Читать книгу Julie kehrt heim - Anne Karin Elstad - Страница 5

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»Deutschland steht mit Norwegen nicht im Krieg«, liest Randi. Sie entziffert es von einem Flugblatt, das auf einem Stapel in der Schale auf dem Tisch liegt. Diese Flugblätter wurden die ersten Tage nach dem neunten April von deutschen Flugzeugen über Øra abgeworfen. Die Jungen brachten sie mit nach Hause. Nachdem alle sie gelesen hatten, wollte Julie sie in den Ofen stecken. Solche Schweinerei wolle sie nicht im Hause haben, sagte sie. Doch Jørgen konnte sie daran hindern. So etwas müsse man aufheben, meinte er. Das wird eines Tages Geschichte sein. So sind sie hier liegen geblieben, werden gelesen und kommentiert.

»So ein verdammtes Scheißgewäsch«, schnauft Randi. Sie sind alleine in der Küche, sie beide, keine lauschenden Kinderohren. »Ja, du musst schon entschuldigen, es ist eigentlich nicht meine Art zu fluchen. Aber ich habe so eine Wut im Bauch, dass ich fluchen könnte wie ein Brauereikutscher. Und wenn ich diesen Mist lese, hör dir das nur an: ›Der größte Teil des norwegischen Heeres und der norwegischen Marine verhält sich zu den deutschen Streitkräften loyal.‹ Was bilden die sich ein? ›Zivilisten dürfen keine Waffen tragen. Wer gegen dieses Verbot verstößt, wird nach dem Kriegsrecht behandelt. Angesichts der entscheidenden Schlacht gegen England kann und wird die deutsche Schutzmacht keine Form von Sabotage zulassen. Im Notfalle wird sie in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht mit aller Strenge und allen ihr militärisch zur Verfügung stehenden Mitteln einschreiten.‹ Als Unterschrift auf dem Flugblatt: ›Der deutsche Kommandant in Trondheim.‹ Was sagst du dazu?«, fragt Randi.

»Ich habe das schon so oft gelesen, dass ich es fast auswendig kann, aber es macht einen noch stärkeren Eindruck, wenn es laut vorgelesen wird.«

»Das ist starker Tobak«, sagt Randi. »Soll ich weiterlesen?«

»Ja, lies nur!«

»›Norweger! Die norwegischen und die deutschen Truppen beschützen gemeinschaftlich Ihr Heimatland. Lassen Sie sich nicht von verbrecherischen englischen Agenten, die Ihr Land zum Kriegsschauplatz machen wollen, aufwiegeln.‹ Hörst du das, Julie? Sie und Ihr, nun sind sie wohl plötzlich höflich geworden? ›Legen Sie die Waffen ab! – Nehmen Sie die Arbeit wieder auf. Der Oberkommandierende gibt bekannt: Vor das Kriegsgericht wird gestellt, wer die von der vorigen Regierung erlassene Mobilisierung befolgt oder wer verleumderische Gerüchte verbreitet. Erschossen wird jede Zivilperson, die mit einer Waffe in der Hand angetroffen wird. Erschossen wird, wer Anlagen zerstört, die dem Verkehr und dem Nachrichtenwesen dienen. Erschossen wird, wer kriegerische Mittel anwendet, die mit dem Völkerrecht unvereinbar sind. Norweger! Wer sein Vaterland wirklich liebt, nimmt die Arbeit wieder auf!‹

Erschossen wird, wer ..., erschossen wird, wer ...«, wiederholt Randi. »Hast du schon jemals eine solche Frechheit gehört? ›Die Anwendung von Kriegsmitteln, die mit dem Völkerrecht unvereinbar sind‹«, zitiert sie. »Genau das haben sie selber getan, als sie die Stadt dem Erdboden gleichgemacht haben, oder vielleicht nicht? Die verdammten Schweine! Was denken die denn von uns? Denken die, wir sind ein Volk von Feiglingen und Analphabeten? Denken die, wir lassen uns von einem solchen Schwachsinn beeindrucken? Soweit ich weiß, haben sie noch nicht überall gesiegt. Ich habe noch keinen Deutschen zu Gesicht bekommen, noch hat sich keiner blicken lassen, weder in der Stadt noch hier. Die sollen bloß nicht denken ...«

Da unterbricht sich Randi, sitzt da und starrt zur Tür. Julie dreht sich um und sieht, dass Helene in der Tür steht. Wie lange sie dort schon steht, wie viel sie mitgehört hat, wissen sie nicht. Sie waren so mit sich beschäftigt, dass sie ihr Kommen nicht bemerkten. Die ganze letzte Zeit verhält sie sich schon so. Ruhelos wandert sie im Haus umher, lautlos auf den Zehenspitzen ihrer kleinen Ballettfüße. Manchmal zieht sie sich etwas über und geht zur Hauptstraße hoch, läuft ein paar Meter, bevor sie wieder zurückkommt. Wieder und wieder tut sie das, als ob ihr Körper von einer Unruhe erfüllt wäre, die sie nicht bezwingen kann. Seither haben sie Angst um sie, fürchten, dass sie krank wird, aber ihr Blick ist wach, nur diese Unruhe ist beängstigend.

»Entschuldigung. Ich störe bestimmt«, sagt sie jetzt und geht. Schließt die Tür hinter sich, nur ihre leichten, schwebenden Schritte durch das Wohnzimmer sind zu hören, bis eine weitere Tür zugeht.

»Armes Menschenkind«, sagt Randi. »So wie die Dinge jetzt liegen, kann sie einem nur Leid tun.«

Allmählich kehrt wieder der Alltag in den Ort ein. Ein neuer Alltag, ein anderer Alltag. Eines jedoch wissen sie, nichts kann wieder so werden, wie es vorher war.

Die Frühjahrsbestellung, die aufgeschoben wurde, muss erfolgen. Damit im Herbst geerntet werden kann, muss jetzt die Saat in die Erde. Jeder sagt zum anderen, das Leben gehe weiter. Es ist ja völlig sinnlos, die Welt anhalten zu wollen, auch wenn die Welt, wie es scheint, völlig aus den Fugen geraten ist.

Die Leute, die aus der Stadt hierher evakuiert wurden, müssen entscheiden, was sie mit ihrem Leben in der nächsten Zeit anfangen wollen. Viele von ihnen haben ihre Wohnung verloren. Es ist nichts mehr da, wohin sie zurückkehren könnten. Die Mütter mit Kindern ziehen es vor, hier noch eine Weile wohnen zu bleiben, bis die Situation in der Stadt so ist, dass sie zurückkönnen. Schulpflichtige Kinder wollen sie hier im Ort zur Schule schicken. Frau Solberg hat gefragt, ob sie auf dem Hof bleiben und ihre Kinder hier zu Schule schicken dürfe. Von ihrem Heim, einem Miethaus auf Gomalandet, ist nur noch ein Haufen Asche übrig. Ihr Mann konnte bei Ivar ein Zimmer mieten. Es sei lediglich eine Notlösung, hat er gesagt, es gehe nicht an, dass sie dort mit den drei Kindern auch noch einziehe.

Randi will nach Hause. Yngvar hat angerufen und gesagt, er werde Bescheid geben, sobald er der Ansicht sei, sie könne die Reise wagen. Für einen kurzen Moment hatte Julie während des Gesprächs neben ihr gestanden, und so seine Worte zwangsläufig mitbekommen:

»Ich will nicht, dass du da bleibst. Sieh zu, dass du von diesen Leuten wegkommst, und zwar so schnell wie die Feuerwehr.«

»So ein Unsinn«, erwiderte Randi. »Was soll denn daran gefährlich sein?« Dann verstummte sie, lauschte.

»Ja, gut, Yngvar. Nein, ich verstehe, was du meinst.«

Sie wich Julies Blick aus, als sie den Hörer auflegte.

»Es ist wohl am besten, wenn wir zusehen, dass wir nach Hause kommen«, sagte sie. »Aber ich werde euch nie vergessen, dass ihr uns hier für diese Tage aufgenommen habt.«

»Aber du weißt doch, dass du hier so lange bleiben kannst, wie du willst?«

»Ach, nein, ich kann hier nicht noch länger müßig herumlungern. Außerdem hast du wohl schon genug Menschen im Hause, um die du dich kümmern musst. Aber schade, dass das Kind nicht mehr vor meiner Abreise zur Welt kommt und ich das Wunder nicht sehen kann. Doch das kommt noch, später. Die Geschenke, die Leckerbissen zur Geburt, die werden wir euch dieses Mal nicht schicken können«, sagt sie lachend. »Nein, Julie, jetzt müssen die Ärmel hochgekrempelt werden. Ich werde dort gebraucht, Yngvar braucht mich. Er hat schon eine Familie mit drei Kindern in die Wohnung aufgenommen. Es sind Leute, die wir kennen. Es wird eng, doch jetzt müssen wir anderen helfen, alles tun, was wir können, wo wir doch zu den Glücklichen gehören, die ihr Heim nicht verloren haben. Und ich kann Yngvar dort doch nicht mit allem allein lassen.«

Allmählich kommt der Liniendampferverkehr wieder in Gang und eines Morgens in aller Frühe begleitet Julie Randi und ihre Kinder zum Kai hinunter. Vorher war sie im Vorratshaus gewesen und hat etwas eingepackt, um es Randi mitzugeben. Bekümmert sieht sie, wie die Vorräte an diesen Tagen mit den vielen fremden Menschen im Hause zusammengeschmolzen sind. Doch sie hat von dem genommen, was ihr gehört. Synnøve besitzt eigene Vorräte in ihrer Ecke im Vorratshaus, wie das schon immer war.

