Читать книгу Julie kehrt heim - Anne Karin Elstad - Страница 4

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Sie erwachen zu einem neuen Tag und denken, der Alptraum von gestern ist vorüber, aber am Vormittag geht es wieder los. Dieselben bedrohlichen Wolkenbänke hinten im Westen, Flugzeuggebrumme über ihnen. Die Leute auf Storvik gehen voller Angst und Unruhe umher und warten auf ein Lebenszeichen von Krister und Ivar. Die Mutter und ihre drei Kinder, die hierher evakuiert wurden, warten auf ein Lebenszeichen von ihren Angehörigen. Doch das Telefon bleibt stumm. Später am Tage versucht Julie anzurufen. Die Telefonzentrale ist ständig besetzt, und wenn sie durchkommt, sagt man ihr, dass sie tun werden, was sie können. Die Zentrale im Ort ist von Menschen überfüllt, die Fernverbindungen zur Stadt und in andere Orte, wo Verwandte von ihnen betroffen sein können, herstellen lassen wollen. Schließlich schickt Julie Jørgen auch dorthin in der Hoffnung, dass sie helfen können. Doch er kommt mit dem Bescheid nach Hause zurück, dass es unmöglich sei, zur Stadt durchzukommen.

Nur das Allernotwendigste wird gemacht. Alle Arbeiten, die es auf dem Feld und sonst draußen zu tun gäbe, werden aufgeschoben. Die Männer laufen untätig herum, gehen eine Runde zum Kai hinunter und zum Kaufladen, wo man beieinander steht und sich mit gedämpfter Stimme über die Ereignisse unterhält. Dass ein Liniendampfer anlegt, wird nicht erwartet, eine unheimliche Stille brütet über dem Ort, alles tritt auf der Stelle. Nur die Frauen haben ihre Beschäftigung, wie vorher auch. Die Tiere müssen gefüttert, die Kühe gemolken werden, und das Essen muss auf den Tisch. Das Essenmachen bereitet Kopfzerbrechen wegen der vielen Evakuierten, die hier sind. Auf vielen Höfen haben sich die Haushalte verdoppelt, um nicht zu sagen vervielfacht. Damit fertig zu werden ist für so manche Hausfrau ein großes Kunststück. Wenn das noch länger dauert, wie sollen sie es schaffen, so viele Mäuler zu stopfen? Zu dieser Jahreszeit, wenn die Essensvorräte eingeteilt sind, damit sie für die Leute auf dem Hof und die angenommenen Hilfskräfte ausreichen, sieht es in den Vorratshäusern dürftig aus. Den meisten ist es außerdem in Fleisch und Blut übergegangen, dass Fremde besser bewirtet werden als die, die zum Hof gehören, sogar alltags. Aber heute machen auch die Frauen nicht mehr, als sie müssen. Und sie suchen beieinander Zuflucht, finden darin Trost, niemand hält es aus, allein zu sein.

In der Küche auf Storvik halten sich so viele auf, dass sie sich gegenseitig auf die Füße treten. Julie und Astrid, Helene und eine fremde Frau aus der Stadt, Frau Solberg, die mit ihren Kindern herkam, gemeinsam mit Helene und Selma und den beiden Dienstmädchen, die hier mit grauen Gesichtern herumlaufen, weil sie sich um ihre Familien ängstigen, die in der Stadt zurückgeblieben sind. Jeder möchte gerne etwas zu tun haben. Die einen schälen Kartoffeln für das Mittagessen, andere waschen ab, eine kümmert sich um die Topfpflanzen an den Fenstern, aber alles geschieht nach eigenem Gutdünken und unsystematisch. Selma und Synnøve sitzen auf der Schlafbank, untätig. Sonst halten sie sich meistens im Altenteil auf, aber heute nicht. Selbst die drei kleinen Mädchen aus der Stadt sind in der Küche geblieben. Die beiden größeren sind Schulkinder. Eine geht in die erste Klasse, die andere in die dritte. Sie sitzen bei den beiden alten Frauen ruhig auf der Bank und lauschen, auf alles, was gesagt wird. Nur die Jüngste, sie ist drei Jahre alt, hockt auf dem Fußboden und spielt mit dem kleinen Sven. Diese beiden sind heute friedfertiger als sonst, obwohl sie von dem, was vor sich geht, noch gar nicht allzu viel verstehen können. Doch die Spannung im Raum spüren sie wohl auch. Dem kleinen Mädchen aus der Stadt kommt alles fremd und merkwürdig vor, und Sven, verwirrt und ungewöhnlich scheu, schaut mit großen Augen auf die vielen Fremden hier in der Küche.

