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Sie war damals gerade so groß, dass ihr Kopf unter die Achselhöhle der Mutter reichte. Die konnte Minza unter den Arm nehmen, und wenn sie den Arm hochhob, um ihr Kind seitlich an die Brust zu drücken, roch Minza den Dunst, der aus dem feuchten Flecken unter dem Ärmel schlug.

Das war auf dem Schiff, einem Schaufelraddampfer. Der Vater hatte sie zur Anlegestelle gebracht. Minza hatte sich, so weit es ging, über die Brüstung des Schiffes gebeugt, damit der Vater ihr noch irgendetwas zurufen konnte, und genau gesehen, dass er lächelte – er hatte traurig gelächelt, mit sehr strammer Haltung, und das sah bei seiner kleinen Figur komisch aus. Er winkte. Die Mutter hatte ihren rechten Arm warm und schwer auf Minzas Kopf liegen, sie winkte dem Vater zurück, nur mit der linken Hand. Minza nahm auch die Hand hoch, ihre Hand hing wie an einem Laternenstock neben ihrem linken Auge. Sie winkte nur mit den Fingern, ganz klein.

Das war an einem gewöhnlichen Sonntag im Frühjahr. Die Elbwiesen trugen schon Wiesenschaumkraut und noch Himmelsschlüssel. Solange die Stadt, die richtige Stadt vorbeizog, blieb Minza neben der Mutter. Regelmäßig, wie die Namen der Kalendermonate, tauchte in ihrer Familie die Rede auf, dass Dresden schön sei. Minza wurde schon als kleines Mädchen genötigt, dieses Schöne zu sehen. Bei dieser Dampferfahrt sah sie dicke und dünne Türme, Fenster, Treppen und breite, leere Flächen mit einem Menschen in der Mitte, der in irgendeiner Geste erstarrt war, und dann auch lebendige Kinder und Erwachsene und Hunde auf den Wiesen. Deutlich im Gras Himmelsschlüssel.

Das Schiff mahlte Wasser. Es war das erste Schiff am Morgen. Sobald die Stadt in gewöhnlichen Häusern verebbte, fand Minza es kalt. Die Mutter wollte nicht mit den anderen Passagieren in den Schiffsbauch. Sie nahm Minza an die Hand und setzte sich mit ihr an einen Tisch auf das offene Heck.

Minza hätte lieber am Bug gesessen. Zuerst spielte sie mit den grünen und weißen Baumwollfransen der Tischdecke. Ein Karomuster ließ die Fäden frei und fing sie wieder ein. Genau solche Tischdecken besaß Minzas Großmutter. Sie spielte mit der vertrauten Decke. Die Mutter trank Kaffee aus einer dicken Tasse, an der Minza naschen durfte. Immer wenn sie ihren Hals langmachte und den Mund über den Tisch hin der Tasse entgegenstreckte, sah sie das blaue Kleid groß und flächig hinter deren Händen. Es war ein zauberisches Blau, taubenblau; ein gar zu starker, blauer Ton war mit einem Hauch Weiß abgebremst worden. Um den Hals und die Ärmelbündchen des Kleides liefen schmale Borten aus schwarzen und roten Glasperlen – genau an den Stellen, die auch an Minzas Kinderkleid mit Baumwollborte geschmückt waren. Nur um die Hüften der Mutter kroch eine zusätzliche, vierspurige Perlenraupe. Dazu hatte sie noch eine lange, verschlungene Elfenbeinkette über ihrer Brust hängen. Minza kugelte gern die gelblichweißen Perlen zwischen den Fingern, es knirschte etwas, wenn man sie zu rasch drehte, und dann hatte sie immer Lust, in die Kette hineinzubeißen.

Die Mutter wehrte Minza mit einer Armbewegung ab, drückte sie weg. Minza stand auf und ging zur Mitte des Schiffes. Das Schaufelrad warf regelmäßig einen Regen von Wassertropfen in den Fluss. Es war immer wieder derselbe Ablauf von Wirbeln und Gegenwirbeln in der grünlichbraunen Flüssigkeit und scheinbar dieselbe Stelle, auf die der Tropfenregen niederschlug.

