Читать книгу Spiegelungen - Anne Dorn - Страница 10
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ОглавлениеMinza liebt Lukas. Aber Lukas liebt Minza unvergleichlich mehr. Wenn er sie sieht, bleibt er stehen. Ihm ist dann, als wolle sein Herz stehen bleiben. Es pocht aber und klopft. Lukas steht, nicht sein Herz. Seine Blicke umhüpfen Minza, er flieht mit seinen Augen aus seinem steifen, stummen Körper. So zärtlich strömt er in Minza ein, dass seine langen, knochigen Beine, seine gebräunten Arme und die Hände mit den schwarzen Fingernägeln und der Warze am linken Daumen gefügig beben.
Minza lacht. Sie hat gut lachen. Lieben und leben sind für sie ein und dasselbe. »Lukas, gehen wir jetzt in die Landwehr?«
Die Landwehr ist ein großer, alter Wald. Hat er sich der Bauern erwehrt, als sie kamen und Land brauchten? Oder ist er den Bauern ein Schutzwall gewesen, die Plünderer und Vagabunden abzuwehren, sobald das Land in Kriege verwickelt war?
Die Landwehr birgt große, hellgelbe Sandgruben. Lukas hat Minza gezeigt, wie man am oberen Rand der Grube ein Grasbüschel lostritt, das Gras mit beiden Händen packt, sich geschwind auf das kleine Polster setzt und dann die Beine in die Luft wirft, damit die Sturzfahrt hinab in den gelben Kessel durch nichts gemildert ein Stück Wildheit, Wildnis, Wagnis – ach – alles Außerordentliche eines ganzen Lebens in diese Augenblicke hineinreißt.
Minza lebt mit Leidenschaft. Sie fühlt den Sommertag auf ihren Lippen und in ihrem Haar und mit ihren Zehen auf dem blankgewetzten Leder ihrer Sandale. Lukas begleitet sie morgens zur Schule. Er wartet am Hausflurfenster auf der halben Treppe, tut so, als müsse er noch einmal zurück. Immer hat er Aufgaben: Das Kleinholz vom Schuppen zur Küche tragen, das Wasser von der Pumpe holen, Kartoffeln aus dem Keller. Lukas muss niemals Beschäftigungen erfinden, um so viel Zeit zu vertreiben, dass gerade dann die Haustür hinter ihm ins Schloss fällt, wenn Minzas Kleid durch den Zaun blinkt.
Er kann Schritt halten. Wenn die anderen Kinder, mit denen Minza bergan läuft, stehen bleiben oder losrennen oder plötzlich quer ins Feld und kurz darauf wieder auf den Weg laufen, hat Lukas die Möglichkeit, diesen schönen, freien, unwägbaren Raum zwischen Minza und sich selbst auszupendeln. Je näher sie der Schule kommen, um so mehr Raum gibt er den anderen, hinzutretenden Kindern.
Minza ist ein Engel. Sie schaut sich nicht nach Lukas um, geht geradeaus. Niemals würde sie Lukas’ Liebe verraten.
Er lehrt Minza, sich still dem Bach zu nähern. Barfuß. Er bedeutet ihr, sich gegen die Sonne ans Ufer zu knien. Er schlägt einen weiten Bogen, geht unterhalb von Minzas Platz durchs Wasser, steht unvermittelt am anderen Ufer. Wartet, bis sie ihn sieht. Nickt ihr zu, beginnt plötzlich, mit den Händen auf die Erlenstämme einzuschlagen. Minza schaut gespannt auf das Wasser: die Forelle flitzt in ihre Hände.
Minza errichtet im alten Steinbruch eine kleine Mauer. Sie gräbt dahinter eine Kuhle, Lukas lässt dürre Halme und Hölzchen hineinfallen. Er nimmt eine Flaschenscherbe und bündelt damit die Sonnenstrahlen. Auf Minzas Feuerstelle beginnt es zu qualmen. Dann das Aufflackern der Flammen. Lukas verschwindet. Minza muss allein das Feuer füttern oder darben lassen.