Julie fühlt sich erschöpft und abgespannt, sie geht mit einer nagenden Unruhe umher. Sie alle hier empfinden die Ungewissheit als unerträglich, aber sie sprechen nicht darüber. Nicht viel. Wenn jemand etwas davon erwähnt, wird es plötzlich ganz still im Raum, bevor sich die Gespräche dann wieder fieberhaft alltäglichen Dingen zuwenden. Doch diese leise geführten Unterhaltungen hämmern in ihrem Kopf, gehen ihr auf die Nerven, sind eine furchtbare Marter, die nicht auszuhalten ist. Es macht sie gereizt und aufbrausend. Sie möchte sie hier haben, um sich haben, alle, wie sie in der Küche sind, diese Frauen und die Arbeit, das Geplauder, das einen am Nachdenken hindert. Und sie wünscht sie weg, wünscht sich ihre Ruhe, es sind widersprüchliche und verwirrende Gefühle, und wie zum Hohn mitten in all dem dieser schöne, warme Frühlingstag, der durch die geöffneten Fenster und Türen hereinkommt. Diese Zeit, in der man sich über alles freuen könnte. Die Weiden voller dicker Weidenkätzchen, Knospen, kurz vor dem Aufbrechen, die Bäume in vollem Saft, Krokusse, Scilla und Schneeglöckchen auf den Beeten, darüber ein strahlend blauer Himmel. Ein Himmel, der auch heute von den schwarzen Wolkenbänken dort hinten verdunkelt wird.

»Könnt ihr nicht wenigstens die Kleinen mit nach draußen nehmen, anstatt euch hier gegenseitig auf die Füße zu treten«, faucht Julie die beiden kleinen Mädchen aus der Stadt an. Ärgert sich, dass sie so scharf im Ton war, als sie deren vorwurfsvolle Blicke sieht, die sie ihr zuwerfen. Doch sie verlassen die Küche, jede mit einem Jungen auf dem Arm, die beiden anderen kleinen Mädchen eilen ihnen schnell hinterher.

»Seid vorsichtig, falls irgendetwas sein sollte«, ruft sie ihnen nach.

Sie wissen, was gemeint ist. Einmal kam hier eines von den inzwischen so verhassten deutschen Jagdflugzeugen tief über die Häuser geflogen. Noch waren sie eher neugierig als ängstlich gewesen, hatten draußen im Hof gestanden und zu dem Flugzeug geglotzt, das über dem Hof kreiste. Das Flugzeug drehte in Richtung Norden ab, dann war ein ratterndes, unbekanntes Geräusch zu hören.

»Sie schießen, die Schweine«, schrie Jørgen.

Stumm standen sie da, Julie mit Sven auf dem Arm.

»Feindige Bombefugzeug«, wimmerte das Kind. In diesem Jahr ist er zwei geworden und kann noch nicht richtig sprechen, aber in diesen Tagen schnappt er merkwürdig fremde Wörter auf.

Als das Maschinengewehrfeuer im Wald niederging, meinte Jørgen, die Deutschen würden schießen, um den Leuten Angst einzujagen.

