Читать книгу Pädagogik bei zugeschriebener geistiger Behinderung - Anne Goldbach - Страница 45
Autonomie und Selbstbestimmung
ОглавлениеBeide Begrifflichkeiten erfahren in der Fachliteratur keine konstante Abgrenzung und werden zumeist synonym verwendet. Trotz dieser häufig bedeutungsgleichen Verwendung kann etymologisch gezeigt werden, dass Autonomie im Sinne einer Selbstgesetzgebung verstanden werden kann (vgl. Waldschmidt 2012; Schandl 2011) und damit die Möglichkeit eines Individuums darstellt, gewisse Entscheidungen unabhängig von äußeren Einflüssen zu fällen (vgl. Schandl 2011). Fornefeld versucht zu unterscheiden in: »Autonomie […] wird im Zusammenhang mit Unabhängigkeit, Selbstverwaltung und Entscheidungsfreiheit thematisiert. Das Verständnis von Selbstbestimmung wird aus der Beschreibung von Abhängigkeiten und Formen der Fremdbestimmung behinderter Menschen gewonnen« (Fornefeld 2009, 183). Dabei vereinnahmt Fornefeld die Nutzung des Selbstbestimmungsgedanken für die Forderungen, die sich aus Abhängigkeits- und Fremdbestimmungserfahrungen von Menschen mit Behinderungen ableiten und im Zuge der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung51 und darüber hinaus von Menschen mit Behinderungen eingefordert wurden und werden. Auch Schandl (2011) stellt in ihrer Untersuchung fest, dass der Begriff der Selbstbestimmung im pädagogischen Kontext fast ausschließlich im heilpädagogischen Bereich im Zusammenhang mit dem Thema Behinderung genutzt wird, die allgemeine Erziehungswissenschaft hingegen primär mit dem Autonomiebegriff operiert. Das Thema der Selbstbestimmung nimmt in den 1990er Jahren großen Raum in der Diskussion der sogenannten Geistigbehindertenpädagogik ein (vgl. Weingärtner 2006).
»Menschen mit geistiger Behinderung sollen nicht länger als unzurechnungsfähige Personen betrachtet werden, bei denen der entsprechende Helfer weiß, was das Beste für sie ist. Die daraus resultierende Fremdbestimmung soll aufgehoben werden, indem den Menschen mit geistiger Behinderung die Möglichkeit gegeben wird, soweit als möglich ihre Angelegenheiten selbst zu entscheiden« (Weingärtner 2006, 18).
Damit wurden Selbstbestimmung und Autonomie vielfach als neue Zielperspektiven von Pädagogik beschrieben (vgl. Fornefeld 2009; Schmerfeld 2004; Klauß 2019; Schuck 2019), aber gleichfalls werden sie als solche kritisiert (vgl. Harmel 2011; Schmerfeld 2004; Lindmeier 1999; Conradi 2011; Boger 2019b).
Conradi konstatiert bspw., dass ein auf Kant zurück zu führendes Autonomieverständnis52 nicht auf jene Menschen anzuwenden ist, die als kognitiv beeinträchtigt gelten, auch deshalb, weil Kants Autonomieverständnis auf reziproke und symmetrische Intersubjektivität ausgelegt ist (vgl. Conradi 2011). Menschliche Beziehungen sind jedoch vielfach asymmetrisch und von Abhängigkeiten (mit)bestimmt ( Kap. I, 2.4) (vgl. Conradi 2011; Weingärtner 2006).
Schon in den vorangegangenen Überlegungen ist deutlich geworden, dass Autonomie und Selbstbestimmung im Kontext der pädagogischen Praxis keine zu erfüllenden Voraussetzungen darstellen, sondern dass pädagogisches Handeln darauf abzielt, dem Subjekt größtmögliche Selbstbestimmung zu ermöglichen.
»In der pädagogischen Betrachtungsweise von Selbstbestimmung geht es darum, den Menschen mit Behinderung nicht länger zum Objekt pädagogischer Bemühungen zu machen, sondern ihn als Subjekt seiner eigenen Entwicklung zu erkennen« (Fornefeld 2009, 185).