Langsam wächst die rote, kompakte Glut. Lukas erscheint mit einem Täubchen zwischen den Fingern. Es hat noch keine Schwungfedern. Minza schaut weg. Des Täubchens Augen starren. Lukas erledigt, während er Minza fest anschaut, mit zwei Fingern das Ausnehmen. Er dreht dem Täubchen auch den Kopf ab. Dann befreit er eine Weidenrute von der Rinde, durchsticht damit vom After bis zum Hals den Körper des Vogels, übergibt ihn Minza.
Das Täubchen ist noch warm. Minza fasst es behutsam. Lukas fordert sie auf, Lehm zu holen. Es ist ihm ernst, er will es wissen: Ist Minza bereit? Sie bepackt den gefiederten, eiförmigen Körper mit Lehm. Nur die Enden des Weidenstockes schauen hervor. Lukas hat zwei Astgabeln links und rechts von der Kuhle in die Erde gesteckt, nun dreht Minza den zukünftigen Braten über der Glut. Lukas erzählt von den verschiedenen Methoden, dem Feuer Wind zuzuführen. Er beobachtet, ob Minza zu hastig dreht, ob sie wegschaut bei dem, was sie tut. Ob es sie schaudert.
Minza atmet tief auf, als ihr Lukas den hartgebackenen Klumpen aus der Hand nimmt. Er schlägt ihn auf wie eine Nuss. Und es duftet! Beide zupfen sie kleine Stücke Fleisch, jeder aus seiner Lehmhalbkugel. Nach dem Essen schiebt Lukas Erde über die Glut. Er wischt sich die Finger an Huflattichblättern sauber, Minza tut es ihm nach. Lukas gibt ihr die Hand und führt sie. Aber vor dem unteren Tor lässt er sie los.
Lukas entlockt Grashalmen und jungen Buchenblättern Töne. Er schneidet Pfeifchen aus Ebereschenzweigen. Minza kann Körbe aus Gras flechten. Sie wirft, was sie zuwege gebracht hat, kurz vor der Haustür weg.
Sie ist reicher als Lukas. Minza hat Mutter und Vater und einen kleinen Bruder. Jeden Mittag und jeden Abend ruft ihre Mutter: »Kinder – essen kommen!« Lukas’ Mutter liegt unter der Erde, sein Vater böttchert in der Brauerei. Wenn er nachhause kommt, packt ihn die Wut, dass da ein Kind auf ihn wartet. Er zieht den Gürtel aus der Hose, holt damit aus!
Im Sommer trägt Lukas schwarze Turnhosen. Satin ist sehr dünn. Die Striemen auf Lukas’ Haut sieht man oberhalb und unterhalb des Hosenbundes und der Hosenbeinkanten.
Wenn er aus der Schule kommt, heizt er den Herd an. Er kocht im eisernen Topf Kartoffeln, pellt sie, stippt eine nach der anderen in Salz und isst. Minza hat längst gegessen. Die Mutter hat schon gewartet mit Möhren, frischen Bohnen, Spiegelei, Speck, Nierchen, Leber oder auch Milchreis.
Mittwochs dürfen auch Lukas’ Kartoffeln schwimmen: Dienstags schlachtet der Metzger. Am Abend, wenn alle Würste aus dem Kessel gefischt werden und in den Rauch kommen, holen die Kinder in Milchkannen Wurstbrühe. Der Metzger fabriziert aus Semmel, Hafergrütze, Blut und gehackter Leber kleine Würstchen, die für je drei Pfennige aus seinem Kessel mit in die Kannen springen. Lukas lässt seine Brühe stehen, bis das Fett auf dem gewürzten Sud erstarrt. Er füllt das grünliche Wurstfett in ein Schüsselchen. Man kann Wurstfett nicht aufs Schulbrot streichen, es schmilzt zu rasch und tropft weg. Aber die Kartoffeln darin braten und kleine Zwiebelchen!