»Das ist aber nun wirklich viel zu viel, doch mir bleibt nur, danke zu sagen. Ich habe keine Bedenken, dass es nicht gut gebraucht werden wird«, sagt Randi.

Julie graust es vor dem Abschied. Es war ein großer Trost für sie, Randi in dieser Zeit bei sich zu haben.

»Wir dürfen den Kontakt nicht abreißen lassen, Randi«, sagt Julie. »Und wenn es nötig wird, dann weißt du, dass du hier jederzeit willkommen bist.«

»Na, hoffentlich nicht.«

»Nein, weißt du, wir sollten uns unsere Freundschaft durch nichts kaputtmachen lassen, dafür bedeutet sie mir viel zu viel.«

»Oh, unsere Freundschaft hat im Verlaufe der Jahre so manch einen Stoß aushalten müssen. Sollten wir das nun nicht packen? Aber wir müssen wohl damit rechnen, dass wir uns jetzt seltener sehen als früher. Du weißt, es ist viel passiert.«

Ja, Julie weiß das, hat es in den Tagen, die Randi hier war, begriffen, und sie bleibt zurück und winkt ihnen mit einem unguten Gefühl voller Unbehagen im Bauch zum Abschied nach. Sie geht den Hang hinauf, langsam, muss oft anhalten, um sich auszuruhen, spürt die schwere Last von dem Kind in sich. Doch es ist mehr als das, es ist eine Last, für die es keine Worte gibt.

Zwischen den Familien Storvik und Thorsen hat es schon immer eine Kluft gegeben. Zwischen ihnen und ihren Leuten hier, aber mehr noch zwischen ihnen und der Familie Storvik in Kristiansund. Jetzt weiß sie, dass sich die Lage so verschlechtert hat, dass der Abstand unermesslich groß geworden ist. Das steckte hinter all dem, was Randi zum Abschied sagte. Jetzt sieht sie ein, dass Jørgen Recht hat. Ivar und seine Machenschaften zerstören doch mehr, als sie sich eingestehen wollte. Damit kann die Freundschaft zwischen ihr und Randi so stark belastet werden, dass sie zu zerbrechen droht. Doch daran darf sie gar nicht denken. Wen hat sie dann noch, dem sie sich anvertrauen kann? Und ihr geht durch den Kopf, dass sie sich über die Jahre hinweg zu abhängig von Randi gemacht hat.

Diese Gedanken sind es, die sie ungeduldig und gereizt machen, als Helene zu ihr in die Küche kommt.

»Ich halte es nicht mehr aus, Julie«, sagt Helene. »Ich muss nach Hause, ich kann nicht mehr hier bleiben.«

»Was ist denn so schlimm daran, hier zu sein?«, fragt Julie scharf. »Denkst du gar nicht daran, was dir alles erspart geblieben ist? Du hast dein Zuhause behalten, Ivar ist wohlauf. Du solltest an die denken, die alles verloren haben«, sagt sie und ärgert sich im selben Moment über ihre Worte, als sie Helenes Gesicht sieht. Doch wie lange soll sie es denn hier aushalten und auf alle und alles Rücksicht nehmen? Sie ist so erschöpft, dass sie den Eindruck hat, ihr drehe sich alles, und sie entschuldigt sich vor sich selber damit, dass Helene es lernen muss zu begreifen, dass es noch andere gibt, die es schwer haben. Aber ein paar Tage später kommt Helene zu ihr und sagt ihr, sie habe von Ivar einen Brief bekommen. Er will, dass sie nun nach Hause kommt, während Selma noch bis auf weiteres bleiben soll.

An dem Tag, als Helene abreist, umarmt Julie sie. Sie steht da und spürt Helenes zierlichen Körper an ihrem mächtigen Leib, ihr Bauch ist der Umarmung fast im Wege. Helene reicht ihr knapp bis zum Kinn, ist zerbrechlich wie ein Vögelchen. Doch dass Kraft und ein starker Wille in ihr stecken, hat sie schon mehr als einmal bewiesen. Seitdem feststand, dass sie abreist, hat sie die wohl bekannte Ruhe, durch die sie sich immer auszeichnete, wiedergewonnen. Jetzt gibt sie Julie die Hand.

»Danke, Julie, für alles, was du getan hast. Danke, dass du mich aufgenommen hast«, sagt sie gefasst.

»Das fehlte gerade noch«, sagt Julie betreten. »Du hast solchen Mut bewiesen, Helene, mach nur weiter so.«

Ein leichtes Lächeln streicht über Helenes Gesicht, bevor sie sich umdreht und geht.

Julie hat von ihren Eltern ein Telegramm bekommen, dass mit ihnen und allen Angehörigen in Romsdalen alles in Ordnung ist. Sie hat selber ein Telegramm zurückgeschickt und ihnen einen Brief geschrieben. Um sie muss sie sich also vorläufig keine Sorgen machen. Sie schreibt an Krister und beschwört ihn, nach Hause zu kommen. Was habe er dort jetzt noch zu tun, wo, wie sie wisse, jeder Unterricht in den Schulen der Stadt ausgesetzt sei? Doch in seinem Antwortbrief schreibt er, dass er bleiben müsse, wo er sei. Jeder einzelne Mann werde bei den Aufräumungsarbeiten gebraucht, schreibt er. Das bringt Jørgen in Rage: Krister müsse nach Hause kommen, und wenn er in die Stadt fahren und ihn eigenhändig herschleppen müsse.

»Was bildet er sich denn ein, dieser Bursche?«, donnert er. »Hält er sich für so unabkömmlich, dass er sich nach allem, was passiert ist, nicht einmal Zeit nimmt, zu einem Besuch nach Hause zu kommen?«

Julie war unendlich dankbar, dass Krister das Ganze, ohne Schaden zu nehmen, überstanden hat. Es geht das Gerücht, dass ein Jugendlicher bei Löscharbeiten umkam, als er von einem einstürzenden Schornstein getroffen wurde. Etwas Ähnliches könnte genauso gut Krister treffen, sie hat ihn vor Augen, draufgängerisch und unbekümmert, und sie wundert sich darüber, dass er nach allem, was er durchgemacht hat, nicht das Bedürfnis verspürt, nach Hause zu kommen. Ob es das Mädchen ist, von dem Randi erzählt hat, das ihn in der Stadt zurückhält?

»Es sieht alles danach aus, dass er ein richtiger Frauenheld wird, dein Sohn«, sagte sie.

Es ist ihr schon selber aufgefallen, wenn es hier im Ort Veranstaltungen gab, dass ihm die Mädchen Blicke zuwarfen, auch ältere, doch das hatte sie stolz gemacht. Noch ist er viel zu jung, um mit einer fest zu gehen, wie die jungen Leute das nennen.

»Sie sind doch noch jung«, hatte Randi zu ihr gesagt. »Du darfst nicht so streng sein, Julie, gönn deinem Kind doch ein bisschen Vergnügen in der Jugendzeit. Auch wenn Krister mit einem Mädchen auf Vanndamman spazieren geht und ein bisschen mit ihr schmust, das ist doch keine Katastrophe, finde ich. Du solltest nicht vergessen, dass du auch einmal jung warst.«

»Aber alleine sind wir damals nicht zusammen gewesen und nicht in aller Öffentlichkeit an der Hand eines Jungen gegangen, bevor es nicht etwas Ernstes war«, sagte Julie verbittert.

»Die Zeiten haben sich geändert. Damit müssen wir uns abfinden, wir alle.«

Sie selber? Sie war bestimmt auch nicht viel älter als siebzehn, als sie und Ingebrikt eine Art Liebespaar waren. Aber Ingebrikt war drei Jahre älter als sie, erwachsen kam er ihr damals vor, kein Knabe, der noch nicht einmal siebzehn war so wie Krister. Außerdem gab es zwischen ihnen nie mehr als Händchenhalten, höchstens dass sie sich ab und zu mal ein Küsschen stahlen. Abgesehen von dem einen fürchterlichen Zwischenfall, als er sich fast an ihr vergangen hätte. Das ist ein Erlebnis, an das sie sich nur selten zu erinnern wagt, doch es passierte, nachdem sie mit ihm Schluss gemacht hatte. Nein, sie ist nicht sehr glücklich darüber, sie wird mit Krister, wenn er nach Hause kommt, ein ernstes Wort darüber reden. Denn noch hat er ihr immer fast alles anvertraut.

