihr die Augen tränten. Der Stolz verbot ihr, in Panik davonzurennen. Aber schon stolperte sie den Hang hinunter zum Dorf. Vor der Kirche blieb sie stehen. Was sollte sie sagen? Sie kommen?

Der Pfarrer trat aus der Kirche und sah sie fragend an. Zwei kleine Mädchen hüpften einem Ball hinterher. Eine Frau mit einer Milchkanne in der Hand und einem Kopftuch über den grauen Haaren eilte geschäftig vorüber.

Sie kommen.

Die Frauen verkrochen sich in den Eiskeller, der im Park in einen Hang gebaut war, ein ganzes Stück entfernt vom Wohnhaus. Es roch erdig und war dunkel dort unten. Kein Laut war zu hören, nur Lidas angstvolles Atmen. Und dann betete jemand, hastig wispernd, wie ein Kind.

Das Geräusch, das draußen langsam näherkam, war mit nichts zu vergleichen, was Mathilde jemals gehört hatte. Es begann damit, dass die Weinflaschen leise klirrten. Der Boden vibrierte. Und dann rollte es heran und vorbei auf der Straße, die hinunter zur Oder führte, wie eine Flutwelle, Stunde um Stunde, eine unbeschreibliche Kakophonie, markerschütternd und nervenzerfetzend. Als der Lärm verebbte, glaubte sie aus dem Dorf Schreie und Johlen zu hören.

Am Morgen war der letzte Panzer am Haus vorbeigezogen. Niemand hatte ihr Versteck gefunden, die Kellertür aufgerissen, die Frauen herausgezerrt. Mathilde war die erste, die es wagte, die Tür einen Spalt weit zu öffnen. Der Himmel leuchtete rot, es roch brandig. Aber das Wohnhaus stand noch. Sie lief durch den Park zur Anhöhe hinauf. In der Stadt brannte das Rathaus. Menschen liefen hin und her und versuchten zu löschen. Der feuerspeiende Drache aber war weitergezogen.

Am nächsten Tag kam die Nachhut der Roten Armee. Die zog nicht vorbei.

Als die ersten Panjewagen und die Männer auf den zottigen Pferden im Dorf auftauchten, stand Elisabeth auf, nahm Lida mit nach oben und versteckte sie in einem Verschlag am Ende des langen Flurs mit den Dienstbotenzimmern. Mathilde setzte sich zu Gudrun an den Küchentisch und wartete darauf, dass die Tür aufflog. Sie machte sich keine Illusionen. Keine von ihnen hatte noch welche.

Die Männer grinsten, als sie einer nach dem anderen in den Raum traten. Bauernsöhne mit roten Gesichtern und schlechten Zähnen, breitschädelig und kurzgeschoren. Einer fuchtelte mit dem Gewehr, die anderen trugen ihres an einer Schnur über der Schulter. Der Anführer hielt den Frauen seinen Unterarm entgegen, an dem er vielleicht ein Dutzend Armbanduhren trug. Dann deutete er auf Gudrun und sagte triumphierend: „Frau!“

Die Luft war mit einem Mal zum Ersticken. Es roch nach Schweiß und Urin und Pferden und Alkohol. Mathilde verabscheute sich für die Hilflosigkeit, die sie sitzen bleiben ließ, während Gudrun in Panik nach einem Fluchtweg suchte.

Und dann sprach eine vertraute Stimme fremde Laute. Elisabeth stand in der Tür. Sie stellte sich vor die Männer hin und sagte in höflichem Ton etwas auf Russisch, das sogar die Rotarmisten zu beeindrucken schien. Für eine Weile jedenfalls. Denn wenig später fühlte auch Mathilde eine Hand auf ihrem Arm, einer der Burschen zog sie hoch, sein nach Fusel riechender Atem nahm ihr die Luft. Der Anführer mit den Uhren zerrte an Gudrun. Dann erstarrte die Szene.

„Wieso sprechen Sie Russisch?“ Der Mann, der hinter den Soldaten die Küche betreten hatte, war jung, blass und trug eine Uniform mit viel Lametta. Sein Deutsch klang weich. Er nannte sogar seinen Namen, während er den Kopf leicht neigte. Mathilde verstand das Wort „Major“, mehr nicht.