Lukas gibt Minza, was er zu geben hat. Sie isst mit ihm, aber wie ein Spatz. Wenn die Mutter am Sonnabend Kuchen bäckt, öffnet Minza das Küchenfenster. Geht dann Lukas vorbei, riecht, was da werden will und schon geworden ist, werden seine Augen riesengroß. Minzas Mutter nimmt das Messer, schneidet die Ränder vom frischen Streuselkuchen ab und reicht sie durchs Fenster in den Hof: »Kinder! Kuchenränder!« Auch Lukas ist ein Kind.
Minzas Mutter setzt sich, mit ihren zwei Kindern, abends auf die Bank am Waldrand und singt. Wie liebt Lukas Minza, wenn sie die erste Stimme übernimmt und ihre Mutter umschwenkt auf die zweite. Andere Kinder aus dem Haus fallen in den Gesang ein, die Erwachsenen unterbrechen das Holzhacken oder Grassicheln und hören zu – wie Lukas. Der zieht sich so weit zurück, dass sein Ohr dem Gesang noch folgen kann – und dann wankt seine Stimme in einer tiefen Dunkelheit von Heimweh und Wehmut den anderen Stimmen nach.
Lukas trägt keine Schuhe. Im Sommer läuft er barfuß, im Winter in Holzpantoffeln. Minza liebt es, in seiner Spur zu gehen, wenn seine nackten Füße nichtachtend der Bienen über den Feldrain ziehn. Er bleibt, wenn die Biene gestochen hat, kurz stehen, zieht den Stachel raus, betastet die durchstochene Haut und geht weiter.
Was alles erfährt Lukas dank seiner nackten Füße! Er spürt, wo ein Hamsterbau unter den Stoppeln entlangläuft. Er fühlt, dass gerade dort, wo er steht, eine Maulwurfsgrille aus dem Loch will, tritt beiseite, bückt sich, fährt mit einem Grashalm in die Erdröhre, die Grille fährt heraus – Lukas sperrt sie in eine leere Streichholzschachtel. Heimlich steckt er die Schachtel in Minzas Schürzentasche. Es wird der Grille warm. Ihr kleines Gefängnis ist dunkel. Sie zirpt. Minza freut sich.
Wenn die Mirabellen reifen, beginnt Lukas, sich Strümpfe zu stricken. Aus schwarzer Wolle. Er setzt sich auf den Deckel der Aschengrube. Die Frauen kommen ab und an mit den Aschenkästen aus der Tür, um die Asche auszuleeren, und dann nehmen sie Lukas das Strickzeug aus der Hand und fangen ihm die gefallenen Maschen.
Minza seufzt, wenn die Mirabellen gar so süß duften. Lukas legt das Strickzeug beiseite. Minza nimmt die fünf Nadeln und den Wollknäuel und strickt, solange Lukas das Gras nach gefallenen Früchten durchsucht. Immer bleibt ein Zweig an seinem Haarschopf hängen. Er schüttelt seine Mähne, dass der Zweig mitschüttelt. Minza strickt und strickt, auch wenn die Finger schon vom Saft der Mirabellen kleben.
Wenn der Herbst kommt, darf Lukas nach dem Kartoffelkochen ein Brikett ins Herdfeuer legen. Der Kohlenmann wohnt im Dorf, auf dem Berg gegenüber. Lukas nimmt den Sack, einen Strick und den Handwagen. In die Tasche seiner Turnhose gleitet ein Fünfmarkstück! Was für eine große, schwere Münze! Der Vater hat am Morgen seine Taschen durchsucht, ob da eine Mark und fünfzig Pfennige wären, aber er gab dem Sohn fünf Mark! Lukas setzt sich bergab in den Handwagen, nimmt die Deichsel zwischen die Beine, die eisenbeschlagenen Räder springen und hüpfen über den Schotter.
Und dann kommt er ohne den Wagen zurück! Er starrt auf den Weg, betastet jeden Stein mit dem nackten Fuß. Das, was noch keiner jemals sah, ist deutlich zu sehen: Lukas weint! Sein Mund steht vom Entsetzen weit geöffnet.