Die Zeitungen, die in Kristiansund erscheinen, kommen nicht mehr. Dem Radio oder anderen Informationen können sie nicht trauen. Die Wenigen im Ort, die den »Anzeiger« aus Trondheim halten, lesen in der Ausgabe vom sechsten Mai Berichte über die Bombardierung von Kristiansund und anderen Städten in Møre. Der größte Teil Kristiansunds sei niedergebrannt, steht dort zu lesen. Deutsche Flugzeuge hätten den Hafen, der voller britischer Schiffe lag, bombardiert. Danach hätten »die Engländer die Stadt in Brand gesteckt, bevor sie sich davonmachten«. Empört über diese lügenhaften Darstellung begreifen die Leute, dass sie weder der Zeitung noch anderen Informationen trauen können. Der »Pressedienst der Okkupanten« hat also auch Trondheim im Griff.

Alle möglichen Gerüchte machen die Runde, niemand weiß, wem er vertrauen, worauf er sich verlassen kann. Einwohner aus der Stadt erzählten von dem selbstlosen Einsatz der Leute, die aus dem Umland kamen und bei Aufräumungsarbeiten halfen, und zwar während des Bombardements und danach. Nicht weniger wurden die Bootseigner gelobt, die für die Evakuierung aus der Stadt sorgten. Allerdings waren auch andere zur Stelle, die weniger erwünscht waren, die andere Absichten verfolgten. Dasselbe traf auf die in der Stadt ohnehin vorhandenen lichtscheuen Elemente zu. Leute, die die Situation ausnutzten, um in Geschäften und in privaten Häusern zu stehlen. Es wird erzählt, dass viele gefasst und in den Arrest gesteckt wurden. Erzählt wird auch von Kaufleuten, die die Türen zu ihren Läden öffneten und Leute baten, sich mit Waren zu versorgen. Es würde doch alles nur verbrennen. Anständige Leute hätten sich zunächst geweigert, weil es ihnen wie Selbsthelfertum erschienen sei, bevor sie sich dazu entschließen konnten, der Aufforderung nachzukommen. Viele Gerüchte dieser Art machen die Runde, allmählich lernen die meisten Leute, sie mit Vorsicht zu genießen.

Jørgen meinte es ernst, als er sagte, er werde in die Stadt fahren, um Krister nach Hause zu holen. Am Donnerstag, dem neunten Mai, brach er auf. Das schöne Wetter, das während des gesamten Bombardements und ebenso die Woche danach geherrscht hatte, war jetzt umgeschlagen. Über Talgsjøen blies ein frischer Wind und grau stand der Regen vor den Bullaugen des Dampfers. Von Minen war die Rede, die gelegt worden seien, von Seeminen, die im Wasser trieben. Viele der Frauen saßen bleich und ängstlich da, die meisten jedoch nahmen es mit fatalistischer Ruhe hin. Es war etwas, an das sie sich gewöhnen mussten.

Der Anblick, der sich Jørgen bot, als er der Stadt mit dem Dampfer näher kam, war ein Schock für ihn. Schwarze Schornsteine, düster in den Himmel ragend, Reste von Fassaden und wacklige Mauern, die emporstiegen aus etwas, das auf den ersten Blick einer Geröllhalde glich. Er hatte gewusst, dass es kein schöner Anblick werden würde, der ihn hier erwartete, aber dass es so sein würde, das hatte er sich in seinen wildesten Phantasien nicht vorstellen können.

Jørgens erster Gedanke ist, dass viel passieren muss, bevor er nach dem, was er heute gesehen hat, klagen wird. Und erst jetzt wird ihm klar, wie unglaublich glücklich sie in seinem Ort sein können, dass sie trotz allem den Krieg bisher nur aus sicherem Abstand betrachtet haben.

So verläuft auch seine erste Begegnung mit dem »Herrenvolk«, wie die Leute die Deutschen neuerdings nennen. Der Kai ist dermaßen zerstört, dass es Probleme bereitet, an Land zu kommen, doch mitten in den verwüsteten Anlagen stehen grün uniformierte deutsche Wachtposten. Mit Stahlhelm, Patronengürtel und Maschinenpistole halten sie am Fallreep und am Kai Wache. Diese Deutschen gehören zu dem ersten Bataillon, das die Stadt am siebten Mai besetzte, einem Infanterieregiment. Es läuft ihm kalt den Rücken herunter, als er an ihnen vorbeikommt und an den anderen von derselben Bande, während er durch diese kahle Trümmerlandschaft geht, die einmal eine schöne Stadt war.

Als er sich durch die zerstörten Straßen quält, hat er noch mehr das Gefühl, sich über eine Steinhalde zu bewegen. Es ist schwer, sich zu orientieren, doch als er den Loennechenhof erblickt, weiß er, dass er in Kaibakken ist. Mitten in den Ruinen stehen die alten Gebäude aus Holz, die wie zum Trotz widerstanden haben, ein Punkt, an dem man sich orientieren kann. Auf den niedergebrannten Grundstücken arbeiten angestrengt Menschen, um aufzuräumen, und der Anblick ihres ungebrochenen Optimismus und Gemütszustandes rührt Jørgen tief. Was sind das für Menschen! Über der Schule in Allanengen weht unter der norwegischen Fahne eine kleine Hakenkreuzflagge. Immer gibt es ein erstes Mal, zum ersten Mal sieht er diese Flagge mit eigenen Augen.

Er empfindet es fast als Erleichterung, als er Langveien weiter hinaufkommt und sieht, dass noch mehrere Häuserblocks stehen, wie es aussieht, unbeschädigt. Das Gefühl der Erleichterung lässt schnell wieder nach. Es graust ihn unglaublich davor, Ivar zu begegnen, es graust ihn davor, in dieses Haus zu kommen, wie es ihn die letzten Jahre immer grauste. Dieses Haus, das mit so vielen guten Erinnerungen verbunden ist, das jetzt aber für ihn Sorge und Unheil repräsentiert. Aber was soll er machen? Er muss Kristers habhaft werden, er muss bis morgen hier bleiben und übernachten, woanders kann er nicht hin.

Er kommt in ein Haus, das kaum wiederzuerkennen ist. Fremde Stimmen sind zu hören und unten in der Halle muss er sich einen Weg durch spielende Kinder bahnen. Ganz oben auf der Treppe steht Helene, um ihn zu empfangen. Es ist eine ganz andere Helene, als der verzagte Schatten ihrer selbst, der vor ein paar Tagen hilflos bei ihnen auf Storvik herumschlich. Sie trägt ein Hauskleid mit aufgerollten Ärmeln, hat rote Wangen, ist energisch. Sie begrüßt ihn und hilft ihm mit seinen Sachen. Entschuldigt sich, dass sie ihn nicht in das Wohnzimmer bitten könne. Darin wohne jetzt eine Familie. Das Speisezimmer könnten sie selber nutzen, sagt sie. Darin stünde ein Diwan, auf dem er heute Nacht schlafen könne. Der Kaffeetisch sei schon gedeckt. In der Tür zum Speisezimmer bleibt Jørgen wie angewurzelt stehen und starrt zum Tisch. Dort sitzt ein Deutscher in voller Uniform, ein junger Bursche. Er erhebt sich höflich, als Jørgen ins Zimmer geht, kommt ihm mit ausgestreckter Hand entgegen. Bevor sich Jørgen besinnen kann, hat er die Hand des Deutschen ergriffen und sich vorgestellt wie der Deutsche auch. Mehr verschämt als schockiert steht er da und schaut dem Deutschen nach, der zur Tür geht, sich umdreht und verbeugt, bevor er die grüne Schiffermütze aufsetzt und das Zimmer verlässt. Aus dem Treppenhaus ist das Gepolter seiner Stiefelabsätze zu hören.

Er findet keine Worte, um etwas zu sagen. Helene hat hektische rote Flecke auf den Wangen.

»Er kommt aus meiner Heimatstadt, aus Dresden. Seine Familie und meine Eltern sind Nachbarn. Er kam her, um mir Grüße zu überbringen.«

Ivar und Krister seien draußen, sagt sie. Krister gehöre zu den Aufräumungstrupps in den Straßen, während Ivar im Damenheim in Langveien sei, wo sie versuchen, die Bank provisorisch einzurichten. Sie erwarte sie hier in ein paar Stunden zum Essen. Ob Jørgen sich vielleicht solange ausruhen wolle.

Er lehnt dankend ab, ihm fehle jetzt die innere Ruhe, um sich zu entspannen.

