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Es ist Sonntag, der 28. April 1940.

An diesem Wochenende ist ungewöhnlich schönes Wetter, es erinnert schon eher an den Sommer als an den Frühling. Der Himmel hoch und blau über dem Ort mit den frisch gepflügten Äckern und dem sprießenden Grün. Das Einzige, was die Ruhe an diesem friedlichen Sonntagmorgen in aller Herrgottsfrühe stört, sind zwei deutsche Jagdflugzeuge, die tief über die Häuser streichen, ehe sie den Fjord entlang zum Meer hin verschwinden. Die Flugzeuge kommen aus Værnes, nehmen die Leute an. Denn wie zu erfahren war, haben die Deutschen den Flugplatz von Værnes eingenommen.

Später am Vormittag bildet sich am westlichen Himmel eine Wolkenbank, als wäre ein großes Unwetter im Anzug. Schwarze, unruhige Wolken, die aufsteigen und wieder sinken. Zu diesem Zeitpunkt wissen einige schon Bescheid, da ein paar Telefonverbindungen zur Stadt zustande gekommen sind. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer im Ort. Die Stadt wird bombardiert, Kristiansund brennt.

An diesem Abend finden sich Leute aus der ganzen Umgebung auf dem Kirchberg ein. Die Nächte sind bereits kürzer geworden; bei dem schönen Wetter, das jetzt herrscht, wird es nicht stockdunkel, der Ort ist nur in ein undurchdringliches blaues Licht getaucht. Die Häuser und die Berge ringsum stehen als dunkle Silhouetten am Himmel, auf den Höhen liegt aber noch Schnee. Die Menschengruppe steht schweigsam da, versammelt wie um ein Grab, Kinder, Frauen und Männer. Die Frauen jedoch befinden sich in der Mehrzahl, denn ringsum auf den Höfen sind viele Mütter mit ihren Kindern aus der Stadt einquartiert. Ihre Männer sind nicht hier, sie sind vor Ort geblieben, dort, wo sie jetzt hinschauen und nicht glauben können, was sie sehen. Es ist wie ein spektakulärer Sonnenuntergang weit im Westen. Ein tanzender Sonnenuntergang, der kein Ende zu nehmen scheint. Und über dem roten Flammenmeer Wolken, die dunkler sind als der Nachthimmel. Die Gesichter wie helle Flecke in der blauen Dunkelheit. Bei näherem Hinsehen ist eher Zweifel als Angst in diesen Gesichtern zu erkennen. Ein Zweifel, durch den die ganze letzte Zeit, diese unwirklichen Wochen und Tage geprägt waren. Eheleute, die sich vor anderen bisher niemals berührt haben, stehen Arm in Arm da. Die kleinen Kinder sind im Bett, die größeren und die dem Kindesalter fast schon Entwachsenen suchen Schutz bei ihrer Mutter oder dem Vater. Die Kinder, die sonst solche Momente, wenn sich viele Menschen versammelt haben, für Spaß und Tollerei nutzen, sind still, ganz still.

Einer jedoch steht außerhalb der Menge. Viele von denen gibt es hier nicht, aber er dort ist einer von ihnen, und alle wissen das von ihm, seit langem. Er ist der Bauer von einem der größten und am besten instand gehaltenen Höfe der Gegend. In unzähligen Diskussionen hat er Farbe bekannt, stets ein unerschütterliches Vertrauen zu Hitler zum Ausdruck gebracht und später auch zu Quisling. Niedergemacht haben sie ihn, abfahren lassen haben sie ihn, gelacht über ihn, aber meistens haben sie ihn mit dem, was er in diesen heißen Diskussionen vorgebracht hat, gar nicht ernst genommen. Eher hatten sie wohl das Gefühl, dass er sie zum Narren hielt. Denn er, Hallgrim Ås, war ein allseits respektierter Mann im Ort, und seinen Worten wurde ansonsten Gewicht beigemessen. Früher gehörte er zu den Wenigen, die hier in der Kommune für die Bauernpartei stimmten. Jahrelang saß er in der Gemeindeversammlung, bis er sich nicht mehr zur Wiederwahl stellte und Mitglied in Quislings Partei wurde. Gescheit ist er und ein guter Bauer, er ist eigensinnig und hat einen starken Willen, mit dem es so leicht niemand aufnehmen kann. Jetzt steht er hier mit seinen Leuten außerhalb der Menge und betrachtet dieses düstere Schauspiel in der Ferne, und er bleibt nicht lange. Im Davongehen dreht er sich um.

»Macht, dass ihr nach Hause kommt. Was soll dieser Zirkus hier. Und außerdem wisst ihr ja wohl, es wurde angeordnet, dass Menschenansammlungen dieser Art jetzt nicht mehr stattfinden sollen. Macht, dass ihr nach Hause kommt, ja!«

Keiner lacht mehr über Hallgrim Ås. Nach seinen Worten ist ihnen das Lachen im Halse stecken geblieben. Sie sind an sarkastische Bemerkungen aus seinem Munde gewöhnt, doch das war etwas Neues, jeder ahnt die versteckte Drohung hinter dem, was er sagt.

Nachdem er außer Hörweite ist, sagt jemand:

»Der soll sich man vorsehen, der Hallgrim, und sich nicht für zu groß halten. Denn noch haben die Deutschen uns nicht besiegt.«

Diese Worte lösen ein verbittertes Gemurmel in der Menge aus, dann kehrt wieder Stille ein. Keiner sagt etwas. Doch einer mit seiner Familie folgt Hallgrim kleinlaut nach, der Schuhmacher aus Øra.