Minza rennt den anderen Kindern vorweg in die Küche: »Lukas hat fünf Mark verloren!« Die Mütter kommen aus allen Türen. Sie sagen: »Wie kann das sein« und «Such nur genau!«. Lukas möchte jede Erdkrume mit der Zunge prüfen. Und Minza weint entsetzlich: »Der Lukas, der Lukas.« Minzas Mutter legt zu Minzas fünf Spargroschen noch einmal fünf. Eine Nachbarsfrau bringt noch einen Fünfziger.
Lukas kommt mit den Kohlen langsam bergan. Er schluchzt, schüttelt sich, erwartet nun eine noch nie dagewesene Pein. Aber Minzas Mutter versteckt ihn in ihrer Küche. Er kann den Hefekloß und das Pflaumenkompott nicht herunterbringen, auch wenn Minza ihm heiße Butter über den Kloß gießt.
Lukas’ Vater kommt. Die Frauen fallen mit Begrüßungen über ihn her. Er schreit nach Lukas. Zwei andere Väter treten vor die Haustür, sie wippen den Kohlensack vom Handwagen in den Schuppen. Sie erinnern Lukas’ Vater an das Schicksal des Bauern Rämig, der zu Gericht musste, weil er sein Pferd totgeprügelt hatte.
Lukas’ Vater schreit so lange nach seinem Sohn, bis der Rausch, den er sich in der Brauerei angetrunken hat, verklungen ist und sein Gesicht grau zusammenfällt. Lukas, den Minzas Mutter hinter verschlossener Tür hält, steigt entschlossen durchs Fenster. Er geht auf den Vater zu. Man sieht, wie sein Kopf zwischen den Ohrfeigen von links und rechts hin- und herfliegt. Dann geht Lukas still treppauf, dem Vater voran in die Wohnung.
Im November herrscht Frost. Lukas trägt zu seinen schwarzen Strümpfen eine graumelierte Manchesterhose. Er trägt die Holzpantoffeln seines Vaters, weil seine eigenen ganz flach abgelaufen und vor allem zu kurz geworden sind. Minza bekam vom Großvater neue Schnürstiefel. Sie haben silbrige Haken und Ledersenkel. Abends, wenn die Väter im Hof ihre Fahrradlampen mit Carbid füllen, steht Minza in gleicher Geschäftigkeit und fettet die neuen Schuhe.
Wie neugierig ist Minza, welche Tümpel schon zugefroren sind! Es fängt mit den Wegpfützen an: Man kann die Eisfladen umdrehen und die seltsamen Erhöhungen und Vertiefungen als Gebäudeteile ansehen, sich Eisschlösser zurechtdenken! Auf dem Graben neben der Allee richten die Kinder eine Schinderbahn ein. Der Enkel des Hauswirts mit seinen frisch besohlten Stiefeln befreit durch Tritte und Hacken die Eisoberfläche von eingefrorenen Schilfrohrresten.
Aber niemand gleitet so dahin wie Lukas! Holzpantoffeln sind, das wissen alle, zum Schindern das Beste.
Es ist den Kindern streng verboten, das Eis auf dem Ziegeleitümpel zu betreten. Das Wasser füllt eine tiefe Grube, aus der man über Jahre hin den Lehm zum Ziegelbacken geholt hat. Die Lehmgrube hat hohe Ufer mit Binsengras und Gebüsch wie ein Dorfteich. Aber da ist noch ein Schienenstrang, auf den die Loren geschoben worden sind. Er kommt vom Feld her und führt im Bogen an der unverschilften Uferseite ins Wasser hinein und weiter entfernt – mitten im Tümpel – aus dem Wasser wieder heraus. Die Kinder wissen: Entlang dem Eisen bildet sich das erste Eis.
Die großen Jungen – nicht Lukas! – haben im Vorbeigehen gefrorene Lehmbatzen mit Wucht auf das Eis geworfen, auf das im Wasser verschwindende Schienenpaar. Die Lehmbatzen sind zerplatzt, der Lehm ist auf der blanken Fläche zerstoben. Es sieht so aus, als habe wer das Eis schon betreten.