»Das Einzige, womit die Leute in der Stadt jetzt befasst sind, ist, den Obdachlosen zu helfen«, sagt Helene. »Wir selber haben, wie gesagt, eine Familie mit Kleinkind im Wohnzimmer. Unten wohnen zwei Familien. Wenn Selma zurückkommt, muss sie eines der Zimmer hier oben bekommen. Ihre Kleidung und all die Dinge, von denen sie am meisten fürchtet, dass sie kaputtgehen könnten, haben wir schon nach oben geholt. Die Haushilfe wohnt jetzt in diesem Zimmer hier, während Krister immer auf dem Diwan im Speisezimmer schläft. Heute Nacht bekommt er ein Lager auf dem Fußboden in der Küche.«

»Es wird eng«, sagt Jørgen.

»Ja, aber hier hat niemand einen Grund zu klagen.«

In dem Moment hören sie jemanden in langen Sätzen die Treppe heraufspringen und Krister steht in der Tür. In schmutzigem Arbeitsoverall, kariertem Hemd, das über den braunen, starken Armen aufgekrempelt ist, im Gesicht Streifen von Schmutz und Ruß, die Haare über der Stirn feucht und verschwitzt. Sein Gesicht wird von einer leichten Röte überzogen.

»Was, du bist gekommen, Papa?«

»Ja, das hast du wohl nicht gedacht, wie?«, sagt Jørgen, erhebt sich und nimmt Kristers große, schmutzige Hand in seine. Er muss sich beherrschen, um den Jungen nicht an sich zu drücken.

»Du kommst jetzt schon?«, fragt Helene. »Es ist ja noch gar nicht Mittag, wie du weißt.«

»Nein, ich gehe gleich wieder. Ich habe nur solchen Hunger und dachte, ich könnte eine Scheibe Brot ergattern«, sagt er.

Helene schiebt einen Teller mit belegten Schnitten zu ihm hinüber.

Während er Brot kaut, erzählt er aufgeregt.

»Es kommen noch mehr Deutsche in die Stadt. Du musst mit nach draußen gehen, Papa, und dir das ansehen.«

Von der Straße dringt Gesang herein, wie ein fernes Rauschen.

»Wer singt denn dort?«, fragt Jørgen verwundert.

»Die Deutschen. Sie singen, wenn sie marschieren. Das machen sie immer so. Auch die Gefangenen haben das gemacht. Aber du kannst glauben, die hatten eine Scheißangst.«

Er spricht von den deutschen Kriegsgefangenen, die in der Mädchenschule interniert waren.

»Die ersten Tage während des Bombardements mussten die Wachsoldaten mit Maschinengewehren schießen, mit denen sie sich ausgerüstet hatten, um die Gefangenen von den Fenstern zu vertreiben, wo sie standen und glotzten und von wo aus sie ihre Landsleute gewissermaßen willkommen heißen wollten. Am Montag fing die Schule Feuer und die zu Tode erschrockenen Gefangenen donnerten an die Türen und schrien. Da war es vorbei mit ihrem Mut. Dann wurden sie in die Schule in Allanengen gebracht. Am Abend desselben Tages führte man sie zum Kai hinunter, um sie per Schiff in die Volksschule nach Varde auf Bremsnes zu bringen. Inzwischen hatten sie wieder die große Klappe«, sagt Krister. »Sie sangen aus vollem Hals, als sie durch die brennende Stadt zum Kai marschierten.«

Jørgen steht neben Krister auf der Straße und traut seinen Augen und Ohren nicht. Eine Horde Deutscher in voller Uniform mit Stahlhelmen auf dem Kopf marschiert singend durch die Ruinen, sie halten den Takt, als nähmen sie an einer Siegesparade teil. Einen schlimmeren Hohn gegenüber den Einwohnern dieser dem Erdboden gleichgemachten Stadt hätten sie sich kaum ausdenken können. Für Jørgen ist es der endgültige Beweis ihrer teuflischen Niedertracht. Und er erlebt an diesem Tag noch mehr dieser Art, was Gefühle in ihm weckt, von denen er kaum geahnt hatte, dass er ihrer fähig wäre. Mit einer Verbitterung, die ihn fast umbringt, sieht er, wie die norwegische Flagge in der Schule in Allanengen eingeholt und durch eine im Winde flatternde, große deutsche Fahne mit Hakenkreuz ersetzt wird.

»Ich muss gehen und wieder helfen«, sagt Krister.

»Nein, das wirst du nicht, nein«, sagt Jørgen. »Wir gehen jetzt zu Ivar nach Hause zurück, und du wirst deine Sachen packen, denn jetzt kommst du mit nach Hause.«

»Aber sieh dich doch um, Papa«, sagt Krister aufgebracht. »Siehst du nicht, dass ich hier gebraucht werde?«

»Du wirst zu Hause gebraucht. Etwas anderes will ich nicht mehr hören.«

»Aber die Schule ist doch noch gar nicht zu Ende.«

»Oh, dass du deine Schulsachen anhast, kann ich im Moment nicht gerade erkennen. Nein, Krister, jetzt reicht es. Was glaubst du, was deine Mutter diese Zeit über durchgemacht hat? Denkst du kein bisschen an sie? Du weißt doch, dass sie demnächst niederkommen wird.«

Trotz leuchtet in Kristers Augen auf, während er den Vater anschaut, doch Jørgen erkennt in diesem Blick auch, dass die erste Runde gewonnen ist. Er ermahnt Krister, alles einzupacken, was er mitzunehmen schafft, auch die Schulbücher. Ohne ein Wort miteinander zu sprechen gehen sie zum Haus zurück. Soll Krister nur schmollen, denkt Jørgen, doch noch ist es lange hin, bis er mündig wird. Noch muss er sich damit abfinden, dass er einen Vater hat, der über ihn bestimmt.

Das Gespräch am Mittagstisch verläuft träge. Jørgen lässt sich auf keine Diskussion mit Ivar mehr ein. Er fühlt sich unsäglich müde, als hätte er große Sorgen zu tragen. Er schaut seinen Bruder an, seinen kleinen Bruder, den er einmal so geliebt hat, jetzt ist er wie ein Fremder für ihn. Halbherzig hört er Ivars Bericht zu, wie es ihnen gelungen ist, aus den Gewölben der Bank Wertpapiere und Geld zu retten. Maschinen und andere Ausrüstungsgegenstände hätten sie auch retten können, bevor alles verbrannte. Eifrig berichtet er von der Behelfsstätte, die demnächst voll funktionstüchtig sein wird.

»Du wirst sobald nicht arbeitslos dastehen, wenn ich das recht verstehe«, sagt Jørgen trocken.

Jørgen liegt auf dem schmalen Diwan und wälzt sich unruhig hin und her, er ist innerlich so unruhig, dass er nicht einschlafen kann. Er hört all die fremden Geräusche im Haus. Kinder, die weinen, Mütter, die sie beruhigen und tröstend auf sie einreden, Gespräche zwischen Erwachsenen, die sich mit gedämpfter Stimme unterhalten. Allzu viel Privatleben können sie, die hier in diesem Hause untergekommen sind, wohl nicht haben. Andererseits wird das in diesen Tagen, an denen es das Wichtigste war, sein Leben zu retten und ein Dach über dem Kopf zu finden, nicht unbedingt ihre größte Sorge sein. Vorsichtig steht er auf, späht durch die Fensterverdunkelung, er schaut über die im Dunkel liegende Stadt. Konturen von Schornsteinen ragen düster in den Nachthimmel. Ihm ist, als könnte er die Silhouetten von zwei deutschen Wachtposten erkennen, die draußen auf der Straße patrouillieren. Zusammenschaudernd und vor Kälte fröstelnd geht er wieder in sein Bett zurück. Er bleibt liegen und starrt in den dunklen Raum, während ihm verschiedene Gedanken durch den Kopf gehen. So viele gute Erinnerungen hat er an diesen Ort, Erinnerungen aus der Kindheit und der Jugendzeit. In die Stadt zu kommen war ein Abenteuer, hierher zu Onkel Erling und Tante Selma. Das größte Erlebnis war es, als er für groß genug befunden wurde, um alleine herfahren zu dürfen. Es kam vor, dass er im Sommer eine ganze Woche hier bleiben durfte. Der Onkel kam immer zum Kai und holte ihn dort ab. Er durfte sogar mit ihm in die Bank, und er erinnert sich daran, wie ihn der Onkel einmal mit ins Grand Hotel nahm und ihm ein großes Mittagessen spendierte. Damals war er vielleicht zehn, elf. Sie waren beide allein, und er erinnert sich, dass der Onkel ihm die erste Lektion erteilte, wie er sich in einem feinen Restaurant zu benehmen habe. Onkel Erling und Jørgens Vater, Kristoffer, waren richtig gute Freunde. Jedes Mal, wenn es darauf ankam, hielten die beiden Familien zusammen. Erling Storvik vergaß nie, woher er kam, obwohl er hier in der Stadt ein großer Mann wurde. Zwischen den beiden Familien war ein Zusammenhalt, der unverbrüchlich schien.