»O ja, der arme Schlucker«, sagen sie dazu, »ja, dass der leicht hereinzulegen ist, das ist klar. Ansonsten ist er gewiss keine große Gefahr, der kann keiner Fliege etwas zuleide tun.«

Julie spürt die Wärme von Jørgens Arm auf den Schultern und das Gewicht des Kindes im Bauch. Die Angst sitzt ihr wie ein Kloß im Hals. Krister, ihr Sohn, ist dort, in diesem Inferno, ein Inferno, das muss es sein. Schreckensbilder kommen in ihr hoch, wie viele werden es nicht rechtzeitig geschafft haben, dem zu entkommen. Sie hat ihre Arme um Helene gelegt. Die kleine, zierliche Helene, die wie ein junges Vögelchen zittert. Helge steht direkt vor ihr, er wird jetzt bald zwölf, reicht ihr schon bis an das Kinn. Auch Jostein ist hier, er ist vierzehn, zu groß, um sich von jemandem umarmen zu lassen, doch er steht so dicht bei seinem Vater, dass sich ihre Schultern berühren, wenn sie sich bewegen. Jostein ist mehr als die anderen Papas Sohn, wenn er schulfrei hat, geht er Jørgen als volle Arbeitskraft zur Hand. Sogar Synnøve ist hier, gemeinsam mit Selma. Auch die beiden Alten stützen sich gegenseitig.

»Trotz allem bin ich froh, ein Glück, dass Erling und Kristoffer das nicht mehr erleben müssen«, sagt Synnøve mit vor Weinen zitternder Stimme.

Selma weint mit, lautlos in ihr Taschentuch hinein.

»Nein, ich halte das nicht mehr aus, wir gehen jetzt nach Hause«, sagt Synnøve.

»Die Frage ist nur, ob ihnen nicht noch mehr erspart bleibt«, sagt Jørgen so leise, dass Julie es kaum hören kann.

»Frierst du? Vielleicht solltest du auch nach Hause gehen?«, fragt er.

»Nein, nein, noch nicht. Gleich.«

Erst jetzt merkt sie es, es ist eher wie eine vage Ahnung, wie eine leichte Kälte, die etwas anderes ist als kühle Frühlingsluft. Denn ist nicht zwischen ihr und ihren Leuten, die bei ihr stehen, und den anderen, die hier sind, der Abstand etwas größer? Stehen die anderen nicht dichter zusammen? Ist zwischen ihnen und den Leuten von Storvik nicht mehr Platz gelassen worden? Ist das nur etwas, was sie sich einbildet, weil sie gänzlich außer sich ist, weil sie so furchtbar müde ist?

Sie merkt auch, wie Helene, um die sie einen Arm gelegt hat, fröstelt.

»Ich gehe jetzt nach Hause«, sagt Helene.

»Soll ich mitkommen?«

»Nein, bleib nur hier.«

Ob Helene dasselbe empfunden hat wie sie? Ist das der Grund, warum sie geht? Oder hat sie vielleicht gehört, was Jørgen sagte, als die beiden Alten gingen? Hatte Helene verstanden, was er meinte?

»Ach, dann gehe ich auch«, sagt sie und will, dass die Jungen mitkommen. »Sie müssen morgen zur Schule.«

»Nein, lass sie ruhig hier bleiben«, sagt Jørgen. »Was sie jetzt erleben, ist Geschichte für sie, mehr als ihnen irgendeine Schulstunde geben kann.«

Allmählich wird die Gruppe auf dem Kirchberg kleiner. Zuerst verlassen die Frauen den Platz, sie versammeln ihre Kinder um sich und gehen dann, jede für sich, zögernd, denn der Anblick dort hält sie in Bann. Jørgen schickt die Jungen nach Hause, er selber bleibt noch mit einer Hand voll Männer zurück. Es geht schon auf Mitternacht zu, aber dieses wahnwitzige Lichterspiel im Westen dauert ununterbrochen an.

»Hört das denn überhaupt nicht mehr auf?«, sagt jemand. Ansonsten sind sie genauso stumm wie vorher, lediglich hin und wieder einzelne Einwürfe, die keine Antwort erfordern und die die Nacht verschlingt.

Jørgen kann die verschlossenen Gesichter um sich herum fast nur erahnen. Jeder ist, wie er selber auch, in seinen eigenen Gedanken versunken.

»Machst du dir um den Jungen keine Sorgen?«, fragte sie, als sie ging. Er macht sich um Krister keine Sorgen? Er, der hier mit beklemmender Angst in der Brust steht, der die ganze Zeit an nichts anderes denken kann als an Krister. Und wenn dem Jungen etwas passieren sollte, das würde sie nicht verkraften. Und zwar nicht aus dem Grunde, weil sie die anderen drei nicht genauso liebt. Niemand kann Zweifel daran haben, dass sie eine gute Mutter ist, dass die Kinder das Wichtigste in ihrem Leben sind, und so ist es wohl auch. Doch niemals leuchten ihre Augen so vor Stolz und Liebe, wie beim Anblick Kristers. In den letzten Jahren, seit er in der Stadt zur Schule geht, noch mehr als zuvor. Zuerst, als er zur Mittelschule ging, und jetzt, seit er das erste Jahr das Gymnasium besucht. An den Wochenenden, wenn er nach Hause kommt, ist sie von ihm völlig in Anspruch genommen, und sie sorgt immer dafür, dass etwas Besonderes auf den Tisch kommt, wenn er da ist. Lässt er durchblicken, dass sie zu viel Aufhebens macht und damit die Eifersucht der Brüder wecken könnte, lacht sie nur und sagt, dass er ihr schon gönnen müsse, dass sie für Krister ein bisschen was Besonderes mache, so selten wie er zu Hause sei, und das Verhältnis zwischen Jostein und Krister sei schon immer gespannt gewesen. Jørgen findet, Julie sollte klug genug sein, um die Sache nicht noch zusätzlich anzuheizen. Diese beiden Brüder sind sehr verschieden. Jostein hat ein hitziges Temperament, während Krister ruhig und besonnen ist. Dass es nicht zu noch mehr Zank und Streit zwischen ihnen kommt, als es ohnehin schon gibt, ist allein Krister zu verdanken. Er reagiert beherrscht, während Jostein heftig wird und nicht zurückstecken kann. Das liegt an den roten Haaren, Josteins Temperament könne gar nicht anders sein, pflegt Julie zu sagen.