Minza fing an zu singen oder zu zählen. Sie genoss den Stoß des Geländers an ihre Rippen. Das war, als würde sie wer kitzeln. Die Mutter blieb hinter der grün-weiß karierten Tischdecke, saß da und schaute. Minza hatte das Gefühl, die Mutter dürfe nicht merken, wie gern sie am Geländer stand und wie genau das feine Gezitter der Eisenstäbe auf ihre Rippen oder ihren Rücken traf. Die Mutter sah auch manchmal zu ihr hin. Dabei blähte der Wind ihr Haar um den Kopf auf wie eine Pelzkappe, und eine von ihren Händen kam unter dem Tisch vor und vor das taubenblaue Kleid. Minza winkte zurück, drehte sich wieder weg und blieb stehen, direkt über dem Schaufelrad.

Ab und zu legte der Dampfer an. Meist standen Erwachsene auf den Holzpontons. Minza besah die Leute nicht – nur ihre Füße, die der Bordkante näher schwebten und dann – plötzlich – in einer Reihe standen: Frauenbeine mit fleischfarbenen Strümpfen und schwarzen Spangenschuhen, die Minza in Gedanken mit dem Schuhknöpfer aufknöpfte und wieder zuknöpfte – bis sie zu laufen anfingen und auf das Schiff kamen. Das Schiff ließ stets einen Rest Menschen auf den Pontons zurück. Die wippten dann über kurze Holzbrücken in die Wiesen.

Minzas Mutter saß weiter hinter der grün-weißen Tischdecke. Immer legte sich ihre helle Hand vor ihr Kleid, jedes Mal wenn Minza den Kopf drehte und ihr zunickte. Danach fiel diese Mutterhand wieder unter den Tisch. Minza wusste, dort unten standen der Mutter Beine. Dort waren die Makostrümpfe und die Spangenschuhe, die sie wirklich anfassen und aufknöpfen durfte. Sie lief aber nicht zu ihr hin. Die Mutter saß so sehr still hinter dem Tisch, ihre Elfenbeinkette hing unbewegt über der blauen Brust, ihre Augen sahen noch dunkler aus als gewöhnlich, wenn sie Minza ansah – meist sah sie nur in die Luft. Minza biss sich in ihren Zopf. Ihr Haar rutschte zwischen den Zähnen hin und her, sie behielt den Geschmack von Talg, von talgiger Luft im Mund.

Mitunter ging sie in den Maschinenraum oder vielmehr vor das Fenster, durch das man den Maschinenraum sah. Die flitzenden Kolben regten sie auf, mehr noch als das Zittern im Geländer sie aufgeregt hatte. Es war eine schöne Aufregung. Einmal musste es doch genug sein! Dann wollte sie ausatmen, aber die Kolben tauchten wieder und wieder in ihren Stahlmantel ein und schossen wieder daraus hervor. Ein großes Schwungrad flirrte. Draußen, in der Mitte des Schiffes, links und rechts am Schiffsbauch, schäumten und tropften die Schaufelräder. Minza lief hin und her zwischen ihren Schaupunkten und sah auf dem halben Weg flüchtig zum blauen Kleid. Die Mutter saß da noch immer auf demselben Stuhl in derselben Haltung. Ihre Hand bewegte sich, manchmal.