Mit großer Wehmut denkt er an die Freude, das Lachen, die Musik und den Gesang in diesem Haus. Damals, als die beiden Töchter noch zu Hause wohnten. Und später, nachdem Ivar hergezogen war. Er muss an die erste Opernpremiere denken. Jedes Detail dieses Abends fällt ihm jetzt wieder ein, die Vorstellung, die Premierenfeier danach, der Tanz. Julie war so schön. Astrid ebenso. Später, als der Abend vorüber war und sie wussten, dass es ein unglaublicher Erfolg gewesen war, saßen sie noch im Wohnzimmer beisammen und feierten bis spät in die Nacht hinein. Ihm ist, als höre er noch immer die dröhnende Stimme des Onkels und das Lachen der jungen Frauen durch das Haus tönen.

Im Nachhinein erscheint ihm dieser Abend wie eine Art Anfang vom Ende dieser Familie. Selma hatte sich darauf gefreut, dass Ivar und Helene Kinder bekommen würden, die ihr die Enkel ersetzen sollten, die sie selber nie bekam. Doch dazu wird es nicht kommen. Eines Tages, wenn Selma und Anna einmal nicht mehr sind, wird die ganze Familie des Onkels ausgelöscht sein. Es muss einmal ein Fluch über das Haus gekommen sein, anders kann er sich es nicht erklären. Ein Gefühl von Unbehagen macht sich in ihm breit. Dann das mit Ivar. Er dürfe nie vergessen, dass Ivar sein Bruder ist, sagte seine Mutter zu ihm.

Julie und Krister sitzen, sich leise unterhaltend, in der Küche. Sie hat allen anderen zu verstehen gegeben, dass sie mit ihm allein sein möchte. Sogar Jørgen ist widerwillig gegangen, zuvor hat er Krister aber noch gesagt, er solle sich nicht einbilden, dass er wieder zurückdürfe.

»Im Herbst können wir wieder darüber reden, wenn die ganze Sache vielleicht vorbei ist«, sagte er.

»Du bist dem Papa jetzt böse, sehe ich«, sagt Julie mild.

»Ist das so verwunderlich?«, fragt Krister aufbrausend.

»Pss. Leiser, ich will nicht, dass uns jemand hört.«

»Erst kommt er und schleppt mich nach Hause, als ob ich ein kleines Kind wäre. Und dann verbietet er mir zurückzukehren?«

»Wir müssen dem Papa jetzt Zeit geben, dann beruhigt er sich schon. Er grämt sich wegen Ivar, verstehst du, er hat Angst, dass er dich irgendwie beeinflussen könnte.«

»Mich beeinflussen, Onkel Ivar? Herrgott, er versteht überhaupt nicht, worauf er sich da eingelassen hat. Jedenfalls bis jetzt noch nicht. Aber da siehst du mal, wie groß das Vertrauen ist, das Papa zu mir hat, hält mich nicht für erwachsen genug, dass ich selber auf mich aufpassen kann, selber sehe, was los ist. Im Übrigen habe ich vor, mir eine andere Unterkunft zu besorgen.«

Sie starrt ihn an.

»Eine andere Unterkunft?«

»Ja, bei einer Familie, die ich kennen gelernt habe«, sagt er und wagt nicht, sie anzuschauen. Röte steigt in seinen Wangen auf, und Julie ahnt, warum.

»Vielleicht zu Hause bei einem Mädchen, das du kennen gelernt hast?«

»Ja, was ist dabei? Bei einer Mitschülerin.«

»Hast du dir eine Freundin angeschafft, Krister?«

»Eine Freundin? Verlobt habe ich mich nicht, wenn du das meinst. Herrgott, Mama, wir leben doch nicht mehr in der Steinzeit. Außerdem ist es für mich nicht gut, weiterhin bei Onkel Ivar zu wohnen.«

»Du wohnst nicht bei Onkel Ivar, du wohnst bei Tante Selma!«

»Aber das kommt doch auf dasselbe raus, oder?«

»Niemals«, sagt Julie frostig.

Wie schon so oft sitzen sie sich wie zwei Kampfhähne gegenüber, Mutter und Sohn, keiner weicht dem Blick des anderen aus. Zu ähnlich sind sie sich, kennen einander in- und auswendig.

»Ich als deine Mutter verbiete dir das. Und ich verbiete dir, dich in eine Geschichte mit einem Mädchen einzulassen. Damit kannst du warten, wie andere es tun, bis du trocken hinter den Ohren bist. Du musst an deine Zukunft denken, um die wir ringen, wir alle hier.«

»Mama, hör doch mal ...«

»Nein, jetzt hörst du mir zu! Es kommt überhaupt nicht in Frage, dass du, wenn du in die Stadt zurückkehrst, irgendwo anders wohnst als bei Tante Selma. Wir wollen bei allem, was jetzt los ist, nicht vergessen, was wir ihr zu verdanken haben. Die ganzen Jahre über hast du da umsonst gewohnt. Und jetzt kommst du mir damit, wo es mal schwieriger wird, und willst die Beine in die Hand nehmen und verschwinden. Ich dachte, wir hätten dich anders erzogen, dass du ein anderes Benehmen an den Tag legen würdest, und Tante Selma würdest du damit umbringen, wenn du in ein fremdes Haus ziehst. Sie hat doch wohl schon, wie es ist, genug zu erleiden. Und wer, glaubst du, soll das bezahlen, wenn du woanders hinziehst? Wenn du es in der Frage darauf ankommen lässt, Krister, ja, wenn es hart auf hart kommt, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als mit deinem Vater gemeinsame Sache zu machen. Dann bleibst du hier.«

»Verdammt noch mal«, sagt er und stürzt zur Tür hinaus, schlägt sie krachend hinter sich zu, dass das ganze Zimmer dröhnt.

Bevor sie zu Bett geht, lugt sie noch einmal durch die Tür zu den Jungen hinein. Sie kennt den Atem jedes Einzelnen, kann die drei danach unterscheiden, und jetzt hört sie Kristers Atmen im Schlaf heraus. Er schläft fest mit leichten Schnarchgeräuschen, wie sie jemand von sich gibt, der lange Zeit nicht mehr richtig geschlafen hat. Er ist wieder hier, ihr Sohn, zusammen mit seinen Brüdern. Sie sind hier, alle drei.

Heute Morgen bleibt er im Bett liegen und döst vor sich hin, irgendwie mit einem guten Gefühl. Die Frühjahrsbestellung ist im Großen und Ganzen erledigt. Gestern sind sie mit dem Kartoffelstecken fertig geworden. Genau zur richtigen Zeit, denkt er, halb zwischen Schlaf und Wachsein. Es ist hier Brauch, die Kartoffeln bis spätestens zum Vormittag des siebzehnten Mai in der Erde zu haben. Siebzehnter Mai, und er ist auf einen Schlag hellwach, die Wirklichkeit ist da, es wird ein völlig anderer Nationalfeiertag werden, als er je einen erlebt hat. Doch die Sonntagssachen hängen frisch gebügelt an der Wand, sie müssen nur noch angezogen werden. Denn obwohl es verboten ist, den Tag zu feiern, bedeutet das nicht, dass es ein ganz gewöhnlicher Tag im Ort werden wird. Was die Leute sich in ihren eigenen vier Wänden vornehmen, geht niemanden etwas an. Nicht einmal Hallgrim, der schon begonnen hat, im Selbstauftrag Polizist zu spielen und herumzuschnüffeln. In der Post und in den Geschäften hat er Plakate aufgehängt. »Jegliches Schießen und Salut sind am siebzehnten Mai verboten!« »Es ist streng verboten, sich auf Straßen und an öffentlichen Orten in angetrunkenem Zustand aufzuhalten. Vås.« Wer hat Lust, den siebzehnten Mai zu feiern, wenn das ganze Land trauert? Und woher nimmt er die Befugnis, so etwas zu verkünden?

Nordahl Griegs Stimme erfüllt den Raum. Eine Stecknadel könnte man in der Küche auf Storvik fallen hören, so still ist es. Alle sitzen beieinander, Große und Kleine, und lauschen den Versen des Gedichts, dem Grieg den Titel »17. Mai 1940« gegeben hat.

»In Eidsvolls Grün steht kahl der Mast,

keine Flagge gehisst.

Doch heute zu dieser Stunde

wird klar, was Freiheit ist.«

Der neue Empfänger, den sie im letzten Herbst angeschafft haben, ein funkelnagelneuer Vidor, macht es möglich, Radio Bodø, wo der Dichter liest, zu hören.

«Wir sind nur wenige im Lande,

gefallen Bruder und Freund ...«

Selbst die Kinder bleiben in andachtsvoller Stille sitzen, die Erwachsenen starren zu Boden, ängstlich bemüht, ihre Gefühle nicht zu verraten.