Helge ist anders, gleicht in fast allem Krister, außer, dass er ein Blondschopf ist, während Krister schwarze Haare hat. Aber ansonsten hat er Kristers Gesichtszüge und seinen Körperbau. Was den Leuten an Helge am meisten auffällt, sind seine großen, braunen Augen mit langen schwarzen Wimpern wie bei einem Mädchen. Er hat einen Blick, der einen zusammenzucken lässt. Er hat denselben Hang zum Lesen wie Krister, und er ist genauso verträumt wie er. Und er bewundert den großen Bruder grenzenlos. Wenn Krister zu Hause ist, klebt ihm Helge an den Fersen, von seiner Ankunft bis zur Abreise. Doch Jørgen beobachtet an Helge dieselbe Weichheit, dieselbe Schwäche, die sein eigener Bruder, Ivar, hat. Krister ist da anders. Denn obwohl er eine Ruhe und Autorität ausstrahlt, die kaum jemand bei einem Burschen, der noch nicht einmal siebzehn ist, erwartet, hat er einen Willen und ein Temperament, die, wenn er sie zeigt, andere zum Schweigen bringen. Selbst er, der Vater, weiß manchmal nichts zu sagen, wenn Krister seinen Blick auf ihn richtet. Es ist ihr Blick, Julies Blick. Das bekam er letzten Sommer zu spüren, als sie einen verbissenen Kampf darum führten, ob Krister im Gymnasium anfangen sollte oder nicht. Da hatte er Krister und Julie gegen sich. Es war ein Kampf, den er verlieren musste, aber er hatte standgehalten, sozusagen bis Krister reisefertig dastand. Er selbst war der Meinung, die Mittelschule würde ausreichen. Welchem anderen Bauernsohn hier in der Gemeinde werde eine solche Möglichkeit geboten? Und was solle er mit mehr, er, der eines Tages der Bauer auf Storvik sein wird? Da schauten sie ihn nur an, alle beide, und er wusste, was er schon seit langem gewusst hatte und was er noch immer nicht wahrhaben will. Es ist ungewiss, dass Krister einmal Bauer hier auf dem Hof wird.

Trotzdem hat er dagegen gekämpft. Krister sollte nun zu Hause bleiben, bei der Bewirtschaftung des Hofes helfen, er würde gebraucht werden, gehörte hierher. Der Nächste sei jetzt mit der Schule dran, und das sei Jostein, hatte er gesagt. Krister solle sich nun seinen Brüdern gegenüber als großherzig erweisen, gegenüber seinem Zuhause, nicht nur an sich denken. Nichts half, Krister fuhr in die Stadt ins Gymnasium. Aber das würde nicht bedeuten, dass der Weg nun für Jostein verbaut sei, sagte Julie. Wenn es so weit ist, soll er auf der Mittelschule beginnen. Bei Selma gebe es Platz im Hause und im Herzen für alle.

»Na, das sind ja schöne Aussichten, was die Hilfe auf dem Hof angeht«, sagte Jørgen sarkastisch.

Offenbar hatte dieser Sohn alles mitbekommen. Er ist gut in der Schule, Julie hatte im letzten Sommer bei einer Fahrt in die Stadt einen Lehrer von der Mittelschule getroffen. Stolz berichtete sie, was er gesagt hatte. Dass Krister durch die Schule gegangen sei wie das Messer durch die Butter. Dass Krister vor allen Dingen das Abitur machen müsse, solche Fähigkeiten dürften nicht verloren gehen. Das war eines ihrer stärksten Argumente, als sich die Auseinandersetzung zuspitzte.

Im Übrigen beschäftigt sich Krister mit so vielen Dingen, dass sie sich manchmal darüber wundern, dass er noch Zeit und Ruhe für die Hausaufgaben findet und um in die Schule zu gehen. Er spielt gut Klavier, allerdings betreibt er es in letzter Zeit nicht mehr so ernsthaft. Er spielt jetzt meistens ohne Noten, populäre Schlager und das, was sie Jazz nennen. Letzteres klingt für Jørgens Ohren wie Krach, doch unter den jungen Leuten ist es zweifellos beliebt. Und seit er auf die Grundschule kam, hat er auf der Bühne gestanden, bei Weihnachtsbaumfesten, zum Nationalfeiertag am siebzehnten Mai, zu Basaren und bei anderen Gelegenheiten. Am liebsten trägt er Gedichte vor, und merkwürdigerweise wird er von seinen Kameraden deshalb nicht gehänselt. Das ist wohl deshalb so, weil er sich auch auf vielen anderen Gebieten behauptet. Im Skifahren, in der Leichtathletik, allmählich ist ihm das viele Training körperlich anzusehen. Er scheint jetzt ausgewachsen zu sein, er muss bald einsneunzig sein. Und eine athletische Figur hatte er schon immer. Jetzt ist er schlank, aber breitschultrig und muskulös. Fast, als wäre es des Guten ein bisschen zu viel geworden, als könnte er dadurch etwas hochnäsig werden. Doch es sieht nicht so aus. Alles was er mitbekommen hat, scheint er mit der größten Selbstverständlichkeit hinzunehmen. Wahrscheinlich ist das so natürlich für ihn, dass er sich selber gar nicht darüber im Klaren ist.

Am meisten grämt Jørgen, dass Krister sich in allen Arbeiten, die ein Bauer können muss, wirklich auskennt. Das ist es, was die Sache so unerträglich macht. Denn wenn Krister mit draußen ist, wenn er sieht, wie er mit der Heugabel umgeht und mit anderen Gerätschaften hantiert, wenn er sieht, wie seine Muskeln unter der braunen Haut seines jungen Körpers spielen, dann sieht er den Bauern in Krister.

Eine Erinnerung kommt in ihm hoch. Im vergangenen Jahr während eines Festes stand Krister im Jugendhaus auf der Bühne und rezitierte ein Gedicht von Terje Vigen, alle Strophen auswendig. Er stand da, so erwachsen, trotzdem aber kindlich in seinem Konfirmationsanzug, der an den Schultern spannte, mit den zu kurzen Ärmeln und Hosenbeinen. Seine Stimme aber war tief und männlich. Es waren ein paar Verse dieses Gedichts, die sich damals in Jørgens Gedächtnis wie ein Schmerz festsetzten, ein paar Verse, die jetzt zu einer schmerzlichen Erinnerung werden:

Sieh, das war mein Reichtum auf dieser Welt,

war alles, was ich je besessen.