Elisabeth sah ihn fast demütig an. Die anderen Soldaten taten so, als seien sie nicht übermäßig beeindruckt von ihrem Vorgesetzten, aber der Mann neben Mathilde lockerte seinen Griff.

„Ich wurde jahrelang von einer bourgeoisen dekadenten russischen Familie als Küchenmagd ausgebeutet, Genosse Major.“

Der Major sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. Dann ließ er sich auf einen der Küchenstühle fallen und winkte seinen Begleitern. Einer der beiden packte aus: Brot, Schinken, Wodka. Gudrun rieb sich den Arm und sah verständnislos von einem zum anderen.

„Setz dich, Genossin“, sagte der Major und zog sie mit einem kräftigen Ruck auf den Stuhl neben ihm. Auf seinen Wink hin setzte sich Mathilde an die andere Seite.

Elisabeth holte Teller, Besteck, Gläser. Die Männer aßen gierig; dazu tranken sie Wodka, in großen Zügen, mit Ernst und ohne erkennbares Vergnügen. Nachdem die erste Flasche geleert war, durften auch die Frauen essen und trinken, während der Major sie einer eingehenden Befragung über ihr Verhältnis zum Faschismus unterzog, die zufriedenstellend ausgefallen sein musste, denn er nickte immer häufiger und lächelte. Irgendwann holte Gudrun die Fotos ihrer Kinder hervor, die sie stets bei sich trug. Der Major betrachtete jedes einzelne. Mathilde sah mit Verwunderung, dass seine Züge weich wurden.

Die Männer tranken. Elisabeth hielt sich im Hintergrund. Gudrun weinte. Einer der Begleiter des Majors, der wie Dschingis Khan aussah, hatte den Kopf auf die Tischplatte gelegt und zu schnarchen begonnen.

„Könnten Sie sich vorstellen, mich ein wenig besser kennenzulernen?“ fragte der Major irgendwann, ohne Mathilde dabei anzusehen. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Wie ein rettender Engel stand Elisabeth neben ihnen. „Ihr Zimmer ist gleich im ersten Stock, Herr Major“, sagte sie leise. Der Mann seufzte und stand auf. Dann hielt er Mathilde die Hand hin: „Ich heiße Fedor“, sagte er.

Die Russen hinterließen den Geruch nach Wodka und Schweiß. Draußen im Hof wurde gesungen, jemand spielte Geige dazu. Mathilde sah durchs Fenster Männer an Lagerfeuern sitzen, reden, essen, trinken, im Hintergrund Pferde und Kühe. „Geh ins Bett“, sagte Elisabeth leise. „Ich pass schon auf.“

Am nächsten Morgen war Elisabeth noch wach und die Ruhe selbst, während Gudrun sich theatralisch die Augen rieb und behauptete, die ganze Nacht über kein Auge zugetan zu haben. Sie schnitt das Brot auf, das ein blutjunger Bursche namens Wanja vorbeigebracht hatte, mit einem schönem Gruß vom Major. „Ich mache mir Sorgen um Lida“, sagte sie. „Ich war eben oben bei ihr, sie fühlt sich fiebrig an und scheint die ganze Zeit geweint zu haben.“

„Ihr ist doch nichts passiert gestern“, sagte Gudrun spitz.

„Dir auch nicht.“ Mathilde empfand mehr Mitleid mit Lida als mit Gudrun. Die ältere hatte erlebt, was Lida womöglich nie empfinden würde: Liebe, bevor man Sex miteinander hatte. Sie versuchte, nicht an Gregor zu denken. Sie verdrängte schon seit Tagen jeden Gedanken an ihn, so als ob sie ihm durch den inneren Kontakt ein Fenster öffnete, durch das hindurch er sehen könnte, wie sie aß und trank – mit dem Feind. Der womöglich auch nur ein Mann war wie alle anderen.

„Ich gehe hinunter ins Dorf“, sagte Elisabeth, nachdem sie stumm ihren Ersatzkaffee getrunken hatte.

Mathilde legte das noch feuchte Brot beiseite, das ihr trotz der Marmelade nicht schmeckte. „Ich komme mit“, sagte sie und holte ihre Stiefel hervor vom Platz neben dem Küchenherd. Die Schnürschuhe waren neu gewesen, als sie losritt, Soldatenstiefel. Jetzt lösten sich die dünngelaufenen Sohlen von den Schuhspitzen.

