Читать книгу Sommer am Höhlensee - Anne Daurer - Страница 6
4. Der neue Ort
Оглавление„Wer will zuerst?“ Patte starrte lustlos den Schlitz in der Wand an. Er glaubte zwar nicht, dass dahinter etwas Sehenswertes war. Aber er wollte trotzdem nachschauen. Vielleicht fand er hier das Tor zum Mittelpunkt der Erde. Oder das Portal in die Zukunft.
„Ich nicht.“ Ninas Blick verriet dieselbe Skepsis.
„Also …“ Flip sah sich um. „Soll ich? Oder was?“
Patte grinste. „War immerhin deine Idee.“
„Na toll.“ Flip presste sein Gesicht an den Lehm und blinzelte durch die Öffnung. „Da drin …“
„Ist eine Höhle. Blau und hell und so.“ Patte verdrehte die Augen. „Sollen wir jetzt nachschauen? Oder möchtest du vorher drüber diskutieren?“
Nina lachte.
„Ich geh ja schon.“ Flip untersuchte die Wandritze. Sein Blick glitt hinauf und hinunter und hinauf.
„Guck mal. Hier geht’s rein.“ Patte setzte einen Fuß in die Öffnung. Er glitschte durch butterweichen Lehm und schrammte über Steine. Ein stechender Schmerz schoss durch seinen Fuß.
„Alles okay?“ Nina sah Patte neugierig an.
Patte biss die Zähne zusammen. Der Fußknöchel schmerzte höllisch. „Ja, ja … alles in Ordnung“, nuschelte er.
„Wirklich?“
„Ja, ja. Alles okay.“ Patte wollte seinen Fuß aus dem Lehm ziehen, doch er steckte fest. Er zog, drehte, wollte dem Schmerz ausweichen. Sein Bein rutschte weiter in die Öffnung.
„Was ist?“ Flip kam näher.
„Nichts.“ Patte schraubte und drehte. Das Bein rutschte immer weiter.
„Steckst du fest?“ Nina reckte den Hals.
„Nein!“ Patte legte sich auf den Wandschlitz. Was sollte er tun? Stundenlang rumhängen und so tun, als wäre nichts? Oder Flip darum bitten, seinen Fuß aus dem Matsch zu ziehen? Und ertragen, dass Nina dabei zusah? Oder, noch schlimmer, dass sie in die Knie ging, um ihn zu befreien?
Patte begann zu schwitzen. Noch einmal versuchte er vorsichtig, seinen Fuß zu drehen und der Öffnung zu entkommen. Zwecklos. Ihm blieb nur der Weg nach vorne.
„Patte? Was ist?“ Nina stand dicht hinter ihm. Patte spürte ihren Atem im Nacken.
„Nichts!“ Patte drehte sich zur Seite. Das half. Er flutschte wie geölt durch den Wandschlitz. Sein Fuß löste sich und flutschte mit. Er stolperte auf die andere Seite und landete im Matsch.
„Patte?“ Ninas Stimme klang nervös.
„Alles okay?“, rief Flip.
„Ja, ja!“ Patte bewegte vorsichtig seinen schmerzenden Knöchel, stand auf und sah sich um.
Ringsherum dehnte sich eine Höhle aus, viermal so breit wie sein Zimmer und dreimal so hoch. Von oben flutete Sonnenlicht durch eine riesige Öffnung. Girlanden von Blattgrün schlängelten sich herab. Darüber glänzte tiefblauer Himmel.
Patte ließ seinen Blick wandern. Die Höhle war kreisrund und durchdrungen von einem Geflecht aus Wurzeln, Ästen und feuchten Blättern. Er humpelte neugierig ein paar Schritte in die Höhle hinein. Unter seinen Füßen knirschten Kieselsteine und nasser Lehm. Er musste aufpassen, dass er nicht ausrutschte.
Am anderen Ende der Höhle war die Decke noch nicht eingestürzt. Dort, hinter Bergen von Geröll, Steinen und Lehmbrocken, sah Patte einen blauen Schimmer.
Von weitem hörte er Nina und Flip rufen. Patte vergaß, zu antworten. Er fühlte sich wie auf einer einsamen Insel. Auf einer schönen, einsamen Insel.
„Patte!“ Die Stimmen von Nina und Flip klangen laut und fordernd. Und ein bisschen ängstlich.
Patte drehte sich um. „Kommt rein! Ist ganz leicht!“
Nina war schon da. Sie hatte es geschafft, ohne Lehmflecken hereinzuschlüpfen und blickte mit überraschten Augen um sich. Hinter ihr zwängte sich Flip herein. Auch er blieb wie angewurzelt stehen.
„Wow!“, rief er. „Was ist das denn?“
Nina kam näher und blieb neben Patte stehen.
„Das ist …“ sagte sie, „… total schön! Ein Dschungel!“
Patte nickte stumm.