Nachdem der letzte Vers verklungen ist, streicht sich Jørgen mit der Hand über das Gesicht und verlässt den Raum. Draußen auf dem Hof bleibt er stehen, schaut über den Ort, der trotz des strahlenden Wetters ohne Leben ist. Heute wird, wie es immer Brauch war, der Feiertag eingehalten, es ist der wichtigste Tag im Frühling. Still liegt jetzt der Ort, wie in Trauer. Über den grünen Wiesen weht keine Fahne in dem blauen Maihimmel. Kein Festumzug, keine Feier im Jugendhaus, keine fröhlichen Kinderstimmen. Die Fahnen sind eingepackt, auf Dachböden und in Verschlägen versteckt. Wann werden sie wieder vorgeholt? Die Worte des Gedichts kommen ihm wieder in den Sinn: »In Eidsvolls Grün steht kahl der Mast ...«, und ihn fröstelt, während er über den wie ausgestorbenen Ort schaut.

»Ach, hier bist du, Jørgen«, sagt Julie leise. Völlig unbemerkt hat sie sich ihm genähert.

»Ja, ich weiß auch nicht, aber das war zu viel für mich.«

»So haben wir es wohl auch empfunden, wir alle.«

Auf Storvik wie in fast allen Familien des Ortes wird der Feiertag begangen. Der Mittagstisch ist für Groß und Klein, für alle, die sich auf dem Hof befinden, im Wohnzimmer gedeckt. Alle haben ihre Sonntagsssachen an, es gibt Kalbssteak und Torfbrombeeren zum Nachtisch. Sonntags und an Feiertagen ist es auf dem Hof Brauch, zum Mittagessen Lieder zu singen. Heute singen sie sowohl »Gott segne unser teures Vaterland« als auch »Ja, wir lieben unsre Heimat«. Sie versuchen, ihre Gefühle nicht zu zeigen, doch die zitternden Stimmen sind verräterisch. Ansonsten herrscht eine ungewöhnliche Ruhe am Tisch.

Keiner der Jungen hat den Tag über den Hof verlassen, doch am Abend nimmt Krister das Fahrrad und sagt, er wolle einen Kameraden besuchen. Er bleibt nicht lange weg, ist stumm und verschlossen.

»Hast du keinen Bekannten angetroffen?«, fragt Julie.

»Doch«, sagt er, »im Jugendhaus sind einige Jugendliche des Ortes zusammengekommen und haben versucht, nach Grammophon-Musik zu tanzen.« Es seien nicht viele da gewesen, sagt er, und er selber habe sich unwohl gefühlt. Seine Abneigung sei noch verstärkt worden, als ein paar Ältere aus der Siedlung auftauchten und sagten, es sei unanständig, was die Jugendlichen hier täten.

»An einem solchen Tage solltet ihr euch zu schade sein, ein solches Ersatzfest zu veranstalten«, haben sie zu den Jugendlichen gesagt. »Der siebzehnte Mai sollte auf diese Weise nicht beschmutzt werden.«

»Das finde ich auch, und deshalb bin ich wieder nach Hause gekommen. Das war ein merkwürdiger Tag«, sagt Krister und fasst in Worte, was die meisten denken.

Nachdem alle zu Bett gegangen sind, bleiben Julie und Jørgen noch alleine in der Küche sitzen.

Jørgen fragt, ob sie mit ihm vielleicht noch einen kleinen Spaziergang machen würde. Falls sie nicht zu müde sei. Und sie gehen in die blau funkelnde Nacht hinaus. Hand in Hand schlendern sie an den frisch bestellten Feldern entlang. Betäubend die Düfte. Der würzige Geruch von Muttererde und grünenden Wiesen gemischt mit den Gerüchen nach Wasser und Meer. Oben auf den Bergen noch Schnee und über dem Ganzen liegt eine große Stille.

»Weißt du, Julie, so sind Mann und Frau schon vor Zeiten immer gegangen, um die Äcker zu begutachten, nachdem alles in die Erde gekommen war. Das war wie ein Akt der Segnung.«

»Jedes Mal setzt du beim Säen deinen Hut auf, Jørgen. Das rührt mich immer wieder, wenn ich es sehe. Es liegt so viel Ehrfurcht darin. Vor ihm, der uns alle lenkt.«

»Vielleicht ist es so. Aber für mich ist es eine ganz natürliche Sache. Mein Großvater machte es so, mein Vater, so habe ich es gelernt. Ich habe wirklich nie darüber nachgedacht, dass es etwas Besonderes damit auf sich haben könnte.«

Sie gehen zu dem flachen Stein im Gehölz am See, wo sie in der Sommerzeit sehr oft sitzen, wenn sie einmal eine Weile allein sein wollen. Er zieht seine Jacke aus, breitet sie über den Stein als Unterlage, damit ihnen nicht kalt wird. Dann bleiben sie lange nahe beieinander sitzen, er hat ihr seinen Arm um die Schulter gelegt. In der freien Hand hält er einen verdorrten Grashalm vom vergangenen Jahr, mit dem er herumspielt.

»Vielleicht findest du, dass ich sentimental bin, Julie, aber den siebzehnten Mai so wie heute erleben zu müssen ... Manchmal habe ich mich schon, wie andere auch, ein bisschen lustig gemacht über all die großartigen Worte von den Rednerpulten ringsum an diesem Tag. Doch heute, heute war mir plötzlich klar, was es bedeutet, ein Land zu haben, zu dem man gehört. Das einem gehört. Und ich scheue mich nicht, das zu sagen.«

Er ist für sie jung geblieben. Verletzlich und unverhüllt, wie sie ihn jetzt vor sich sieht, das lässt eine Zärtlichkeit für ihn in ihr aufkommen, die sie wie einen körperlichen, einen seelischen Schmerz empfindet. Diese Zuneigung für ihn, diese Wärme von seinem Körper, sie fließen zusammen und durchrieseln sie. Und ein alter, halb vergessener Gedanke kommt in ihr wieder hoch, dass sie ohne ihn, ohne Jørgen, nicht mehr leben kann. Es ist lange her, dass sie so miteinander gesprochen haben. Diese Nähe, die sie jetzt zu ihm verspürt, erinnert sie an damals, als sie jung waren. Es ist ein Augenblick, der sie über den Alltag erhebt, diesen Alltag, der sonst so häufig bedrückend sein kann.

Nachdem Jørgen eingeschlafen ist, bleibt Julie in dieser Nacht noch lange wach liegen. Sie verspürt eine merkwürdige Unruhe in sich, doch ihr Körper ist ganz still, das Kind in ihr rührt sich nicht. Endlich schläft sie ein, wacht aber zeitig im Morgengrauen wieder auf. Sie ist so wach, dass sie es im Bett nicht mehr aushält und gleich aufsteht. Sie zieht sich eine Jacke über das Nachthemd, schleicht sich barfuß aus dem Zimmer. Im Herd in der Küche ist noch Glut, sie legt ein paar Holzscheite nach, und das Feuer lodert wieder auf. Sie lässt den übrig gebliebenen Kaffee im Kessel heiß werden, doch von dem bitteren Geschmack wird ihr übel, und sie nimmt sich ein Glas Milch. Leicht fröstelnd bleibt sie vor dem Herd sitzen, in sich hineinlauschend. Sie nimmt eine erste Ahnung dessen wahr, was kommen wird. Sie erkennt es wieder, das hat sie schon früher erlebt. Aber ist es nicht zu früh dafür? Sie hatte das Kind nicht vor Monatsende erwartet. Dann hat sie sich wohl in der Zeit verrechnet. Auch das ist ihr schon früher passiert. Doch jedes Mal neu ist die Spannung, die durch ihren Körper rieselt. Die Erwartung, die Unruhe, das etwas schief gehen könnte, die Angst vor den Schmerzen, doch am allermeisten diese Unruhe wegen des Gefühls, wenn alles vorbei ist. Die feste Verbindung zwischen ihr und dem Kind, die mit dem Durchschneiden der Nabelschnur durchbrochen wird. Dieser Moment ist in ihrer Erinnerung für sie der merkwürdigste und wehmütigste Augenblick, den das Leben für sie bereithält.

Das große Gästezimmer über dem Wohnzimmer, wo sie alle ihre Kinder zur Welt gebracht hat, ist von der Familie besetzt, die hier wohnt. Glücklicherweise ist das Zimmer, das Randi benutzt hat, vorbereitet und das Bett mit frischer Bettwäsche bezogen. Dieses Mal muss sie sich eben mit diesem Zimmer zufrieden geben. Sie verspürt bereits dieses erste, wohl bekannte Ziehen im Rücken. Sie füllt einen großen Kessel mit Wasser und setzt ihn auf den Herd. Sie will die Gelegenheit nutzen und sich in der warmen Küche waschen und zurechtmachen, bevor die Leute im Hause aufgestanden sind.