Draußen auf dem Hof roch es nach Pferdemist und Männerpisse. Die Soldaten putzten die Gewehre, besserten Kleidungsstücke aus, versorgten ihre Pferde. Der Trupp führte zwei Kühe und ein Kalb mit sich. Der Kerl mit den vielen Uhren am Arm winkte grinsend zu ihnen herüber. Elisabeth nickte ihm zu und ging mit entschlossenen Schritten über den Hof. Niemand hielt sie auf.

Im Park standen Geschütze unter den Bäumen und am Teich wuschen zwei Frauen ihre Wäsche – Soldatinnen offenbar, in Feldbluse und Mütze mit Abzeichen. Vor dem Tor weideten drei Männer ein totes Pferd aus; es würde also Pferdebraten geben. Mathildes Magensäfte reagierten beim bloßen Gedanken daran. Sie dachte mit Bangen an Falla – im Stall hatten sich Soldaten einquartiert, sie traute sich nicht nachzuschauen, ob es dem Tier gut ging. Sie blieb stehen und presste die Fäuste an die Brust. Falla war die letzte lebendige Erinnerung an Jechow.

Im Dorf sah es nicht viel anders aus als oben auf dem Hof. Die Russen hatten sich mit ihren Pferden in Läden und Garagen eingerichtet, es sah fast idyllisch aus, wie die Tiere hinter den zerschlagenen Schaufensterscheiben standen und fraßen.

„Ach Gottchen, gnädige Frau“, sagte eine weißhaarige Frau. „Die Frau vom Schneider und die Kleine von nebenan haben dran glauben müssen – das Geschrei. Es war entsetzlich.“ Elisabeth streichelte der Alten die Hand.

Sie gingen von Haus zu Haus. Die Ruine des alten Rathauses rauchte noch. Den Lebensmittelladen hatten Soldaten auf der Suche nach Alkohol verwüstet.

Niemand belästigte die beiden Frauen. Erst kurz vor der Kirche stellten sich ihnen zwei lallende Rotarmisten in den Weg. Der eine rief „Uri, Uri“ und griff nach Elisabeth, der andere musterte Mathilde und versuchte ein gewinnendes Lächeln, das plötzlich erstarrte. Er packte seinen Kameraden am Arm und verschwand. Als sie sich umdrehte, stand Dschingis hinter ihnen und zündete sich umständlich eine Zigarette an.

„Begleitschutz“, sagte Elisabeth. „Dem Major liegt an uns.“ An mir, dachte Mathilde. Bildete sie sich ein, dass die Menschen ihnen mit Vorsicht, ja Misstrauen begegneten, sobald sie den Schatten hinter ihnen sahen? „Wir sind Feinds Liebchen“, flüsterte Elisabeth. Sie hatte es auch gemerkt.

Als sie zurückkamen, saßen Fedor und Wanja am Küchentisch und tranken. Gudruns Gesicht war leicht gerötet, sie flirtete mit dem Major. Elisabeth blieb in der Tür stehen. Mathilde sah fragend zu ihr hinüber. „Lida!“ formten ihre Lippen lautlos. Aber man hörte es schon.

Soldatenstiefel auf der Treppe. Männerlachen. Ein panischer Aufschrei.

Der Major tat, als gehe ihn der Tumult nichts an. Die Tür flog auf, zwei Soldaten hielten das Mädchen gepackt. Ihre Augen waren weit aufgerissen, sie schrie nicht mehr, man hörte nur ihren keuchenden Atem.

Endlich sah der Major auf, leerte das Glas in seiner Hand in einem Zug, stellte es auf den Tisch, zündete sich gemächlich eine Zigarre an und sagte: „So.“

Gudrun machte den Mund auf. Wanja legte ihr warnend die Hand auf den Unterarm. „Sie haben mir nicht die Wahrheit gesagt. Sie haben mein Vertrauen missbraucht. Ich habe Sie geschützt, aber meine Männer sind hungrig. Sie dürsten nach ein bißchen – Liebe.“ Er stand langsam auf, ging auf Lida zu, legte ihr den Zeigefinger unters Kinn und betrachtete sie von beiden Seiten.