Dabei müssen durchaus die Gefahren berücksichtigt werden, die durch neoliberale Konnotationen Selbstbestimmung als einen Zwang verordnen (vgl. Schandl 2011; Conradi 2011; Fornefeld 2009; Dederich 2001), wodurch sich neue Selektionsstrategien und Exklusionspraktiken entwickeln (vgl. Fornefeld 2008a, 2009b). Selbstbestimmung und das gleichzeitige Grundbedürfnis des Menschen auf ein Gegenüber können nicht voneinander getrennt werden.
»Selbstbestimmung und Angewiesensein auf einen Andern stehen somit in einem engen widersprüchlichen Zusammenhang. Wird diese[s; d. A.] Gleichgewicht auf eine Seite hin aufgelöst, oder zerbricht es vollkommen, entstehen problematische Herrschafts- und Unterwerfungsverhältnisse« (Weiß 2000, 247, Anmerkung d. Autor).
Selbstbestimmung ist deshalb in zweierlei Hinsicht als relativ zu bezeichnen. Zum einen, weil Selbstbestimmung im sozialen Raum stattfindet und damit auch durch das selbstbestimmte Handeln anderer relativiert wird, zum anderen, weil verschiedene Lebensbereiche ein unterschiedliches Maß an Selbstbestimmung ermöglichen können (vgl. Weingärtner 2006). Weingärtner wendet sich von einem Kantischen Autonomie- und Selbstbestimmungsbegriff ab und entwickelt vor dem Hintergrund der Angewiesenheit von Menschen, die als schwer geistig behindert bezeichnet werden, ein Konzept der basalen Selbstbestimmung. Ähnlich argumentiert Conradi, die für eine Selbstbestimmung durch Achtsamkeit plädiert (vgl. Conradi 2011). In all den Ausführungen ist deutlich geworden, dass die Forderung nach einem Mehr an Selbstbestimmung für Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung ein wichtiger Bestandteil sonderpädagogischer Profession ist, dass jedoch »Selbstbestimmung und Autonomie […] für Menschen mit Behinderung nur dann eine Errungenschaft der Moderne bleibt, wenn sie nicht den ökonomischen Interessen von Sozialpolitik geopfert werden« (Fornefeld 2009, 186).
Boger pointiert:
»Die Inklusionspädagogin denkt Selbstbestimmung zuvorderst ex negativo: Sie achtet darauf, wann es zu Eingriffen in die persönliche Sphäre kommt, bei denen die Integrität der Person gefährdet ist. Sie überhöht Selbstbestimmung aber nicht zu einem Kernbegriff, da dieser nur den Menschen nutzt, die am lautesten selbstbestimmt und selbstgewählt danach schreien können. Vielmehr gilt es, der Vulnerabilität jener Menschen nachzuspüren, die nicht einmal autonom genug sind, Autonomie zu beanspruchen. Eine solidarische Forderung nach Selbstbestimmung ist so betrachtet immer eine Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht des entmündigten Anderen, was die Geste ironischerweise zu einer Form paternalistischer Fürsprache macht« (Boger 2019b, 110).
Boger macht an dieser Stelle die Ambivalenzen pädagogisch verantwortlichen Handelns deutlich. Pädagogisch verantwortliches Handeln heißt damit im Hinblick auf die Ermöglichung von Selbstbestimmung, das Spannungsverhältnis zwischen Angewiesensein und Selbstbestimmung anzuerkennen und vor diesem Hintergrund im Sinne Klauß (2019) dafür zu einzutreten, dass jedem Menschen unter Berücksichtigung seiner je individuellen Bedarfe die Chancen auf Selbstbestimmung verbessert werden müssen, indem entsprechende individuelle, interaktionale, gesellschaftliche und strukturelle Bedingungen reflektiert und angepasst werden (vgl. Klauß 2019).