War, deucht mir, ein Schatz, viel mehr als Geld,

anders hast du es gemessen.

Und obwohl diese Worte von etwas anderem handelten als von Grund und Boden, hatte er dennoch genau daran gedacht. Vielleicht wird er eines Tages erleben müssen, dass Krister, der älteste und erbberechtigte Sohn auf Storvik, sein Erbe ausschlägt. Wenn das geschehen sollte, wäre es, als ob ein Glied in der Kette reißen würde. Seit Generationen hatte es einen Jørgen oder Kristoffer auf Storvik gegeben.

Während er hier steht, ist ihm mitten in all der Angst und Verzweiflung etwas bewusst, was er sich selber nur selten einzugestehen wagt. Dass Krister einen ganz besonderen Platz in seinem Herzen einnimmt. Dass er den Jungen in seinem Innern wirklich liebt, er muss nur an das unbändige Glücksgefühl denken, als er geboren wurde, der Erstgeborene. Wie glücklich sie damals waren, beide, er und Julie. Sie beide bei dem kleinen Kind. Und obgleich es ihm nicht vergönnt war, ihm der Vater zu sein, der er ihm gerne gewesen wäre, hat es nichts daran geändert. Die Bitterkeit, die er aus diesem Grunde Julie gegenüber empfand, ist nun fast überwunden. Ab und zu kann es schon mal passieren, dass sie wieder hochkommt, aber er hat sich damit abgefunden, dass es so ist. Dass Krister mit allem, was wichtig und entscheidend ist, zur Mutter geht statt zu ihm. Und in seinem Innern zieht sich alles zusammen, und er möchte schreien, schreien, dass ihrem Kinde nichts zustoßen möge. Alles will er hinnehmen, wenn Krister nur wohlbehalten wieder nach Hause kommt.

Jørgen spürt jetzt die Kälte, von den Füßen aufwärts. Nur noch drei Männer aus der Nachbarschaft haben so lange ausgehalten wie er und stehen neben ihm.

»Na, Männer, jetzt kommt mal mit zu mir nach Hause!«, sagt er. »Wir müssen uns ein bisschen aufwärmen. Wenn wir Glück haben, gibt es einen kleinen Schuss in den Kaffee.«

»Nein«, sagen sie zaudernd, »wir müssen jetzt sehen, dass wir nach Hause kommen.«

Doch Jørgen gibt nicht nach. Plötzlich ist es für ihn ungeheuer wichtig, dass sie diese Einladung nicht abschlagen. Dass sie keiner abschlägt.

»Ich denke mal, wir haben noch das Bedürfnis, darüber zu reden!« sagt er.

Ja, eigentlich habe er Recht, sagen die Männer. An Schlaf sei in einer solchen Nacht sowieso nicht zu denken, und Jørgen atmet erleichtert auf. Denn er hatte dasselbe Gefühl wie Julie auf dem Kirchberg. Keine Feindschaft, aber eine vage Ahnung, dass sie ihn belauerten, er hatte gespürt, dass sie ihn aufmerksam beobachteten. Es ist lebenswichtig für ihn, ihnen zu zeigen, dass sie sich auf ihn, Jørgen, verlassen können, obwohl sich sein Bruder wie ein Schwachkopf benimmt.

Dieses scheußliche Gefühl hatte er schon lange, am deutlichsten, nachdem das Ganze am ersten September im vergangenen Jahr dort drüben ernsthaft losgegangen war; und schon gar nicht mehr zu übersehen war es, nachdem sie am Morgen des neunten April aufwachten und erfuhren, dass die Deutschen ins Land gekommen waren. Wenn er Julie gegenüber davon etwas erwähnte, hat sie es abgetan, gesagt, er übertreibe die Sache, und solange er selber eine reine Weste habe, wüssten die Leute schon, dass sie ihm vertrauen können. Aber er kennt die Leute hier, weiß, was sie denken. Es bedarf gar keiner Worte. Hier sagen Verhalten und Andeutungen oft mehr als das, was sie direkt und geradeheraus vorbringen. Und dieser Abstand ist körperlich zu spüren. Die Gespräche, die unterbrochen werden, wenn er kommt und sich zu ihnen gesellt, der kurze Moment des Verstummens, ehe sie anfangen, über das Wetter zu reden, über unbedeutende Dinge und es bei Andeutungen bewenden lassen.

»Ist Krister immer noch in der Stadt?«, erkundigten sie sich eines Tages nach ihm.

»Ja, sicher.«

»Und er wohnt noch immer bei Ivar?«

»Nein, er wohnt bei Selma«, hatte Jørgen gesagt.

Dagestanden hatte er und sich wie bei einem Verhör gefühlt, am ganzen Körper war ihm heiß geworden.

»Aber wohnen sie nicht im selben Haus? Nein, also, wenn wir einen aus unserer Familie in der Stadt hätten, das gäbe es nicht. Das wäre zu gefährlich, in vielerlei Hinsicht. Du solltest sehen, dass du ihn nach Hause holst, Jørgen.«

Seinen Bruder, der ihn in diese unmögliche Situation gebracht hat, könnte er tausendmal verfluchen. Er empfindet es als große Ungerechtigkeit, denn er war einer der Ersten, der sich von Hitler und von allem, wofür er stand, distanzierte. Vielleicht deshalb, weil er mehr als die meisten anderen im Ort die Vorgänge draußen verfolgte. Las, was die Flüchtlinge sagten, die Flüchtlinge, die schon in den frühen dreißiger Jahren aus dem Hitler-Reich geflohen und hierher nach Norwegen gekommen waren. Er weiß noch, wie sehr ihn Ivars fanatische Begeisterung erschreckte, wenn er von seinen Reisen nach Deutschland berichtete. Wenn er sich dann über Hitler als Retter Deutschlands ausließ und die Idee des Nationalsozialismus als Lösung auch für andere Länder, für Norwegen, verfocht. Ivar, der ein paar Sommer in Berlin gewesen war und Geige bei einem deutschen Musikprofessor gespielt hatte. Dort lernte er Helene kennen, eine junge und viel versprechende Balletttänzerin. Ihre Eltern wohnen in Dresden, wo ihr Vater Musikprofessor ist. Helene ist das einzige Kind.