Minza stand wieder vor dem Fenster zum Maschinenraum. Die Glocken schlugen an, auf dem Deck und im Maschinenraum und an einer anderen Stelle, die sie nicht erraten konnte, sie hatte anderswo keine Glocke gesehen. Durch das ganze Schiff fuhr ein heftiges Krachen – und die Kolben standen still – sekundenlang – dann tauchten sie wieder in ihre fettigen Mäntel. Einen Augenblick lang hatte das Schwungrad dicke, feste Speichen. Rückwärts drehte es an – und sofort flimmerten wieder silbrighelle Kreise zwischen dem blanken Knopf in der Mitte des Rades und seinem äußeren, breiten Band aus Stahl. Minza hörte die Leute trappeln. Aus dem Schiffsbauch rannten sie die Treppe hoch auf das Deck. Minza lief zum Schaufelrad und schaute von da aus wieder zum Heck. Eine feste Wand aus Kleidern, Rucksäcken und Beinen verstellte ihr die gewöhnliche Aussicht. Vielleicht hatte sie zur falschen Seite gesehen – aber am leeren Bug stiegen nur stille Felsen links und rechts vom Wasser auf in den Himmel. »Sind wir da?«, fragte Minza, sie wollte ihre Mutter fragen. Ein Schiffsoffizier in blauer Uniform schickte die Leute zurück auf ihre Plätze, Richtung Mitte des Schiffes. Minza wollte zu ihrer Mutter. Merkwürdigerweise schimpfte der Offizier nicht mit ihr, nur mit den anderen Leuten – obwohl sie in Gegenrichtung durch den Menschenhaufen kroch. Sie bückte sich unter die Jacken, Kleider und Hände mit Taschen und suchte nach den weißen Makostrümpfen und den schwarzen Spangenschuhen. Ein Rucksackhaken fuhr in ihren Zopf und hielt sie fest, sie weinte. Und dann sah sie plötzlich durch die Beine und Taschen hindurch die Begrenzungsschnur am Schiffsrand, sah hell das Wasser, vom Himmel her sehr hell, Schaum war da, und, aufgeblasen wie ein märchenhaftes Tier, das blaue Kleid. Viel blauer als blau! Das Weiß war ganz daraus verschwunden. Der Offizier bückte sich zu ihr, hielt ihr die Augen zu. Seine Hand war groß und warm, sie reichte von Minzas Stirn über ihre Nase bis auf ihren Mund. Minza drückte Stirn und Mund und Nase in seinen Handteller, verkroch sich darin. Er hob sie hoch, seine Uniformknöpfe rutschten über ihre kleine, platte Brust und über ihren Bauch. Er trug sie in einen mit hellem Holz getäfelten, fast leeren Raum mit Fenstern ganz oben unter der Decke. Da weinte Minza und kratzte in seine Schulterpolster. Sie schmierte ihm Schleim auf den Kragen, ein rotziger Schlier klebte auf dem dunkelblauen Tuch. Weil der Mann sie ruhig weiter auf dem Arm hielt, wischte sie den Glibber mit den Fingern breit. Sie sah, weil sie auf dem Arm des großen Mannes saß, durch die Fensterlöcher hinaus, und ganz nahe standen da wieder braune, feuchte Felsen. Sie schlang ihre Arme um den Hals des Schiffsoffiziers, hielt sich an ihm fest. Jetzt öffnete wer von außen die Tür und sprach mit ihm. Er trat mit Minza auf dem Arm einen Schritt näher: Minzas Mutter war da – in schrägen Falten hing das blaue Kleid von einer Tischplatte herunter. Ein Bein mit schmutziggelbem, faltigem Strumpf und schwarzem Spangenschuh baumelte schlaff.

Der Offizier redete, und Minza horchte mit fest zugepressten Augen nur auf die Glucks- und Fauchgeräusche in dem Manne unter dem weichen Tuch. Seine Stimme war gut und friedlich und passte zu seinem Geruch.

Nach einer Weile öffnete er eine andere Tür. Die Metallklinke drückte in Minzas Kniekehle. Und dann war es ganz still. Minza wusste, dass sie den Mann loslassen musste. Er stellte sie auf den Boden. In diesen Raum drang Tagesdämmerlicht, er befand sich hinter anderen Aufbauten in der Mitte des Schiffes. Minzas Mutter lag hier in braune Decken gewickelt auf einer Bank. Das schreckliche Blau war fort. Sie lächelte, genau wie sie hinter der grün-weißen Tischdecke gelächelt hatte. Wieder hatte Minza Scheu, zu ihr hinzugehen, dachte, sie dürfe das auf gar keinen Fall. Ihre Hände fuhren am Rand ihres Gabardinmäntelchens entlang, sie wunderte sich, dass sie nicht tropfte und ihre Strümpfe nicht klebten. Sie setzte sich auf den Stuhl genau dem Gesicht der Mutter gegenüber. Deren Hand kam unter der Decke vor. Da stand Minza auf und schlängelte ihre Kinderhand unter die Finger der Mutter. Die drückte plötzlich und für Minza schmerzhaft mit ihren blassen Fingern zu. Schnell beugte sich Minza vor, gab ihr einen Kuss. Die Decken und die Mutter selber rochen fremd. Minza machte sich kerzengerade und rangelte rückwärts, wieder hoch auf den für erwachsene Menschen gebauten Stuhl.