„Ein hübsches Kind. Wer wird da wohl der erste sein?“

Mathilde trat ein paar Schritte vor. „Bei wilden Hunden, durchgehenden Pferden und unbotmäßigen Menschen hilft nur eines: Haltung“, hatte ihre Mutter immer gesagt, die das in Vollendung beherrschte.

„Herr Major.“

„Fedor“, sagte der Major mit sanfter Stimme, ohne den Blick von Lida zu nehmen. „Nenn mich Fedor, Mathilde.“

„Ich bin sehr enttäuscht von Ihnen!“

Er drehte sich langsam um. Sein Gesicht war mindestens so hochmütig wie ihre Haltung. „So? Das ist aber schade! Kann ich etwas tun, um Ihre Achtung wiederzugewinnen?“

„Lassen Sie Lida gehen. Sie ist noch ein Kind.“

Er sah sie an, ohne die Miene zu verziehen. Dann winkte er seinen Leuten. Sie ließen das Mädchen los, das schluchzend zu Boden sank.

„Ich danke Ihnen für Ihr großherziges Angebot, gnädiges Fräulein!“ Der Major hielt Mathilde den Arm hin. Sie neigte den Kopf und folgte ihm zurück an den Küchentisch.

Wanja spielte auf dem Klavier, das im Speisezimmer stand. Die Männer sangen. „Russisch Blut“, flüsterte der Major Mathilde ins Ohr. „Ein Liebeslied.“ Die Männer tranken und rauchten. Und tranken.

Am nächsten Tag kamen zwei russische Soldatinnen ins Haus. Sie schauten sich prüfend um und marschierten zielstrebig auf die Truhe zu, in der Elisabeth die Tischwäsche aufbewahrte. Mathilde unterbrach den Abwasch und Gudrun die Näharbeiten. Elisabeth machte eine einladende Geste, das Gesicht todernst. Bepackt mit Stapeln von weißen Damasttüchern und Servietten zogen die beiden Soldatinnen wieder davon. Die Frauen arbeiteten weiter, als wäre nichts geschehen. Nur Lida hockte auf einem Stuhl neben dem Herd, ganz nah bei Elisabeth.

„Ich danke dir“, sagte Elisabeth leise. Mathilde blickte auf. Die Ältere sah müde aus. „Sie könnte es nicht noch einmal ertragen.“

„Es ist nichts.“ Mathilde legte das Geschirrtuch beiseite. „Es trifft ja nicht – die Seele. Oder das Herz.“ Sicher war sie sich dessen nicht.

Der Major und seine Begleiter kamen schon am frühen Abend. Fedor hatte sich rasiert, seine Haut war gerötet und glänzte. Er setzte sich an den Tisch, streckte die Beine in den Stiefeln von sich und ließ sich von Elisabeth bedienen. Gudrun blickte nicht auf, während sie ihre Suppe löffelte. Und Lida hatte sich hinter den Ofen verkrochen. Wanja war wieder an den Flügel gegangen und spielte und spielte. Es waren längst keine Volks- und Liebeslieder mehr, die hinüberwehten. Fast kamen ihr die Tränen, als der Junge zu Chopin überging. Eine der Nocturnes. Sie sah auf und in Fedors Augen. Heute war der Major nicht betrunken. „Ich bin Ihnen hoffentlich nicht allzu unangenehm“, sagte er leise.

Mathilde schüttelte den Kopf. Am liebsten wäre sie aufgestanden und hätte die ganze Sache hinter sich gebracht. Der Major hob sein Glas und prostete ihr zu. Sie lächelte schwach und erwiderte den Gruß. Der Wein sah blass aus und roch nach Staub. Fedor stand auf und reichte ihr den Arm.

Im Schlafzimmer setzte er sich aufs Bett, zog sich unter Grunzen und Stöhnen die Stiefel aus und warf sie in die Zimmerecke, gefolgt von Jacke, Hose und Unterwäsche. Im flackernden Kerzenlicht sah er jung aus. Unerfahren. Verlegen. Sie löschte die Kerze, schlüpfte aus dem Kleid und legte sich neben ihn.