Auf Storvik wurde Helene zunächst mit reservierter Skepsis aufgenommen, aber sie gewann schnell die Herzen aller. Sie hat eine Wesensart, die es einem leicht macht, sie zu mögen, und sie fand sich in dem neuen Milieu auf eine Weise zurecht, die jeden, der das miterlebte, in Erstaunen versetzte. Jetzt spricht sie fließend norwegisch, und sie unterscheidet sich nicht mehr von den Norwegern, aber in diesen Tagen ist es nicht zu vergessen, dass sie Deutsche ist. Wenn Ivar und Jørgen die Verhältnisse in Deutschland diskutierten, zog sie sich zurück und verließ den Raum. Die letzte harte Auseinandersetzung mit Ivar hatte Jørgen im Herbst, gleich nachdem der Vater gestorben war, und Ivar ihnen alleine einen kurzen Besuch abstattete. Die beiden Männer waren in der Küche, als es passierte.

Es fing damit an, dass sie Hitlers Einmarsch in Polen diskutierten.

»Um Gottes willen, tritt aus der Partei aus, Ivar. Denk daran, dass du es jetzt ganz besonders schwer haben wirst. Du bist mit einer Deutschen verheiratet, du hast Familie in Deutschland. Das kann schon schwer genug werden, auch ohne dass du noch zusätzlich in der Partei bist.«

»Ich habe es früher schon gesagt und ich sage es auch jetzt wieder. Es kommt überhaupt nicht in Frage, dass ich austrete, weil ich daran glaube. Ansonsten interessiert uns Politik nicht, weder mich noch Helene und ihre Eltern auch nicht.«

»Oh nein, Ivar, so kannst du mir von nun an nicht mehr kommen. Du interessierst dich nicht für Politik? Jetzt, wo du mit beiden Beinen mittendrin stehst? Denn so ist das jetzt, mein Lieber.«

»Es ist unmöglich, mit dir zu diskutieren, Jørgen. Du bist für Vernunft unempfänglich.«

»Vernunft?« Jørgens Stimme zitterte vor Wut. »Wer bist du, Ivar, dass du es wagst, von Vernunft zu sprechen? Weißt du eigentlich, was du uns, deiner Familie, antust? Hast du eine Ahnung, was wir wegen dir erleiden müssen?«

Da lachte Ivar. Jørgen explodierte vor Wut.

»Reicht es nicht, dass du Vater umgebracht hast?«

Einen Augenblick herrschte absolute Stille. Ivar, kreidebleich im Gesicht, die Augen schwarz vor Wut, starrte Jørgen an.

»Was du mir jetzt gesagt hast, Jørgen, das solltest du dir selber sagen«, fauchte er mit zitternder Stimme, »du dir selber, früher oder später. Glaub doch bloß nicht, dass du das Schuldgefühl, das du wegen Papa hast, auf mich schieben kannst. Du solltest wissen, dass ich genauestens informiert bin, was sich zwischen euch die Jahre über abgespielt hat«, sagte er und ging.

»Satan!« Jørgen schäumte vor Wut, dass ihm fast der Atem wegblieb. »Satan!«

Plötzlich stand seine Mutter im Raum, schloss die Tür hinter sich.

»Was ist los? Habt ihr euch schon wieder gestritten? Das will ich nicht haben. Du solltest dich jetzt endlich anständig benehmen.«

»Aha, er war also bei seiner Mama und hat gepetzt.«

»Nein, das brauchte er gar nicht. Es stand ihm ins Gesicht geschrieben. Deshalb möchte ich wissen, was du zu ihm gesagt hast.«

»Ich habe zu ihm gesagt, dass er Papa umgebracht hat«, antwortete Jørgen, noch immer mit einer heißen Wut im Bauch, ärgerte sich aber im selben Moment, als die Worte heraus waren. Das hätte er nicht sagen sollen, sein Zorn verrauchte, und zurück blieb nur Verzweiflung.

»Entschuldigung, Mama. Diese Worte waren nicht für deine Ohren bestimmt.«

Sie stand vor ihm, kreidebleich im Gesicht, aber gesund und munter, wie er sie von früher in Erinnerung hatte. Wie damals, als sie die Bäuerin auf dem Hof war.

»Du musst doch nicht mich um Entschuldigung bitten. Deinen Bruder musst du darum bitten. Herrgott, Jørgen, wirst du denn niemals erwachsen? Wann wirst du endlich aufhören, auf Ivar neidisch zu sein.«

»Ich bin nie ...«, aber sie unterbrach ihn.

»Nein, Jørgen, nun hör mir mal zu. Was du da eben gesagt hast, diese Worte nimmst du nie wieder in den Mund. Nie wieder. Hast du verstanden? Und im Übrigen bist du wohl Manns genug, um das mit deinem Bruder wieder in Ordnung zu bringen.«

»Ich weiß nicht, ob ich das versprechen kann, Mama. Was ich unter Wahrheit verstehe, kann ich ja wohl nicht einfach beiseite lassen.«

»Wenn ich daran denke, wie alles einmal war, wie jetzt alles ist und noch mehr, wie alles werden soll, dann wird mir Angst und Bange. Eines musst du mir versprechen, was immer auch geschieht, du darfst nie vergessen, dass Ivar dein Bruder ist.«

In ihrem Blick lag eine Trauer, die er nie vergessen wird. Und ihr Rücken war gebeugt, als sie ging, während er zurückblieb und sich fühlte wie ein Kind, das gerade Schläge bekommen hat. Wie konnte er nur seine Wut mit sich durchgehen lassen und so etwas zu ihr sagen? Das hatte sie nicht verdient. Er schämt sich auch, wenn er daran denkt, wie wenig Verständnis er und Julie für ihre Trauer und ihren Schmerz im Winter und Frühjahr hatten. Das mit Ivar ist eine Sache, aber haben sie daran gedacht, dass sie den Mann verlor, mit dem sie das ganze Leben geteilt hatte? Haben sie daran gedacht, wie einsam sie sich fühlen musste?

