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Ein Krieg war zu Ende. Lene war unterwegs wie unzählige andere Menschen auch. Sie liefen, rannten, marschierten, schleppten sich und ihre Rucksäcke, Gepäckbündel, Koffer, zogen Handwagen, fuhren auf Fahrrädern, Pferdewagen, Automobilen und vor allem mit der Eisenbahn. Diejenigen, die in Wind und Wetter draußen, auf den Plattformen der Waggons hockten, waren nur scheinbar arm dran: Sie hatten vor Augen, was sie und alle anderen sich vor allem wünschten, die nach jeder Unterbrechung weiterrollenden Räder.

Lene war ins Innere eines Waggons geraten, saß in einem Abteil, vielleicht im schlechtesten von allen. In den Fensterrahmen hatte wer Bretter geklemmt. Die sechzehn Insassen waren vor Zugwind geschützt, aber bei jedem Halt brach große Unruhe aus: »Wo sind wir? Sind wir da, wo es Suppe gibt?« »Wir sind hier eingelocht, und keiner sieht uns! Schreit, wenn ihr Suppe riecht!« »Tretet die Bretter ein!« »Nein, lasst die Bretter drin, draußen stehen hundert Leute und wollen unbedingt rein!«

Die Menschen sprachen vom Essen oder vom Schlafen. Lene war durch ein Gangfenster in den Zug eingestiegen. Nach dem Gesetz, dass bewegliche Materie zuallererst die Löcher niedrigen Niveaus füllt, war sie in einen Schlitz gerutscht, auf der einen Seite begrenzt von zwei stehend schlafenden Kindern, die beide mit einem Lederband an ihre Mutter angebunden waren, und auf der anderen Seite drückte ein dicker Mann fortwährend an ihre Schulter, tat so, als müsse man ihm Platz machen. Woher nur nahm er sein Fett? Und sein vermeintliches Recht, so zu drängeln?

Man vergewisserte sich von Zeit zu Zeit, ob der Zug seine Richtung einhielt. Einmal drehte er ab nach Osten. Für einige war das günstig, die zeigten gute Laune. Aber selbst die, welche nun ihrem Ziel entgegengesetzt fuhren, ließen sich vom Optimismus anstecken: Hatte der Zug einmal die Richtung gewechselt, konnte er das auch jederzeit wiederholen, Hauptsache, man war unterwegs. Unterwegs gehörte man nirgendwohin und zu nirgendwem. Die Zukunft war offen. Aller Schrecken lag in der Vergangenheit, – begraben, aber nicht totzukriegen, jedenfalls ohne Kreuz oder Stein.

Wenn der Zug auf der Strecke stand, wucherten Furcht wie Hoffnung, auch in Lene. Sie wurde plötzlich daran erinnert, dass sie aussteigen musste, irgendwann. Es gab einen Freund. Aber war er dort, wo sie ihn suchte?

Unterwegs zu sein, hieß für Lene: Ich lebe. Störrisch hatte sie sich eingeredet, dass Krätzemilben und Läuse um sie einen Bogen schlagen könnten. Überhaupt, jetzt kam erst einmal der Sommer.

Nachts blieben die Züge stehen. Der letzte große Bahnhof, den ein Zug vor der Dämmerung erreichte, war seine Schlafstatt. Die Menschen mussten aus- und absteigen. Für diesmal bestand der Haltepunkt aus geflickten Gleisanlagen und einem Tiefbunker. Man befand sich im Zentrum einer bis zur Unkenntlichkeit zerstörten Großstadt. Was für eine Wohltat, sich zu bewegen! Die Menschen fanden ihre Sprache wieder: »Komm raus, verschlaf nicht die Zeit!« »Alles runter vom Dach!« »Helga, Helga, wo bist du?« »Hinter den Güterwaggons kannst du pinkeln.« »Brauchst nicht zu rennen, hier gibt es nur Tee …« »Mein Schuh, mein Schuh ist weg!«

Solange es ging, blieb Lene an der frischen Luft. Vor dem Eingang des Bunkers lag ein Haufen T-Träger. Einer, verbogen wie ein angewinkelter Arm, bildete beinahe eine Sitzbank. Der Posten der Besatzungsmacht, der den Strom der Menschen beobachtete, trug eine hüftlange, gefütterte Lederweste. Seine Hilfskraft, ein Deutscher, dem die Ausweis-Kontrolle oblag, trug einen Wehrmachtsmantel, natürlich ohne Litzen. Lene fror, als sie die Männer in der warmen Kleidung sah. Es hatte geregnet, die Sonne ging unter. Das Gerippe der ehemaligen Bahnhofshalle stand schwarz gegen den rotgoldenen Himmel. Doch war das Rot und das Gold nun ein stilles und fernes Feuer, es gab keine Hitze ab, keinen Rauch, keinen Gestank.