Längere Zeit saß sie da. Ihre Beine baumelten. Draußen rutschten die Felsen vorbei, nur ihre Felsfüße. Bauchige Wände aus Braun und Grau und manchmal Gelb. Schiffsgäste liefen über das Deck an den Fenstern vorbei, aber stets mit starr abgewandten Köpfen. Sie befanden sich also auf dem Fluss, zwischen Felswänden, mitten auf dem Schiff, zwischen den Schaufelrädern, den grünweißen Aufbauten und den Leuten mit Rucksack, Wanderstöcken und Hüten. Minza saß mitten in diesem Drumherum ganz allein – und da waren noch braune Wolldecken und darin die Mutter. Sie hörte unter sich die Maschinen stampfen. Durch die Stuhlbeine fuhr das Zucken der Kolben. Ein Aschenbecher klirrte. Er rutscht, dachte Minza, aber er rutschte nicht. Es war ein kleiner Rettungsring aus Porzellan mitten auf dem Tisch. Sie fasste ihn an, wie ihre Großmutter alles Porzellan immer anfasste und umdrehte, um das Porzellanzeichen zu sehen. Schräg vor ihr, auf der niedrigen Bank, lag die Mutter, hielt die Augen offen und sah zur Decke, an der eine Petroleumlampe baumelte. Ruhig wechselnd sah Minza zur Mutter und dann zur Decke, sah das dunkelbraune Holz mit den schwärzlichen Astknoten. Sie horchte zur Lampe hoch, auf irgendein Drahtklingeln, und sah zugleich, dass eine einzelne, trockene Haarlocke ihrer Mutter regelmäßig wippte.

Der Offizier stand fest vor dem Fenster neben der Tür. Etwas entfernt von ihm lehnten zwei Leute über das Geländer. Minza sah ihre Rucksäcke und ein gelbes Kopftuch, das der Wind ab und zu hochstellte zur Zipfelmütze. Der Mann trug eine Strickmütze. Er zog eine Landkarte weiter und weiter auseinander und die Frau hielt den Rand der Karte fest.

Ein grün-weißer Bausch flog auf die Kajütenfenster zu. Ein Kellner bückte sich danach, und Minza sah, wie er die Tischdecke draußen, weiter im Hellen, auf einen Tisch mit Nickelklammern festklemmte. Manchmal bewegte sich der Offizier, sein Tuchrücken sah dann etwas verändert aus. Minza wünschte sich, er solle sie rufen – aber er drehte sich immer nur so weit um, dass er ihre Mutter auf der Bank beobachten konnte.

Allmählich beschlugen die Fensterscheiben. Minzas Mutter fragte, ob Minza ihr Täschchen habe. Die zog es am Henkel aus der Manteltasche und zeigte, mehr als das Täschchen, ihre beiden Hände und ihre ganze, spinnige Gestalt, indem sie sich vor die Mutter hinstellte und sie ruhig anschaute. Die Mutter hatte ein Tuch um ihr Haar geschlungen. Sie weinte plötzlich, ohne dass sich ihr Gesicht irgendwie bewegt hätte. Die Tränentropfen waren das einzige Bewegliche an der ganzen Mutter.

Ihre Reglosigkeit unter der Decke war gespenstisch, wie der Stillstand der Stahlkolben gewesen war. Die schöne Mutter! Minza gehörte zu ihr und durfte allein bei ihr in der Kajüte sitzen. Niemals vorher zuhause oder irgendwo hatte Minza sie so unbedingt für sich, ohne Ablenkung, ohne dass sie etwas gesagt oder getan oder gewollt hätte – nicht einmal wenn sie schlief, war die Mutter bedingungslos da, Minza musste dann leise laufen, um sie nicht zu stören.

Minza saß auf dem Stuhl. Der fremde Schal war der Mutter vom Kopf gerutscht, ihr Haar neben der geknüllten, roten Seide war strähnig verklebt. Minzas Schuhe fielen ihr von den Füßen. Erst polterte es einmal, dann noch einmal. Die Mutter bewegte sich nicht. An der Stuhllehne entlang rutschte Minza tiefer. Sie wünschte sich den Druck des warmen, schweren Armes der Mutter auf ihren Kopf, vermisste auch den Geruch der Achselhöhle ihrer Mutter, den sie sonst nicht mochte. So streckte sie beide Beine aus und schob ihre Füße unter die Decken, die man der Mutter gegeben hatte.