Er hatte den Vater an jenem Morgen, als er in die Stadt fuhr, zum Dampfer gebracht. Dieses Mal fahre er nur aus einem einzigen Grund in die Stadt, sagte der Vater, und zwar, um Ivar zur Vernunft zu bringen.

»Wenn er jetzt nicht auf mich hört, führt das noch zu einem Unglück«, sagte er.

Am Abend, nachdem er wieder nach Hause gekommen war, traf Jørgen den Vater im Hof.

»Wie ist es gelaufen, Papa?«

»Gar nicht. Es war überhaupt nichts zu machen.«

»Wo gehst du hin?«, fragte er, als er sah, wie der Vater über den Hof in Richtung Stall ging.

»Ich gehe nach den Pferden sehen.«

»Aber willst du dich nicht erst umziehen?«, fragte Jørgen verwundert.

Das Erste, was der Vater immer tat, wenn er von einer Reise nach Hause kam, war nach den Pferden zu sehen, aber er ging nie in seinen guten Sachen in den Stall. Es war nicht seine Art, penibel, wie er war. Jetzt drehte er sich zu Jørgen um und sagte:

»So weit wäre es nie gekommen, wenn Erling noch lebte.«

Das sollten die letzten Worte aus dem Munde des Vaters bleiben.

Jørgen hatte das Gefühl, dass der Vater ziemlich lange im Stall blieb, fragte sich, warum er nicht zurückkam, und er ging los, um nachzusehen. Da wurde er von der Mutter, die auf der Freitreppe stand, aufgehalten. Er wusste nicht, wie lange sie dort schon gestanden hatte.

»Halt, Jørgen. Dein Vater braucht vielleicht mal eine Weile für sich alleine«, sagte sie und ging wieder rein.

Schließlich hielt er das Warten nicht mehr aus; die Szene dort im Stall brannte sich ihm ins Gedächtnis ein. Die Stalllaterne, die an einer Kette am Haken hing, warf einen Lichtkegel in den ansonsten finsteren Stall und über den Vater, der bewusstlos zusammengesunken über den Rand der Krippe des alten Pferdes Frøya hing. Sein Kopf war auf einen Arm voll Heu gesunken, den er zuvor in den Händen gehalten und gerade noch in die Krippe gelegt haben musste. Der junge Hengst Trym stand ruhig da und fraß von dem Heu, das er sicher vom Vater bekommen hatte. Und was Jørgen am meisten rührte, war Frøya, die den Vater mit ihrem Maul vorsichtig an den Kopf stupste und an seinem Mantelkragen zupfte. Nur mühsam konnte er unterdrücken, dem Pferd zuzurufen:

»Es ist zu spät, Frøya!«

Denn er wusste es schon, als er, von dem Schock wie gelähmt, in der Tür stand, bevor er sich fassen, zum Vater hingehen und ihn berühren konnte, da wusste er schon das Entsetzliche, dass es zu spät war. Alles war zu spät. Auch heute ist ihm das noch genauso schmerzlich bewusst wie an jenem Abend, als es passierte. Wie sollte er da zu seinem Bruder gehen und um Verzeihung bitten können?

In der Küche auf Storvik ist es behaglich, im Herd ist noch Glut, und nachdem Jørgen ein paar Scheite Holz nachgelegt hat, lodern die Flammen wieder auf. Er setzt den Kaffeekessel aufs Feuer, füllt etwas Wasser nach und erdreistet sich, einen Löffel von dem gemahlenen Kaffee, der schon für den Morgenkaffee bereitstand, hineinzutun. Ansonsten ist die Kaffeebüchse zu einem Heiligtum geworden, das außer für die Frauen, die den Kaffee kochen, für jedermann tabu ist. Das ist so, seit im vergangenen Jahr die Rationierung kam.

»Ich nehme an, ihr seid es auch gewöhnt, mit dem Bodensatz aufgekochten Kaffee zu trinken«, sagt Jørgen und schenkt den Männern ein, die an dem langen Tisch Platz genommen haben.

In der Küche mit den schwarzen Verdunkelungsgardinen vor den Fenstern ist es schummrig. Nur vom Herd und von der Petroleumlampe, die am Ende des Tisches steht, kommt ein schwacher Lichtschein.

Im Hause herrscht Stille, die jedoch ab und zu von tastenden Schritten und von dem dumpfen Klappen von Türen, die geöffnet und geschlossen werden, unterbrochen wird.

»Deine Leute sind wach, höre ich«, sagt einer der Männer. »Ja, wer soll heute Nacht schlafen können. Jeder wird sich jetzt so seine Gedanken machen, nehme ich an.«

»Könnt ihr begreifen, wie sie darauf kommen, Kristiansund zu bombardieren?«, fragt Jørgen. »Welchen Sinn soll das haben?«

Nein, das begreifen sie nicht, die anderen genauso wenig wie er. Soweit sie wissen, liegen auch keine fremden Schiffe im Hafen. Keine Engländer oder andere Alliierte. Auch keine Festung gibt es dort oder Luftschutzanlagen. Warum müssen sie diese kleine Stadt durch einen sinnlosen Angriff, der nur die Zivilbevölkerung trifft, in Schutt und Asche legen? Gewiss sind dort ein paar norwegische Soldaten stationiert, nachdem nach vielem Wenn und Aber der Mobilisierungsbefehl erlassen wurde. Keiner hier aus dem Ort landete dort, soweit sie wissen. Die Wehrtüchtigen der einberufenen Jahrgänge von hier wurden gemeinsam mit einem Teil der Freiwilligen nach Dovre beordert. Unter Umständen waren sie dabei, als die deutschen Fallschirmjäger, die sich in Dombås norwegischen Streitkräften ergeben mussten, geschnappt wurden? Sie wurden in die Stadt gebracht, wo die Mittelschule zum vorläufigen Gefangenenlager für diese Soldaten gemacht wurde. Hundertvierzig an der Zahl. Hitlers Aasgeier, wie Tidens Krav sie nannte. Der Zeitung zufolge waren viele der norwegischen Soldaten in der Stadt damit befasst, die Gefangenen zu bewachen – neben ihrem Versuch, so gut sie konnten, Vorkehrungen für den Fall zu treffen, dass die Stadt angegriffen wird. Doch einen solchen Angriff aus der Luft, wie dieser es jetzt zu sein scheint, werden sie sich wohl kaum vorgestellt haben. Ob die Ursache für den Angriff sein kann, dass die Deutschen ihre Leute befreien wollen? Aber das wäre ja absurd, denn damit riskierten sie doch auch deren Leben.