Minza hat sich heute verspätet, Lukas hat lange gewartet. Jetzt macht er sich am Abhang zu schaffen, aus dessen Rändern die anderen den Lehm gebrochen haben. Minza kommt angerannt, ihre Schulsachen poltern im Ranzen. Sie umgeht rasch die Lehmgrube und sieht auch Lukas. Und sie sieht die Lehmspuren auf dem Eis.
Übermütig, ihrem Freund zuliebe oder zuleide – denn beides ist für Minza noch eins – geht sie noch einmal zurück, tänzelt über die Schienen, dem Tümpel zu. Lukas schreit: »Minza! Lass das!« Wie wohl das tut, wenn er ihren Namen ruft! Er schreit noch einmal «Minza!« und muss ihr zeigen, dass er ihr sehr, sehr böse ist. Er wendet sich ab. Wenn er nicht zuschaut, wird sie die Dummheit lassen. Sie muss in die Schule! Die anderen sind schon auf der Landstraße.
Lukas geht und geht und geht – und dreht sich um und rast zurück: Minzas Ranzen hält ihren Körper wie ein Schwimmblase! Vielleicht hält sie sich mit Händen oder Füßen an einem Schienenstück unter dem Wasser …
Diese eiseskalten, abgesackten Bögen verlaufen nicht allzu tief unter der Wasseroberfläche. Minza schreit nicht, heult nicht, fiept nur wie ein junger Hund. Sie reißt Mund und Augen auf. Ihre Zöpfe haben schon dünne, splittrige Eishülsen. Lukas bettelt: »Minza – warte bitte!«
Er stürzt den Abhang hinunter, wirft seinen Ranzen ans Ufer, betritt die Schienen – und tritt sofort wieder beiseite. Beim ersten Schritt auf die scheinbar rettenden Stränge sackte Minza tiefer. »Warte, warte doch!«
Lukas weiß keinen Rat. Seine Minza erstarrt, ist stumm vor Entsetzen. Könnte er doch sehen, wie es unter dem Wasser ausschaut! Laut klagt er: »Minza! Minza!« In seiner Not wirft er sich an eine der Weiden nahe dem Tümpelrand. Die Weidenzweige hängen mit ihrer zähen Rinde fest am Stamm, Lukas tritt und trampelt in einem irren Anlauf einen Ast los.
»Minza – halte dich fest.« Sie antwortet etwas, sehr leise, und Lukas steht am Ufer. Der Ast ist viel zu kurz, er liegt auf der dünnen Eisdecke zwischen Lukas und Minza. Es ist keine Zeit, eine Brücke zu bauen. Minzas Gesicht ist weiß wie Schnee. Lukas rennt in den Tümpel hinein. Im Schlamm gibt es Kalmuswurzeln und zu Bündeln verfilztes, dürres Röhricht.
Lukas tritt zu und weiter, Gott weiß wohin. Er schaut nur auf Minza. Sie ruft ihn jetzt: »Lukas!« Er hält den Ast, steht bis zu den Hüften im Wasser. Jetzt wirft er ihr das feste Ende des Astes zu und packt selbst die Zweigspitzen. Minza versucht, zuzugreifen, ihre Hand taucht auf, ihr Mund, ihre Nase, ihre Augen, ihre Stirn und ihre Haare tauchen unter.
Lukas springt zu. Das Eis splittert, Wasser quirlt in gelben Wirbeln. Die Eisenschienen wippen und patschen am Uferrand, wo sie die Erde berühren. Lukas taucht aus dem Wasser auf. Er kippt um. Taucht wieder auf. Er schleppt Minzas Mantel und darin wohl Minza und daran noch ihren Ranzen und darunter Minzas Beine mit den Schnürstiefeln an den Füßen.
Lukas ruft und schreit. Er legt Minza auf den gefrorenen Lehm, legt seinen Kopf an ihr Herz. Er behaucht ihr Gesicht und ruht mit seiner Wange an ihrer Wange. Minza atmet.