Sie steht nackt vor dem warmen Herd, wäscht sich von oben bis unten, fährt mit dem Waschlappen in langsamen Bewegungen über den prallen Bauch und empfindet dabei eine Befriedigung, als würde sie eine rituelle Handlung ausführen. Sie schleicht sich in das Schlafzimmer, sucht frische Sachen, saubere Unterwäsche heraus. Als sie ihr bestes Nachthemd hervorholt und es sich über den Kopf streift, wird Jørgen wach.

»Was ist denn los?«, fragt er erschrocken. »Ist dir schlecht?«

»Nein, das nicht gerade«, sagt sie leise, um den kleinen Sven nicht zu wecken. »Aber es sieht danach aus, dass heute ein kleiner neuer Mensch auf dem Hof eintreffen wird. Es wird wohl am besten sein, du holst die Hebamme.«

Jetzt hat er es eilig, springt aus dem Bett und zieht sich in überstürzter Eile an.

»So sehr musst du dich nun auch wieder nicht beeilen«, sagt sie lächelnd. »Es geht nicht ums Leben.«

Tief in ihrem Innern vibriert die erste kräftige Wehe. »Aber vielleicht sollte man trotzdem nicht allzu lange damit warten«, fügt sie hinzu, denn sie muss daran denken, wie schnell alles mit Sven ging.

Auf dem Weg in das Zimmer, das für die Geburt vorbereitet ist, weckt sie Astrid.

»Es tut sich hier jetzt etwas«, sagt sie. »Nimm doch bitte Sven, wenn er wach wird. Und ansonsten weißt du ja selber, was zu tun ist. Jørgen holt die Hebamme.«

Sie legt eine Ölleinwand über das Bett, breitet ein frisches Laken darüber, und nun kann sie nichts anderes mehr tun, als nur noch zu warten. Ihr fällt Jørgens erschrockener Gesichtsausdruck ein und sie muss im Stillen lachen. Sie hätte mit dem Ganzen vielleicht noch ein bisschen warten sollen, aber mit ihm ist es jedes Mal dasselbe, er ist in dieser Situation völlig durcheinander. Männer gewöhnen sich anscheinend nie an Geburten, denkt sie. Vielleicht, weil es völlig außerhalb ihres Lebens liegt? Ein Erfahrungsbereich ist, der ausschließlich Frauen vorbehalten ist?

Wieder wundert sie sich darüber, dass es jetzt schon losgeht, früher, als sie es erwartet hatte. Ob es durch den Spaziergang, den sie gestern Abend unternahmen, beschleunigt wurde? Wenn sie an dieses Beisammensein dort am Wasser denkt, wird ihr warm ums Herz.

Schon bleibt ihr keine Zeit mehr zum Nachdenken. Eine Wehe nach der anderen jagt durch ihren Körper. Sie beißt die Zähne auf den Lippen zusammen, dass sie bluten, um nicht schreien zu müssen, um nicht so laut zu stöhnen, dass es im ganzen Haus zu hören ist, im Haus, das voller Menschen ist und noch dazu von Menschen, die nicht dazugehören.

»Es scheint sehr schnell zu gehen«, bringt sie in einer kleinen Pause zwischen den Wehen hervor.

»Wir machen das schon«, sagt Synnøve beruhigend. »Du brauchst keine Angst zu haben, wir helfen dir.«

Auf der einen Seite des Bettes sitzt Synnøve, auf der anderen Astrid, sie haben sich schon darauf gefasst gemacht, das Kind alleine im Empfang nehmen zu müssen, doch dann steht die Hebamme in der Tür. In diesem Moment verliert sie das Fruchtwasser, das aus ihr in einem ununterbrochenen kräftigen Strom hervorbricht.

»Oh, das tut gut«, stöhnt sie.

»Es ist hier wohl an der Zeit, die Ärmel hochzukrempeln«, sagt die Hebamme, und sie hat kaum den Mantel abgelegt und sich die Hände gewaschen, als die erste Presswehe Julies Körper wie einen Bogen spannt. Eine Presswehe folgt der anderen, ihr ist, als würde ihr Körper in Stücke gerissen.

»Du musst versuchen, dagegen zu halten.«

»Das schaffe ich nicht.«

»Doch, du musst atmen. Du brauchst Luft. Das Kind braucht Luft.«

Sie ist ihrem eigenen Körper ausgeliefert, den Kräften, die in ihm walten, sie kann nun nichts anderes mehr tun, als sich ihnen bloß noch zu überlassen. Während das Kind entbunden wird, entfährt ihr ein langes, tiefes Stöhnen. Es folgt ein kurzer Moment völliger Stille im Raum, durch einen roten Nebel sieht sie die Hebamme und die anderen beiden, dann wird die Stille von einem Wimmern gebrochen, das in helles, schwaches Schreien übergeht.

»Du hast ein niedliches Mädchen bekommen, Julie, aber das arme Ding ist völlig erschöpft«, sagt die Hebamme. »Ist ja auch kein Wunder, wenn sie es so eilig hatte, zur Welt zu kommen.« Und sie packt das Kind an den Füßen, gibt ihm einen Klaps auf den Popo, und die dünnen Schreie gehen in heftiges Weinen über.

Vor Julies Augen flimmert alles. Unkontrolliert zittert ihr ganzer Körper nach dieser gewaltigen Anstrengung.

»Was hast du da gesagt?«, flüstert sie, kaum hörbar. »Es ist ein Mädchen?«

»Ja, endlich ist es da, ein Mädchen«, sagt die Hebamme.

Nachdem im Zimmer alles in Ordnung gebracht ist und sie gewaschen und zurechtgemacht mit dem Kind im Arm daliegt und noch immer nicht glauben kann, dass es wahr ist, und sie noch immer nichts anderes als nur Erleichterung verspürt, das Ganze überstanden zu haben, kommt Jørgen.

»Ich muss doch mein kleines Mädchen sehen.«

Er geht zum Fenster, bleibt dort stehen und starrt nach draußen. Sie schweigt, lässt ihm diesen Moment für sich, weiß, was er denkt. So hat sie ihn schon einmal stehen sehen.

Er setzt sich zu ihr auf die Bettkante, nimmt ihre Hand.

»Endlich haben wir es geschafft, Julie. Jetzt haben wir ein kleines Mädchen.«

Tränen laufen ihr die Wangen hinunter, sie kann nicht aufhören zu weinen, und er streicht ihr über das Haar, wieder und wieder, bis die Tränen versiegen.

»Ich bin vielleicht dumm!«, sagt sie, und über ihr Gesicht flimmert ein Lächeln.

Jørgen schiebt die Bettdecke, die das Gesicht des Kindes halb verdeckt, etwas zur Seite.

»Nein, du bist aber auch ein schönes Mädchen!«, sagt er zärtlich. »Auf dich werden wir aufpassen.«

Sie liegt da und betrachtet das Kind in ihren Armen. Noch immer kann sie es nicht richtig fassen, dass es ein Mädchen ist. Eine dichte, schwarze Bürste von Haaren um das klitzekleine Gesichtchen. Keines ihrer anderen Kinder hatte bei der Geburt so viele Haare. Sie sucht in dem Gesicht nach bekannten Zügen, kann aber noch nicht erkennen, mit wem es Ähnlichkeit haben könnte. Die Spalte im Kinn, die andeutungsweisen Grübchen erkennt sie wieder, und wenn das Kind mit den Augen blinzelt, sieht sie, sie sind so dunkel, dass klar ist, sie werden braun. Sie hat das Kind mit ins Bett bekommen mit der Aufforderung, es zum Weinen zu bringen. Doch das kleine Mädchen möchte nur schlafen, Julie zwickt dem Baby in die Wangen, da weint es ein bisschen, ein dünnes, zittriges Weinen, bevor es gleich wieder einschläft. Aber dem Kind fehlt nichts, beteuert die Hebamme. Es ist nur von der jähen Geburt so erschöpft.

»So müde hat dich das gemacht, du Ärmste?«

Julie muss kämpfen, um nicht selber einzuschlafen. Sie fühlt sich müde, als hätte sie den ganzen Tag ohne Pause hart gearbeitet und nicht geschlafen. Es ging so schnell, dass sie es kaum mitbekam, und schon war das Ganze vorüber, doch sie kann sich nicht erinnern, dass sie früher nach einer normalen Geburt je so müde war.

Die Hebamme kommt, um sich zu verabschieden. Sie nimmt Julie das Kind ab und legt es in den vorbereiteten Korb.

»Das Fräuleinchen wird jetzt hier allein zurechtkommen. Und du wirst das auch. Obwohl es anstrengend war, was du da vollbracht hast, wirst du alles ohne Schaden überstehen. Wenn alles normal verläuft, kommst du wieder in Ordnung. Eines muss ich dir dieses Mal aber deutlich sagen: Du musst jetzt selber auf dich Acht geben. Nimm dir Zeit zum Ausruhen. Vergiss nicht, du bist nicht mehr die Jüngste.«

Die Hebamme erklärt ihr, dass die Geburt aus dem Grunde recht hart war, weil das Kind zuerst mit dem einen Arm kam. Und weil die Nabelschnur sich um die Stirn verwickelt hatte. Eine direkte Gefahr habe nie bestanden, aber günstig sei es für sie als Gebärende nun auch nicht gerade gewesen.