»Dass dieses Pack dran glauben muss, macht mir noch die geringsten Sorgen«, meint Jørgen.

Nein, das könne nicht die Antwort sein. Wenn das ihre Absicht gewesen wäre, hätten sie es anders machen können. Denn haben sie nicht die größten Städte mit Schiffen eingenommen? Für deutsche Schiffe wäre es eine Kleinigkeit gewesen, Kristiansund, das gänzlich wehrlos und ungeschützt auf Inseln und nackten Felsen im Meer liegt, einzunehmen. Nein, das Ganze sei unbegreiflich.

Nun hatte es in der letzten Zeit viele Warnungen gegeben. Die erste erhielten sie am achten April, als die Zeitungen meldeten, dass die englischen Seestreitkräfte große Teile des Kattegats und der Nordsee vermint hätten. Am selben Abend notlandete ein englisches Wasserflugzeug im Hafen der Stadt. Es wurde zum Hjelkremkai auf der Gomaseite von Vågen hinübergeschleppt. Es gab auch Gerüchte, dass ein deutsches Wasserflugzeug in den Kornstadfjord gestürzt sei. Das machte die Leute nervös, aber mehr nicht, richtig schockiert waren sie erst, als sie am Morgen des neunten April die erste Meldung im Radio hörten:

»In der Nacht besetzten deutsche Marinetruppen mehrere norwegische Städte.« Im Laufe des Tages gab es widersprüchliche Meldungen, bis die Tageszeitungen erschienen. Die erste Seite von Romsdalsposten war folgendermaßen aufgemacht:

»Bergen und Trondheim wurden in der Nacht von den Deutschen besetzt.

Der Oslofjord von deutschen Kriegsschiffen gewaltsam durchbrochen, und die Stadt wird aus der Luft bombardiert.

Deutsche Kriegsschiffe haben in der Nacht Horten beschossen.

Eine deutsche Abteilung in Valle bei Tønsberg und in Narvik gelandet.

Kristiansand von im Egersund gelandeten deutschen Truppen bombardiert.

Auch Kopenhagen am Morgen des heutigen Tages besetzt.

Die wichtigsten schwedischen Häfen im Skagerrak von den Deutschen vermint.«

Erst da wurde ihnen klar, was ihnen schon längst hätte klar sein müssen, dass es wirklich passieren konnte. Doch die allermeisten Leute hatten darauf vertraut, dass es Norwegen gelingen würde, wie schon im vorigen Krieg, seine Neutralität zu bewahren.

»Nein, da haben sie uns kalt erwischt«, sagt Jørgen.

Das wurde schon so oft gesagt, dass es zu einer Redewendung unter den Leuten wurde. Denn obwohl sie die Zeichen hätten erkennen müssen, konnten sie nicht glauben, dass Norwegen, ein kleines Land mit wenigen Einwohnern, in so etwas Ungeheuerliches verwickelt werden sollte. So hatte es der Mann auf der Straße gesehen. Was die, die das Land lenken, gedacht und begriffen haben, werden sie nie richtig erfahren.

»Es fing mit der Altmark an«, sagt einer der Männer. »Da hätten wir begreifen sollen, was auf uns zukommt. Als die Zeitungen damals schrieben, dass Hitler auf uns hier oben jetzt spucken kann, war völlig richtig.«

Die Männer in der Küche auf Storvik sind wahrlich nicht die Einzigen, die in dieser Nacht darüber diskutieren, nicht die Einzigen, die überrascht sind und nach den Ursachen fragen. In der letzten Zeit drehen sich die Gespräche nur noch darum. Wenn Leute zusammenkommen, reden sie nicht mehr über Wind und Wetter, Arbeit und Ernte. Schritt für Schritt sind die Ereignisse näher gerückt, bis sie heute den Feuerschein am Nachthimmel sahen. Und wenn sie auch nicht mittendrin sind wie die armen Menschen, die sich in der Stadt aufhalten, so ist es trotzdem bedrohlich nahe.

Vorwarnungen hatte es mehrere gegeben. Am Donnerstag, dem 23. April, wurden die Leute durch die Zeitungen von einer weiteren alarmierenden Neuigkeit aufgeschreckt. Sunndalsøra war bombardiert worden. Ein ganzes Viertel und einzelne Gebäude waren zerstört und viele Menschen verwundet worden. Noch am selben Tag wurde ein Bombenangriff auf Rensvik gemeldet. Dieses Flugzeug war zweifellos unterwegs gewesen, um die Omsundbrücke zu bombardieren, sicher mit dem Ziel, Kristiansund zu isolieren. Die Deutschen verfehlten dieses Ziel, aber in unmittelbarer Nähe der Renabrücke warfen sie eine Sprengbombe ab, die einen vierzehnjährigen Jungen tötete und viele Menschen verletzte. Der arme Junge war dort nichts ahnend mit einem Sack Brennholz entlanggekommen, als die Bombe fiel. Er wurde »vollständig zerfetzt«, stand in der Zeitung. Auch über Angvik wurden Bomben abgeworfen, zweifellos, um den Liegeplatz der Fähre zu treffen. In Sunndalsøra und Rensvik hatten die Deutschen das Feuer auf die Zivilbevölkerung mit Maschinengewehren eröffnet.