Das Licht wechselte. Die Felswände hatten nun Lücken, manchmal fing das Himmelblau direkt über den Bäumen hinter den Uferwiesen an. Mutter und Kind glitten im dämmrigen Glaskasten über den Fluss, langsam, weiter, immer weiter, weiter weg, weg von allem, auch von der Stadt weg, dachte Minza, weil sie nicht auf die Stadt zufahren wollte. Sie sah durch die halbbeschlagenen Scheiben das Licht zwischen den Felswänden, und dann wieder besah sie die Holzdecke mit den Astlöchern und der Petroleumlampe über sich. Vor ihr, auf der Bank, wie in einem Bett und wie zum Schlafen hingelegt immer weiter die Mutter.

Stille und Stummheit wurden Minza allmählich vertraut. Zuhause, das Wohnzimmer, war ähnlich dämmerig wie die Kajüte hier, ja, wenn Rauch in diesem Zimmer schwebte war das genauso wie hier in der Kajüte. Manchmal, wenn Minza die Tür zum Wohnzimmer aufriss und wenn über der Blumenkrippe vor den Gardinen Rauchstreifen stiegen oder sanken, wenn sie richtig sehen konnte, wie der Rauch von ihrem Türaufreißen auseinanderfuhr, wenn sie der Mutter »Hier! Vergissmeinnicht« auf den Tisch warf, nicht darauf geachtet hatte, ob ihre Schürze schief geknöpft und Lehm an ihren Schuhen war, wenn die Mutter dann nicht sofort etwas sagte, sondern erst die gedrückten Blumenstengel auf dem Tisch auseinanderfallen ließ, wo doch Minza wartete, dass sie etwas sagen würde – dann sah Minza einen anderen Mann. Er hieß Rudolf, wie auch Minzas sehr geliebter Großvater hieß. Aber dieser Rudolf hatte ungelüftete Kleider. Minza wusste, wo er wohnte. Er lebte mit seiner Mutter zusammen in einer kleinen Wohnung, und diese Mutter hinkte und war arm und strickte für die Leute. Rudolf trank. »Der säuft ja!« hieß es im Dorf. Minza konnte Rudolf nicht leiden. Darüber sprach sie nicht mit ihrer Mutter. Sie hasste es nur, wenn die Leute über ihre Mutter und Rudolf sprachen.

Auf dem Schiff, in der Kajüte, wollte Minza der Mutter so gerne Himmelsschlüssel auf die braune Wolldecke streuen. Sie hätte hier stillgehalten und Minza hätte ihr die gelben Blumen auf den braunen Decken schön zurechtgelegt. Aber die Himmelsschlüssel fuhren lautlos in den grünen Wiesen am Fenster vorbei, der Offizier stand dazwischen und die Felsen dahinter, der Dampfer schaufelte und schaffte sie weiter.

Minza saß bei ihrer Mutter, bis der Offizier sie aus der Kajüte holte, an der Hand nahm, diesmal nicht auf seinen Arm. Die gewöhnlichen Häuser der Vorstadt standen wieder am Ufer. Jetzt fragte Minza, ob ihr Vater käme und sie und die Mutter abholen würde, aber der Offizier gab keine Antwort. Was er geredet hatte, war weit weg – im Gegensatz zu seinem guten Geruch. Als er Minza zurück in die Kajüte führte, saß die Mutter hinter dem Tisch, sah von Minza fort wieder hinauf zur Decke. Sie hatte sich angezogen. Ihr blaues Kleid hatte wieder den weißen, dämpfenden Schimmer, aber es war nicht mehr schön. Auch das Haar hing ihr glatt vom Kopfe.

Die Türme der Stadt winkten. Und dann sah Minza die hellgraue Jacke auf dem Ponton stehen. Ein Mann ohne Kopf stand da, der die Jacke aufknöpfte und mit der rechten Hand an der Jackettkante entlangfuhr, den rechten Jackenzipfel hochschob und die Hand in die Hosentasche steckte, dabei den Bauch vorstreckte und in den Knien wippte – das war Minzas Vater. Er kam nähergeschwebt in der dämonischen Stille der Schubbewegung ohne Schaufelrad, bekam einen Kopf, nahm die Hand aus der Hosentasche und stand stramm auf dem Landungssteg. Minzas Mutter fuhr wieder in ihre Schuhe.

Spiegelungen

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