„Wow!“ Flip hatte kreisrunde Augen. „Wir haben echt eine Höhle gefunden!“
„Eigentlich!“ Nina sah zwischen Patte und Flip hin und her. „Hat Sophia sie gefunden.“
„Bah! Nee!“ Flip schüttelte sich. „Ich bin froh, dass die Alte weg ist!“
Die Erinnerung an Flips Cousine dämpfte auch Pattes Laune. Ausgerechnet sie hatte so etwas Tolles entdeckt. Und dann auch noch in der Nähe seines Pfefferminzsees. Zum Glück war sie weg und kam nie wieder.
Nina umrundete Geröll- und Steinberge und lief zu dem tiefblauen Schimmer, den Patte auch schon gesehen hatte.
Sie winkte wie eine Wilde. „Kommt her!“
Patte humpelte so schnell er konnte.
Flip sah schadenfroh auf seine Füße. „Tut’s weh?“
„Was ist da hinten?“, fragte Patte, um von weiteren Fußfragen abzulenken.
„Ein See!“
Flip stolperte über Lehmbrocken. Als Patte den See erreichte, hatte Flip sich bereits hingekniet und seine Hand hineingetaucht.
„Das Wasser ist warm!“, verkündete er.
Patte sah fasziniert das tiefblaue Wasser an. Der See war klein, kaum breiter als zwei Meter. Er lag verborgen in seinem geschützten Höhlenwinkel und leuchtete so blau, als hätte jemand Millionen Liter Tinte hineingegossen. Sehr weit unten schimmerte ein schwacher Lichtschein.
Nina starrte, genau wie Patte, vornübergebeugt ins Blau.
„Das ist magisch. Zauberhaft. Wunderschön.“ Sie blickte verträumt in die Tiefe und wirkte so verzückt, als hätte sie noch nie etwas Schöneres gesehen.
Patte murmelte eine stille Zustimmung.
Flip hörte auf, im Wasser zu plätschern und stand auf. Er sah prüfend seine Hand an, als wollte er sich vergewissern, dass sie nicht blau gefärbt war.
„Ich glaube“, er sah mit Kennermiene um sich, „das alles hier ist ziemlich alt.“
Patte hob verständnislos die Augenbrauen.
Flip legte den Kopf in den Nacken. „Sieht aus, als wäre erst kürzlich die Decke da oben eingestürzt. Ziemlich alt. Prähistorisch oder so.“
Patte verdrehte die Augen. Wenn Flip Lehrer spielte, war es sinnlos, Fragen zu stellen. Am besten hörte man einfach zu. Oder weg.
„Ja, ja!“, rief Flip eifrig. „Die schlimmen Gewitter und Unwetter vor ein paar Wochen! Und es hat auch Erdrutsche gegeben! Überlegt doch mal!“
Patte tat so, als würde er über Unwetter nachdenken. Seine Gedanken waren jedoch bei Ninas Haaren, die wie ein dunkelroter Schleier über dem tintigen See hingen.
Flip war nicht zu bremsen. „Die Decke ist eingestürzt! Wumms! Bäng! Deswegen ist da oben alles offen!“
Nina sah Flip überrascht an. „Meinst du wirklich?“
„Ja, ja! Wir haben was Neues, Tolles gefunden!“ Flip wedelte mit den Armen und sah drein, als habe er den einzig wahren Ursprung des Universums entdeckt. Sein Gesicht war übersät von roten Flecken.
„Wir haben eine Höhle gefunden! Eine, die noch niemand kennt! Wir sind Entdecker!“
Nina richtete sich auf und sah Patte an. „Cool, oder?“
Auch wenn Patte genervt war von Flips Besserwisserei - er konnte nicht leugnen, dass er die kleine Höhle mit ihrem geheimnisvollen See mochte. Vielleicht begann hier der ersehnte Sommer, der schon vor der Tür stand und nach vielen Unwettern mit ersten warmen Tagen zum Chillen und Träumen lockte. Ninas Augen waren erwartungsvoll auf ihn gerichtet.
„Ziemlich cool“, bestätigte er.
„Mann, super!“ Flip war vor Begeisterung nicht zu halten. Er stolperte rückwärts in den Matsch und grinste zufrieden. Patte und Nina brachen in lautes Gelächter aus.
„Und?“ Flips Wangen leuchteten himbeerrot.
„Was und?“
„Kommen wir wieder her?“
„Ja, klar!“, rief Nina. „Wann?“
„Morgen?“
„Kann ich nicht.“
„Sonntag!“
„Cool! Ich freu mich! Patte, du auch?“
„Klar doch.“ Was hätte Patte sonst antworten können? Ein Tag mit Nina, an einem neuen Ort, den niemand kannte. Ihm fiel nichts ein, das mehr Bedeutung haben konnte.
„Klar doch“, sagte er.
Nina sah gut gelaunt nach oben, durch die eingebrochene Höhlendecke in den Himmel, der beinahe so blau leuchtete wie der See. „Ich hatte schon Angst, hier ist alles stockdunkel und öde“, murmelte sie.
Patte sah sie an. „Ist alles gut? Also, hier?“
„Besser.“ Nina sah wieder nach oben. „Ich freu mich auf morgen.“
„Ich auch.“
„Und ich erst!“ Flip umkreiste wie ein wilder Affe einen Geröllhaufen und hüpfte über Lehmbrocken.
Patte schüttelte den Kopf. Das konnte ja lustig werden.