»Mit einem kannst du dich trösten, Julie, schnell getan ist schnell vergessen.«

Dass Frauen nach der Geburt vierzehn Tage im Bett bleiben, wie es noch der Fall war, als Julie ihre ersten drei Kinder zur Welt brachte, damit ist jetzt Schluss. Nach fünf, sechs Tagen ist sie zu den Mahlzeiten wieder an ihrem Platz in der Küche. Auch nicht mehr üblich ist es, einen Säugling zu bandagieren. Das hat sie im Übrigen nie getan. Sie hatte eine junge Lehrerin für Kinderpflege. Synnøve hat sich immer darüber aufgeregt, und obwohl sie sich nur noch ganz selten in Julies Angelegenheiten einmischt, schafft sie es auch dieses Mal nicht, dazu zu schweigen. Das Kind werde einen Nabelbruch und ganz sicher auch O-Beine bekommen, sagt sie. Und Julie, schon wieder aus dem Bett, bevor das Kind eine Woche alt ist, na, sie werde schon noch für diesen Unverstand bezahlen und zwar mit einem kaputten Rücken und mit anderen Gebrechen, wenn sie älter werde.

»Du wirst an meine Worte denken, Julie. Ich habe ein Leben hinter mir und weiß, wovon ich spreche.«

Solches Gerede von Synnøve provoziert Julie nicht mehr. Sie ärgert sich über die Schwiegermutter immer seltener. Das Verhältnis zwischen ihnen ist mit den Jahren entspannter geworden. Richtig eng wird es nie werden. Dafür ist in den ersten Jahren, die Julie hier war, zu viel Schlimmes vorgefallen. Sie respektieren einander und Synnøve lässt die Jungen im Großen und Ganzen in Ruhe. Völlig ohne Reibereien geht es jedoch nicht, dafür sind sie beide zu starke Charaktere, Julie und Synnøve. Doch Julie lässt sich von der starrsinnigen Schwiegermutter nicht mehr einschüchtern oder erschrecken. Den letzten Winter und das Frühjahr über, seitdem Kristoffer tot ist, hat sie mit ihr gefühlt. Ebenso wegen der Sache mit Ivar, aber Synnøve verrät niemals auch nur mit einer Miene, was sie im Innersten denkt und fühlt.

Gerührt ist Julie, wie sich ihre Schwiegermutter mit der Kleinen abgibt. Weil das Wetter in dieser Jahreszeit so schön ist, liegt das Kind in der alten Wiege im Wohnzimmer. Als die anderen Kinder so klein waren, hat sie sie immer im Schlafzimmer stehen lassen. Vielleicht entschuldigt sie sich mit der Jahreszeit nur, vielleicht tut sie es bloß, um das Kind in der Nähe zu haben, die Tür zum Wohnzimmer steht immer einen Spalt offen. Es sieht außerdem nicht danach aus, dass sich das Baby durch den Lärm in der Küche stören ließe. Es ist abzusehen, dass es ein ruhiges Kind wird, die meiste Zeit schläft es. Mehrmals am Tage sieht sie, wie Synnøve sich über die Wiege beugt und nach dem Kind schaut, und die Liebe, die sie in dem Gesicht der alten Frau sieht, rührt sie.

»Mir war deutlich, als hörte ich das Kind schreien, und deshalb wollte ich bloß mal nachsehen«, sagt Synnøve schnell, wenn sie merkt, dass Julie sie beobachtet, dann geht sie gleich wieder ihrer Wege.

Die anderen Kinder, die im Hause sind, hängen ebenfalls ständig über der Wiege. So häufig, dass Julie sie verscheuchen muss, wenn sie zu zudringlich werden. Und Jørgen, er ist der Schlimmste von allen. So hat sie ihn vorher noch nie gesehen. Wenn er im Hause ist und das Kind den leisesten Ton von sich gibt, nimmt er es hoch, hält es im Arm oder geht mit ihm im Zimmer umher.

»Ja, aber komm mir bloß nicht mit der Behauptung, dass ich es bin, die das Kind verwöhnt«, sagt Julie.

»Soll das Kind denn daliegen und schreien?«

»Aha, es hat geschrien? Ja, dann hast du mehr gehört als ich«, sagt Julie mild und muss sich das Lachen verkneifen.

Aber auch das rührt sie.

Was sich nicht verändert hat, ist der Brauch, dass die Frauen der Siedlung anlässlich der Geburt zu Besuch kommen und als Geschenk Essen mitbringen. In den Wochen nach der Geburt kommt sie zu fast nichts anderem, als diese Frauen zu bewirten – außer dem Kind die Brust zu geben und es mit allem anderen sonst zu versorgen. Was serviert werden soll, bereitet ihr kein großes Kopfzerbrechen, denn sie bringen mit, was gebraucht wird. Aber es muss immer auch etwas aus der eigenen Speisekammer auf den Tisch kommen, sonst wäre es eine Schande für sie. Einige bringen Sauerrahmbrei mit, andere wiederum frisch gebackene Waffeln, üppige Torten oder anderes Kaffeegebäck. Am allermeisten schätzt sie, dass in fast jeder Geschenksendung eine kleine Tüte Kaffee dabeiliegt. Ansonsten würden die Rationierungsmarken bei einem solchen Andrang von Frauen, die gerne Kaffee trinken, nicht ausreichen. Alle bewundern sie das kleine Mädchen. Ob Julie nicht glücklich sei, dass nun endlich die lang ersehnte Tochter gekommen ist. Es sei nie zu spät, sagen sie. Und Jørgen, hätten sie gehört, gehe herum und sei stolz wie ein Hahn.

Es müsse doch ein Glückstreffer sein, in solchen Zeiten ein Kind ins Haus bekommen zu haben. Damit könnten sie wenigstens an etwas anderes denken als nur an das ganze Elend, das sie umgibt. Bloß gut, dass das Kind nicht am Nationalfeiertag zur Welt kam, beinahe wäre es passiert. Ja, das sei ja fast dasselbe wie Heiligabend Geburtstag haben. Nein, sie könne froh sein, dass es nicht dazu gekommen sei, damit wäre das Mädchen in gewisser Weise um seinen Geburtstag betrogen gewesen. Doch der siebzehnte Mai mit dem Geburtstag am Tag darauf, das gehe. Gebe Gott, dass sie nächstes Jahr den siebzehnten Mai feiern können, sagen sie und bekreuzigen sich. Sie wollen nur hoffen, dass dann all das Furchtbare, was jetzt geschehe, vorbei sei.

Worum sie sich auf keinen Fall Sorgen machen muss, denkt Julie, nachdem sie eine weitere Abordnung von Frauen zur Tür gebracht hat, ist die Konversation. Dafür sorgen sie selber. Von ihrem ganzen Gerede ist ihr richtig schwindlig im Kopf.

Eines Tages ist sie dabei, das Kind zurechtzumachen, es liegt eine Weile auf der Decke und strampelt mit den nackten Beinchen, bevor es wieder in Windeln und das Wickeltuch gepackt wird. Es sieht aus, als würde das Kind ihr in den tiefsten Grund ihrer Seele schauen mit diesem unergründlichen Blick, den man nur bei Neugeborenen und bei ganz alten Menschen sehen kann. Es sieht aus, als konzentrierte es sich, mit dieser tiefen Falte zwischen den Brauen. Sieht sie mich?, fragt sich Julie. Da lächelt das Kind, ein breites Lachen, das in ein zitterndes Vibrieren rings um den zahnlosen, kleinen Mund übergeht. Julie weiß, dass sie sich das eingebildet hat, dass es eine Grimasse war, doch sie hatte den deutlichen Eindruck, in den dunklen Augen den Widerschein eines Lächelns erblickt zu haben.

»Sunniva sollst du heißen«, sagt sie und weiß nicht, woher der Name kommt.

Sunniva, ein Name, der zärtlich und zugleich stark klingt, ein Heiligenname und ein Heldenname.

Es hat sie furchtbar davor gegraust, sie Synnøve nennen zu müssen. Da sie hier das einzige Mädchen unter den Kindern ist, wird erwartet, dass sie nach der Großmutter väterlicherseits benannt wird, doch dagegen sträubt sich in Julie alles, weil ihre Schwester, die gestorben ist, Synna, auch auf den Namen Synnøve getauft war. Es war ihr unvorstellbar, dass es hier ein kleines Mädchen geben sollte, das Synna genannt werden würde. Es hat nur eine Synna gegeben.

Sunniva soll das Kind heißen. Sie kennt kein anderes, das diesen Namen trägt, doch dieses kann nicht anders heißen.

Julie kehrt heim

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