Der Posten vor dem Bunker schlug mit einem Rohr an eine eiserne Platte. Die schwebte an einem Draht in seiner Reichweite. Ein letzter Pulk Menschen rannte von den Waggons her dem Bunker zu. Es dauerte, bis alle kontrolliert, mit einem Stempel auf der Hand versehen und eingelassen waren. Lene erhob sich als eine der Letzten. Am nächsten Morgen, gegen acht Uhr, sollte der Zug wieder unter Dampf stehen.

Im Bunker roch es nach Carbol oder einem ähnlichen Desinfektionsmittel. Dieser beißende Geruch verlor sich, je weiter Lene in den Bau eindrang. Auf mehreren Ebenen gliederte sich der Betonklotz in Straßen und Gassen, von welchen dann Boxen für jeweils fünf, sechs Menchen abgeteilt waren. Hier hatten die Bewohner der Stadt bei Bombenangriffen ausgeharrt, jetzt durchströmten wild zusammengewürfelte Menschenmassen diese unterirdische Festung. Lene wurde geschoben, schaute im Vorübergleiten in die einzelnen, zur Gasse hin offenen Boxen und besah die Menschen: Einen langen, sehr dünnen Mann, der am Boden lag und zappelte. Ihm saßen zwei halbwüchsige Jungen auf dem Leib und spielten Karten. Der dünne Mann krümmte sich wie in Krämpfen. Die Jungen bedeuteten Lene, sie müsse weitergehen, »Sonst kommt der Pfeifer und holt den Vater!«. Es ging die Rede, dass, wer auffällig wurde, einem Menschen mit Trillerpfeife zum Ausgang zu folgen habe.

Lene sah und hörte, wie zwei Frauen sich beschimpften, gegenseitig an den Röcken rissen und in die Haare fuhren. Währenddessen leckten ihre Kinder seelenruhig weiße, feste Masse aus einem Topf.

In der nächsten Nische saß ein Mann und drückte merkwürdig ruckartig immer wieder seine Hände auf sein Gepäck. Das war lebendig. Aus dem Bündel fuhr der Kopf eines Zickleins. Der Mann drückte es zurück ins Lumpengefängnis, aber das kleine Biest hatte einen Streifen seines Hemdärmels im Maul und fesselte so seine Hand. Lene lachte. Der Mann lachte mit. Es war fast so, als wären beide verabredet gewesen, einander zuzulachen! Lene wäre gern bei dem Mann mit dem Zicklein geblieben, scheute sich aber, näher zu treten, nur eben weil der Mann freundlich war.

Es gab Boxen, die fast dunkel waren, und andere, in die grelles Licht fiel. Lene sah schlafende Menschen mit offenem Mund und atembewegtem Bauch, und andere, deren Augen offen standen, die vermutlich nur mit ihren Leibern schliefen. Unvermittelt konnte wer aufstehen und durch die Gänge laufen oder nach langem Stehen und Umhersehen ebenso unvermittelt niedersinken. Im ganzen Bunker hielt sich ein vielstimmiger Summlaut. Ab und an schrie wer oder stürzte schweigend davon. Eine streng frisierte Frau mit Teekanne und Blechbechern in den Händen fragte Lene: »Wohin gehören sie?« Die zeigte aufs Geratewohl zum Ende der Gasse, um sich dem Ordnungssinn der Teefrau zu entziehen.

Auf der untersten Ebene des Bunkers schienen die Menschen in ihren Boxen Wurzeln zu schlagen. Manche hatten ihr Geviert zur Gasse hin mit Stricken versperrt. In anderen hatten die Schlafenden eine Methode entwickelt, sich aufzublähen und einen Eindringling, wie Lene es war, mit Schieben und Schütteln abzuweisen. Welches von den Kämmerchen sie auch besah, es schien ihr, jedes einzelne Chaos innerhalb der Begrenzung habe eine unantastbare Ordnung. Sie erweckte auch in denen, die sie vorbeigehen ließen, nicht den Eindruck, da brauche wer Zuspruch. Die Menschen reagierten auf sie wie auf einen vorüberziehenden Geist.