Es war schnell vorbei. Das schlimmste war, dass er ihren Mund küssen wollte. Als er sich danach auf die Seite legte und ihr den Rücken zuwandte, um zu schlafen, hörte sie ihn murmeln: „Nur Huren lassen sich nicht küssen.“

Sie glaubte, kein Auge zumachen zu können. Aber am nächsten Tag erwachte sie, als es schon hell war; sie war noch nicht einmal aufgeschreckt, als Fedor aufgestanden, sich angezogen und aus dem Zimmer gegangen war.

Ihr Körper war ihr fremd und unangenehm. Sie sehnte sich nach einem Bad. Und sie fürchtete sich vor den Blicken der anderen. Dennoch zog sie sich an und ging in die Küche.

Elisabeth sagte leise: „Sie packen.“

Mathilde wurde vor Erleichterung ganz schwach.

„Mir ist das Unglück lieber, das ich kenne“, murmelte Gudrun.

Von draußen hörte man Pferdewiehern, Fluchen und befehlsgewohnte Stimmen. Der Hof war schon fast leer. Falla, dachte Mathilde. Ich muss nach Falla sehen. Endlich glaubte sie sich aus dem Haus trauen zu können. Einige der Lagerfeuer rauchten noch. Zwischen den Feuerstellen menschliche Exkremente, Lumpen, verbeultes Kochgeschirr, Pferdeäpfel. Sie tastete sich vor zum Stall.

Und dann waren sie über ihr.

Sie gab keinen Laut von sich und sie wollte auch nicht zählen. Und nur, als einer etwas sagte, das wie „Hure“ klang, öffnete sie die Augen. Es war nicht der Major, natürlich nicht. Es war ein Mann, den sie noch nie gesehen hatte, einer mit ausgeschlagenen Schneidezähnen und einer breiten Narbe auf der Wange. Er spuckte ihr ins Gesicht, als er mit ihr fertig war.

Es tat nicht wirklich weh. Es musste wohl so sein. Viel schlimmer war, was sie nicht gleich bemerkte. Sie hatten Falla mitgenommen.

„Ihr müsst weg, Mathilde. Lida und du. Gleich morgen.“ Elisabeth setzte ihren Korb auf den Küchentisch. Sie hatte den Wodka, den die Russen dagelassen hatten, gegen Lebensmittel getauscht.

„Und du?“

„Ich bleibe hier“, sagte Elisabeth. „Es gibt nichts, wo ich lieber wäre.“

Mathilde sah den Frauen einer nach der anderen in die Augen. „Ich gehe sofort.“

Es gab nicht viel zu packen. Die Satteltaschen brauchte sie nicht mehr, ein Rucksack genügte. Nur das Päckchen, das sie seit Jechow bei sich trug, auf dem Leib, und das ihr die Haut am Rücken blutig geschabt hatte, machte ihr Kopfzerbrechen. Sie wusste ja nun, dass ihr Leib kein sicherer Ort mehr war. Dennoch schob sie das Päckchen in den Hosenbund. Dann setzte sie sich aufs Bett und zog die Stiefel an.

Sie hatten fast fünfhundert Kilometer durchgehalten. Warum nicht weitere fünfhundert? In der Küche hatte Elisabeth Brot und Wurst in ein Tuch gepackt und legte ein Messer obendrauf, nachdem sie es kräftig nachgeschliffen hatte. „Wo ist Lida?“

Gudrun sah nicht hoch. „Sie zieht sich an. Sie packt.“

Mathilde mochte nicht warten. Ihre Beine, ihre Füße, alles wollte losgehen. „Ich schau nach“, sagte sie.

In ihrem Zimmer war Lida nicht. Auf dem Bett lag ein mageres Häuflein aus Socken und Unterwäsche. Der Rucksack stand noch neben dem Schrank.

Als sie herunterkam, war Elisabeth schon an der Küchentür, das Gesicht wie gemeißelt. Man sah ihr an, was sie fürchtete. Mathilde schüttelte den Kopf. Elisabeth gab einen schwachen Seufzer von sich. „Sie konnte wohl nicht anders. Wenigstens du gehst. Sofort.“

Mathilde marschierte die ganze Nacht, begleitet vom Donnern und Dröhnen, mit dem sich weiter südlich die Kriegsmaschinerie auf Berlin vorarbeitete. Das Ende war nah – und der Frühling.

Russisch Blut

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