Lukas schreit sie an: »Komm! Du musst kommen!« Er richtet Minza auf. Sie läuft. Ganz automatisch. Als sie aus der Vertiefung aufs freie Feld kommen, vereisen in Windeseile ihre Finger, ihre Ohren, ihre Haare. Die Kleidung der Kinder erstarrt. Minza bleibt stehen. Lukas schüttelt sie, boxt auf sie ein. Er hüpft von einem Fuß auf den anderen. Er hat seine Holzpantoffeln verloren.
Lukas weiß sich nicht mehr zu helfen. Er wirft Minza auf den Boden und rollt sie hin und her, rollt sich selbst zusammen, dass die gefrorene Hose und die brettsteife Jacke knisternd brechen.
Und endlich setzt der Schmerz ein! Die eisumhüllten Gliedmaßen schmerzen in einer Weise, dass Lukas und auch Minza um ihren Verstand kämpfen. Sie bäumen sich auf und laufen. Es ist nicht weit. Hinter dem Zaun am Waldrand, im windtoten Winkel, fühlen sie sich fast schon zuhause. Es kommt ihnen warm vor. Lukas weiß: Nur ja nicht stehen bleiben! Beiden ist es plötzlich sehr leicht zumute, als könnten sie schweben. Ihm ist das unheimlich. Er nimmt Minza wie einen Sack über den Rücken, es geht jetzt nur noch bergab.
Minzas Mutter zerrt beide sofort in die Küche und umarmt beide. Und lässt sie sofort wieder los, um Wasser aus der Warmwasserpfanne im Herd zu schöpfen. Sie wirft Salz in die Wanne. Und nun kaltes Wasser, vor allem kaltes! Lukas rennt schon und holt welches von der Pumpe. Die Mutter zieht Minza aus, Lukas rennt in der nassen, verlehmten Kleidung ins Freie. Minzas Mutter dankt ihm laut für das kalte Wasser. Sie taucht ein Tuch in den Eimer, reibt Minza ab, bettelt dabei Lukas an: »Zieh dich aus! Du holst dir den Tod!« Lukas nickt und hilft, Minzas Füße zu reiben. Die sind gelb. Minzas Mutter wird laut: »Zieh dich aus, Lukas, wenigstens die Strümpfe und die Hosen und die Jacke!« Die handgestrickten Strümpfe aus grober Wolle massieren Lukas’ Beine. Er fühlt schon wieder seine Zehen.
Er steht da in den gewalkten Filzschuhen von Minzas Vater. Minza weint. Sie schämt sich und will nicht vor Lukas’ Augen in die Zinkbadewanne. Die Mutter sagt: »Er muss auch da rein!« Minza wimmert, es zuckt und reißt in ihren Händen und Füßen. Die Mutter lässt sie in der Wanne und gibt Lukas Tee. Er trinkt und schweigt. Er ist so unaussprechlich müde. In seinem Haarschopf kleben Espenblätter. Es sind oblatendünne, ausgelaugte Blattgerüste. »Lukas! Ins Bett!«
Er geht. Aber nicht ins Nebenzimmer, in dem Minzas und ihres Bruders Betten stehen. Er steigt die Treppe hoch, zieht den Schlüssel aus der Hosentasche, schließt auf, aber nicht ab und kriecht in sein Bett. Eine gnädige, rosa Düsternis fällt von den bemalten Wänden auf Lukas nieder. Er hat es geschafft.
Minzas Mutter sorgt dafür, dass Minza schläft. Dann nimmt sie das Doktorbuch aus dem Schrank und liest, was man tut, wenn einer erfrieren will. Oder ertrinken? Alles hat sie richtig gemacht, ohne das Buch. Dann entsinnt sie sich an Speisen für Gerettete. Warm müssen sie sein – und leicht. Die Brühe! Oder der heiße Holundersaft. Ein Eierkuchen! Die Mutter betrachtet Minza, wie sie schläft. Sie denkt sich selbst ins eisige Wasser, ringt für Minza um Luft – und denkt auch an Lukas.