All das sorge für große Unruhe in der Stadt, schrieben die Zeitungen. Die Hoffnung, dass eine wehrlose Stadt wie Kristiansund human behandelt werden würde, beginne zu schwinden, war zu lesen. »Kristiansund und Nordmøre bekamen gestern mit dem brutalen und mörderischen Überfall der deutschen Flieger auf die Zivilbevölkerung erstmals eine echte Kostprobe ab.« »Vollkommen unmotivierte deutsche Fliegerangriffe auf Rensvik und Sunndalsøra!« Und in der Donnerstagszeitung konnten sie von Angriffen auf zwei Liniendampfer lesen, die im Distrikt verkehren. »D/S Kværnes wurde mit Bomben und Maschinengewehrfeuer im Gebiet Talgsjøen südlich vor Tustna auf dem Weg zur Stadt angegriffen.« »D/S Statsråd Riddervold, voll besetzt mit Passagieren, Frauen und Kindern, die sich auf der Flucht ins Inland befanden, wurde im Freifjord auf dem Weg aus der Stadt angegriffen.« »Riddervold«, wie der Dampfer kurz und bündig im Volksmund genannt wird, kehrte um und nahm wieder Kurs auf die Stadt, wurde aber von Flugzeugen verfolgt. Und jetzt passierte etwas, das mit der größten Katastrophe hätte enden können. Das Schiff wurde von einer zweihundertfünfzig Kilogramm schweren Sprengbombe getroffen, aber die Bombe fiel nach unten in den Laderaum, wo sie in einer Tonne landete und ohne zu explodieren liegen blieb. Die Bombe blieb an Bord, bis das Schiff in Kristiansund am Kai lag, dort wurde sie an Land gebracht und anschließend im Meer versenkt. Ein gefährliches Unternehmen und ein Wunder. Auf beide Dampfer war aus Maschinengewehren gefeuert worden. Dieselben Flugzeuge tauchten später über der Stadt auf und schossen auf die Bevölkerung. Unter anderem schossen sie auf Leute, die Fischladungen löschten. »Das beweist endgültig, von welcher Rohheit und Brutalität die Eindringlinge besessen sind«, stand in der Zeitung. »Es ist mehr als ein Wunder, dass bei dieser Operation kein Menschenleben zu beklagen ist.« O ja, sie hatten wahrlich genügend Warnungen erhalten.

»Wir hatten uns in unserer Torheit wohl eingebildet, dass der Krieg ein Kampf ist, den das Militär führt, ein Kampf zwischen Angriff und Verteidigung. Auf alle Fälle hatte ich das so gelernt, als ich meinen Wehrdienst leistete«, sagt einer der Männer.

»Dabei ist das eine Mörderbande, die uns Hitler da auf den Hals gehetzt hat.«

Ja, es ist wohl genug passiert, damit die Leute begreifen, dass mit Hitler und seinen Lakaien nicht gut Kirschen essen ist. Um nicht davon zu reden, was sonst noch alles im Land an anderer Stelle passiert ist und noch passiert, denkt Jørgen.

Es ist spät geworden, die Uhr ist schon nach drei, und die Männer wollen aufbrechen und nach Hause gehen.

»Wie dem auch sei, morgen kommt wieder ein Tag.«

Doch bevor sie diesen unwirklichen Tag und diese unwirkliche Nacht beenden, wollen die Männer noch einmal kurz zum Kirchberg gehen und sehen, wie die Situation ist, und Jørgen schließt sich ihnen an.

Es hat sich jetzt dort drüben gelegt, nur noch ein schwacher Widerschein der wahnwitzigen Röte ist geblieben, schwarze Wolken am Himmel, die vor dem hervorbrechenden Morgengrauen heller werden.

»Gott sei Dank, es sieht so aus, als ob das Schlimmste vorüber ist«, sagt Jørgen. »Nun wollen wir nur noch hoffen, dass keine Menschenleben zu beklagen sind und dass nicht alles dem Erdboden gleichgemacht ist.«

Leise zieht er sich aus, um Julie nicht zu wecken, aber sie ist wach.

»Konntest du unseretwegen nicht schlafen?«, fragt er.

»Nein, es war unmöglich zu schlafen. Warst du noch einmal dort draußen? Wie sieht es aus?«

»Es sieht aus, als ob es jetzt vorüber sein könnte, das Schlimmste. So, nun können wir nichts weiter tun, als nur hoffen.«

»Ich habe solche Angst, Jørgen. Um Krister, um unsere Kinder, um uns alle. Was wird aus uns nun bloß werden?«

»Um Krister musst du dir keine Sorgen machen«, tröstet er sie. »Er weiß schon auf sich aufzupassen und um die anderen brauchst du dich nicht zu ängstigen. Und ein Tag folgt dem anderen und dann werden wir weitersehen. Aber ansonsten kann ich mir einfach nicht helfen, die Sache mit Ivar nimmt mich mit. Von allem anderen abgesehen, das geht mir nicht aus dem Kopf. Dass er sich ausgerechnet mit diesem Volk einlassen muss. Und das ganze Gerede davon, dass Deutschland Europas führende Kulturnation ist.«

»Und ist es nicht so?«

»Ich sagte doch aber Kultur«, Jørgen hebt jetzt die Stimme. »Satansbrut, Vandalen, Abschaum, das sind sie.«

»Sei leise, du weckst ja die Kinder.«

Sie bleiben liegen, ohne noch etwas zu sagen. Trotz aller Unruhe und aller angsterfüllten Gedanken ist Jørgen von einem merkwürdigen Glücksgefühl erfüllt. Weil sie so zusammen daliegen können, weil sie das miteinander teilen können. Er muss an die schlimmen Jahre denken, nachdem sie das Kind verloren hatte, mit dem sie schwanger war, ein Mädchen, das nie mehr erwähnt wird. Damals, als sie die Betten auseinander schob, so dass jedes an einer Wand für sich stand. Als sie gleichzeitig ihn aus ihrem Leben hinausschob. Niemals wird er aufhören dafür zu danken, dass diese Zeit vorüber ist.

»Schlaf nun«, sagt er und hört selbst, dass seine Stimme vor Rührung belegt ist.

Julie kehrt heim

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