Und ganz wie ein Geist, vor Müdigkeit taumelnd, betrat Lene schließlich eine fast leere Box. Zwei Menschen hielten sich darin fest umklammert. Sie waren nackt, abgesehen von Hemden, die hochgestreift nur ihre Arme und Schultern bedeckten. Diese nackten Körper waren zwischen den anderen Menschen in ungelüfteten Kleidern, schweißigen Schuhen, Gepäckbündeln und Blechgeschirr etwas Helles, Reines. Eng umschlungen drehten sie sich umeinander, sodass sie wechselseitig die Hingabe genossen. Lene war verzaubert. Sie fühlte die Berührung der beiden, hatte trotz ihrer Jugend selbst schon so wie die beiden gefühlt, nur sich nie bewusst gemacht, wie diese inwendige Begegnung ein äußeres Bild formt. Es war so überraschend, den Beweis zu finden: Die Menschen sind inmitten aller Verwüstung auch schön. Sie lieben sich!

Die nächste Koje betrat sie mit Bestimmtheit. Zwei Frauen und ein Mann im ausgedienten Luftwaffenrock rückten beiseite. Lene breitete ihre Jacke auf den Boden. Bei der Vorstellung, sich endlich auszustrecken, störte sie ihre zum Bersten gefüllte Blase. Sie fragte eine der Frauen, wohin sie da zu gehen habe und ob die Frau ihr den Platz halten wolle. Sie musste den Mittelgang überqueren und durch eine andere Gasse zum Treppenhaus. Lene lief, ohne sich weiter umzusehen, kam erleichtert zurück in ›ihren‹ Block und war plötzlich im Zweifel: War es wirklich die richtige Gasse, in der sie stand? Ein rotes Inlett leuchtete, war es ihr vorher aufgefallen? Sich zu vergewissern, sah sie in die ihr am nächsten liegende Koje. Dieses Geviert war dunkel. Lene musste, um etwas zu erkennen, länger hinsehen. Und wieder lagen da zwei Menschen, eng miteinander verwickelt einer auf dem anderen. Sie lagen in voller Kleidung. Den Schuhen nach zu urteilen waren es Männer. Der untere lag still, der auf ihn niedergebeugte kniete, als beschütze er den anderen mit seinem Körper. Er drehte den Kopf und blitzte Lene an, die sich wie ertappt vorkam – aber wobei? Wie alle Männer zu dieser Zeit war der, der sich nach ihr umsah, nicht rasiert und trug den Stoppelbart. Er wandte sich, nachdem er Lene beäugt hatte, wieder dem anderen zu. Dabei ging ein Ruck durch seinen Körper. Er ließ sich einen Moment fallen, angelte nach einer am Boden liegenden Tasche und stellte sich blitzschnell direkt auf die Füße. Im Vorbeistürmen rempelte er Lene, sie hatte keine Chance, sich bei ihm für ihr Stehenbleiben und Hinstarren zu entschuldigen.

Im Weitergehen schon warf sie einen Blick auf den zurückgebliebenen, zweiten Mann. Der lag noch. Lene durchfuhr das Entsetzen: Sie sah ein gestreiftes Baumwollhemd, dunkelblau und grau gestreift – und darin aufrecht den Griff eines Messers! Neben dem Griff bewegte sich etwas, züngelte rot, kam im schwachen Impuls in die Höhe. Rings um den Messergriff hatte das Baumwollhemd das Blut schwarz aufgesogen.

Das Messer war ein kurzgeschliffenes Seitengewehr. Es hatte tiefer im Fleisch gesessen, Lene sah einen Teil der geröteten Klinge. Der flüchtende Mann hatte zu kurz gegriffen, hatte das Messer nicht mehr gepackt.

Das Blut quoll. Lene sah, wie ein Herz schlug, schwächer schlug, wie der Herzschlag erlosch. Genau im gleichen Maße erlosch in Lene jede Regung. Sie stand wie versteint. Der Erstochene hatte schmale, helle Hände. Die gehörten wie abgelegte Flügel zu seinen ausgestreckten Armen links und rechts von seinem Körper.

Endlich entrang sich ihr ein Schrei. Er war leise, ging über in winselndes Heulen. Aus den benachbarten Kojen kamen Köpfe hoch, man besah Lene, ihr zugekrampftes Gesicht, sie gab keinerlei deutungswerte Zeichen von sich, und das war nichts Besonderes, dass unter den Menschen, die im Bunker waren, jemand ganz abseitig dastand. Man ließ sie. Nur ganz im Hintergrund, die Frau, die für sie Platz hielt, winkte.

Lene lief. In der entsprechenden Koje angelangt, legte sie sich auf den Bauch, das Gesicht zu Boden. Ihr Kopf war leer, sie fand keine Worte. Vor ihren inneren Augen hüpfte und sprudelte weiter der kleine, rote Quell.

Spiegelungen

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