Sie geht die Treppe hoch in die fremde, kalte Wohnung und findet ihn. Auch er schläft. Anders als Minza glühen ihm die Wangen. Er hat noch seine Hosen, sein Hemd und vermutlich die Wollstrümpfe am Leib. Es riecht dämpfig im Zimmer. Die Mutter sagt sich, es gibt auch die Möglichkeit, feuchte Umschläge anzuwenden, damit das Fieber in Grenzen bleibt. Freilich gehört dann der Kranke in ein warmes Zimmer!
Geradezu heilig und unersetzlich für jeden Kranken ist immer der Schlaf. Dieser Lukas! Was für ein Bursche! Minzas Mutter wird ihm Strümpfe stricken, zum Wechseln. Aus weicherer, besserer Wolle. Und da fällt ihr ein, dass ein Baumwolltuch, leicht angefeuchtet, und darüber ein Wolltuch, um den Oberkörper gewickelt, einer Lungenentzündung entgegenwirken. Gott, die Minza war so bleich! Die Mutter eilt treppab. Im Flur fragen die Frauen: »Was ist?« Wenn Minzas Mutter das wüsste!
Wickel. Fieberthermometer. Brühe. Nur ein paar Löffel! Frisch gekochte Kartoffeln, in der Schale zerdrückt, zwischen zwei Leintücher gebracht und dann auf die Brust. Aber das ist das Mittel, wenn die Lungenentzündung schon da ist!
Das Fieber: Minza redet, aber nicht recht gescheit. Sie liegt flach auf der Erde. Und Lukas deckt sie zu! Er deckt sie mit sich selbst zu. Das ist eine leichte, warme Decke. Ach Lukas! Minza lockt ihren Freund in den Tümpel: ›Komm! Es ist schön, wenn du kommst. Es wird ganz leicht, deine Minza zu sein! Lieber Lukas.‹ Der müht sich und kämpft. Er schleppt Minza. Er hält sie und trägt und umfängt sie. Niemand verscheucht ihn. Er gehört in Minzas Herz. Sie lässt ihn nie mehr los.
Die anderen Kinder kommen aus der Schule. Die anderen Mütter predigen: »Seht ihr! Hört ihr! Wir haben es tausendmal gesagt!« Minzas kleiner Bruder weint: »Muss Minza sterben?«
Ach nein. Jede Mutter weiß noch ein Mittel: Leinöl. Franzbranntwein. Hundefett! Aber wer hat schon welches im Haus … vielleicht für den Lukas? Sorgt Minzas Mutter für Lukas gerade so treu wie für Minza? Immer ein Kind vor seiner Tür. Er schläft und schläft. Dann plötzlich, als Minzas Mutter nach ihm sieht, hat er seine schmutzigen Sachen ausgezogen und schläft im Nachthemd. Könnte er doch lange, lange schlafen!
Minzas Vater ist immer der erste von allen Vätern. Er wundert sich sehr, wundert sich, dass die Mutter so wenig Ordnung hält und so etwas passieren konnte! Er lässt sie losrennen, über den Waldweg, zum Doktor. Er selber würde mit dem Fahrrad über die Landstraße in die Stadt fahren, aber nach dem Essen. Und weiß die Mutter denn, ob er alles genau schildern kann? Ehe sie losrennt, weckt sie Lukas: »Trink das! Trink die Bouillon!« Lukas braucht Kraft.
Während Minza hört, wie der kleine Bruder ihr buchstabierend vorliest, wie der Vater den Ofen mit Kohle versorgt, die Tür vom Wohnzimmer zum Kinderzimmer mit dem Fußbänkchen festklemmt, damit sie nicht wieder zufällt, dem Kätzchen antwortet, welches maunzend umherstreicht, das brodelnde Wasser vom Ofen nimmt und den Holunderblütentee aufgießt, wie es die Mutter gesagt hat, hört sie auch, dass oben im Haus jemand die Tür wirft.