38 Im Jahr 2009 führten diese zunehmenden Diskurse zu einer umfassenden Auseinandersetzung mit Menschenbildern in der (Medizin-)Ethik im Rahmen der Jahrestagung der Akademie für Ethik in der Medizin.
39 Die Vielzahl der aufgezählten Eigenschaften des homo oeconomicus können unter anderem bei Kepeller (2008), Nell (2006) und Manstetten (2006) nachgelesen werden.
40 Das Menschenbild des GG lässt sich sowohl in Übereinstimmung mit einer Vorstellung vom humanistischen Menschenbild lesen, gleichzeitig steht es aber auch in enger Verbindung zu Menschenbilddarstellungen der Medizin und Wirtschaft, welche eher in einer Abgrenzung zum humanistischen Menschenbild verstanden werden müssen.
41 Tom Hoffmann ist ein Kollege aus dem Leipziger QuaBIS-Projekt: http://quabis.info/hoffmann.php (07.04.2020).
42 Die Aussage ist ein Originalzitat aus einem bislang unveröffentlichten Text von Tom Hoffmann mit dem Titel »Ein inklusives Menschenbild«, welches er uns zur Zitation freigegeben hat. Es soll zukünftig im Rahmen eines Buches über Inklusion veröffentlicht werden.
43 Tierethik, Umweltethik, Forschungsethik, Medizinethik
44 Dies ist der Fall bei Eltern mit balancierter Translokation, bei Frauen, die schon mehrfach Tod- oder Fehlgeburten hatten. Ebenso können es aber auch monogene Erkrankungen sein.
45 Eine sehr umfassende und aktuelle Darstellung der PID und der mit ihr verbundenen Rechtsfragen unternimmt Landwehr (2017).
46 Die somatische Therapie kann auf der Stufe 2 des Eskalationsmodells verhaftet werden, der ein vertretbares und in der Regel beherrschbares Risiko unterstellt wird. Gentherapeutische Eingriffe in die Keimbahn hingegen werden auf der Stufe 3 als derzeit ethisch und medizinisch als nicht verantwortbar eingeschätzt.
47 Eine kurze Einführung zu diesen Kernthemen kann bei Sturma (2015) nachgelesen werden.
48 Die Auswahl der Aussagen von Menschen mit zugeschrieben Behinderungserfahrungen beruht auf einer Thematisierung dieser Fragen im Rahmen der Qualifizierung von Bildungs- und Inklusionsreferent*innen in Leipzig (QuaBIS). Sie bilden damit z. T. spontane Assoziationen zu den Kernthemen wieder. Außerdem beinhalten sie auf Aussagen, von Menschen mit Behinderungserfahrungen, die im Internet eigene Blogs betreiben.
49 Singer ging es in seinen Ausführungen vor allen Dingen darum, sich für die Schutzwürdigkeit von Tieren einzusetzen.
50 »Der Fötus, das schwerst geistig behinderte Kind, selbst das neugeborene Kind – sie alle sind unbestreitbar Mitglieder der Spezies Homo sapiens, aber niemand von ihnen besitzt ein Selbstbewusstsein oder hat einen Sinn für die Zukunft oder die Fähigkeit mit anderen Beziehungen zu knüpfen« (Singer 2015, 119).
51 Die Independent-Living-Bewegung startete in den 1960er Jahren in den USA und wurde von Menschen mit Behinderungserfahrungen initiiert, die nicht länger in Großeinrichtungen leben wollten und sich gegen ihre Bevormundung und Ausgrenzung eingesetzt haben (vgl. Fornefeld 2009).
52 Für Kant bedeutet Selbstbestimmung – Selbstgesetzgebung, die nicht durch eigene Gefühle bestimmt, sondern allein auf Vernunftsentscheidungen beruhen. »Das Grundkonzept dieser ›autonomen Ethik‹ […] beruht auf einer einseitigen Bevorzugung des Geistes gegenüber dem Körper« (Conradi 2011, o.S.).