Alle haben es gehört. Alle haben darauf gewartet. Die anderen Mütter haben ihn an der Haustür mit einer umfangreichen Geschichte empfangen. Schindern auf dem Eis! Die Lehmgrube. Minza, das verwöhnte Ding! Ein Kran! Ein Gewirr von Eisenstangen. Kein Schild an der Grube. Den Ziegeleibesitzer verklagen … Aber Lukas’ Vater lässt, was ihm gesagt wird, zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinausgehen. Er knöpft sich Lukas vor.
Minza liegt im Zimmer unter dem Zimmer, in dem Lukas liegt. Sie hört ihn betteln, wimmern, weinen, schreien! Minza schreit mit. Der kleine Bruder lässt das Buch liegen und rennt aus dem Zimmer. Der Vater steht in der Tür und schüttelt den Kopf: »Daran bist du nun schuld!«
Minza wirft das Federbett weg, hat schon die Füße auf dem Boden. Der Vater gibt ihr einen Schubs, wirft das Federbett wieder über sie drüber und schreit, wie oben Lukas schreit, nur nicht so lange: »Du alberne Gans, willst du dir den Tod holen?«
Komm, lieber Tod. Erlöse Minza von dieser Schuld. Lass den Lukas, der so wundersam warm und weich schützt und trägt, in Minzas Bett fallen. Er soll das Kind sein, um das sich die Mutter sorgt. Für das sie rennt und den Doktor bittet, dass er kommt. Und dann, wenn Minza ihren Platz geräumt hat, werden alle Mütter und Väter den Lukas lieben. »Papa, gehst du rauf, und machst in der Küche oben Feuer? Das hat der Lukas heute nicht gekonnt.« Minza will Lukas’ Holzpantoffeln aus dem Eis schlagen, wenn es erst fest ist, Pantoffeln aus trockenem Holz schwimmen oben, Minza wird sie finden.
Und der Ranzen? Hat keiner daran gedacht, dass sein Ranzen an der Lehmgrube liegt? Minza bittet den kleinen Bruder, der wieder still neben dem Ofen sitzt: »Hol du ihn. Er liegt neben dem Laubfrosch-Baum.« Der Vater sagt: »Dein Ranzen ist hier. In deinem Aufsatzheft ist die Schrift ganz verwischt. Schreibst eben neu.« Er streichelt Minza, und jede Berührung zuckt wie ein Blitz durch ihren Körper.
Lukas ist still. Was ist da oben geschehen? Der Vater sagt: »Jetzt kann er wieder schlafen.« Minza erbricht weißen, fädigen Schleim. Sie beißt in den Bettzipfel. Sie starrt zur Decke. Wenn sie durch die Decke schauen und Lukas sehen könnte! Hat sein Vater ihn niemals lieb? Warum ist das so, dass Lukas diesen Vater hat?
Minzas Vater nimmt das Fußbänkchen beiseite und schließt die Tür, damit sie endlich einschläft. Sie wartet, dass er denkt, sie würde schlafen. Sie hört, dass er aus dem Wohnzimmer geht. Dann steht sie auf, geht die wenigen Schritte bis zum Fenster und öffnet es. Sie hält sich an der Fensterbank fest und sucht am ganzen Himmel nach etwas Wunderbarem, was plötzlich da ist – und hilft. Während sie aufwärtsschaut, spürt sie über sich etwas Dunkles. Lukas hält seinen Kopf aus dem Fenster. Im Sommer tut er das oft, dann lässt er an einem Faden einen Apfel herunter, dass Minza ihn fängt. Oder einen Hampelmann aus Papier, den er so geschickt falten kann, dass er wirklich hampelt.
Wie Minza schaut Lukas heute aufwärts. Auch als sie leise ruft: »Ich hole dir deinen Ranzen«, und er ihr antwortet: »Den hole ich selbst.« Minza entdeckt am Himmel nichts. Die Sterne. Die waren von Anfang an dabei. Sie beklagt sich bei Lukas: »Mir ist kalt!«, und er versteht sie: »Mir ist auch kalt, Minza.«