»Das ist es, was sie Demoralisierung der Bevölkerung nennen«, sagte er. Aber beim nächsten Mal, wenn ein Flugzeug über dem Hof auftauche, sollen sie machen, dass sie ins Haus kommen. Irgendwann einmal könnte es ernst werden. Dann dürften sie sich nicht als lebendige Schießscheiben in den Hof stellen und wie die Narren in die Luft gaffen. In den Zeitungen sei in letzten Zeit genug von solchen Verhaltensweisen zu lesen gewesen.

»Bleibt in der Nähe der Gebäude«, ruft Julie den Mädchen nach.

»Du kannst gehen und dich ausruhen, Julie«, sagt Astrid. »Wir sind hier jetzt genug, um mit dem, was es zu tun gibt, fertig zu werden. Du bist ganz grau im Gesicht.«

Sie zieht ihr Kleid und die Schuhe aus und legt sich hin, das Bettzeug ist kühl auf dem Körper, der ihr vorkommt, als würde er brennen. Hinter ihrem Nacken und Rücken stapelt sie Kissen auf, versucht eine Stellung zu finden, der für ihren schweren Leib bequem ist. Die Kinnladen schmerzen, nachdem sie stundenlang die Zähne zusammengebissen hat und mit angespannten Kräften herumgelaufen ist. Sie versucht, sich zu entspannen, die Schwere aus den Gliedern sickern zu lassen. Hinter der Stirn schmerzt Müdigkeit, dennoch ist sie hellwach.

Sprühende Lichtfünkchen tanzen hinter den schmerzenden Augenlidern, in ihrem Kopf ein Gewirr von Gedanken und Bildern. Das Kind strampelt, stößt sanft in wellenartigen Bewegungen gegen ihre Rippen. Sie streicht mit den Händen über ihren nackten, aufgewölbten Bauch. Das Kind, jedes Mal wenn es sich in ihr bewegt, fährt ihr ein Schauder über den Rücken, und sie bekommt einen Schreck. Wenn es ruhig ist, lauscht sie in sich hinein, immer auf der Hut. Während dieser Schwangerschaft ist sie noch nie richtig entspannt gewesen. Genauso war es auch schon, als sie mit Sven schwanger war. Was sie durchmachen musste, als sie das Mädchen verlor, das Mädchen, das tot geboren wurde, sitzt in ihr fest, und diese Angst kommt immer wieder, dieser Schmerz, ebenso stark wie damals, als es passierte. Das Unglück, die Kuh, die auf sie losging, die sie mit den Hörnern stieß, auf ihr herumtrampelte, das unheimliche Licht im Morgengrauen, der Bulle, das hat sich in ihr festgefressen, verfolgt sie noch jetzt nachts in ihren Träumen, obwohl es schon acht Jahre her ist, seit es passierte. Und die Tage danach, die Stille in ihrem Bauch, die furchtbare Entbindung, der Schmerz, als sie erfuhr, dass das Kind ein Mädchen war. Der Kummer hat sich mit den Jahren gegeben, doch noch immer muss sie an dieses Kind denken, ihr Mädchen, das sie nie zu Gesicht bekam. Dem Pastor konnte sie abtrotzen, dass er ihr sagte, wo es begraben wurde. In einer Ecke des Friedhofs, es hatte kein Grab bekommen, weil es tot geboren wurde, ungetauft war. Sie geht immer noch dorthin, im Frühling, wenn die Tausendschön, die sie dort im Gras gepflanzt hat, zu blühen anfangen. Sie blühen den ganzen Sommer über. Noch immer träumt sie davon. Dass sie im Tor zum Kirchhof steht und sieht, wie der ganze Friedhof mit einem Teppich von Tausendschön bedeckt ist, dass sie suchend auf dem Friedhof umherläuft und ihre Stelle nicht wieder finden kann, weil die Tausendschön überall sind.

Jørgen erzählte sie nicht, dass sie die Stelle gefunden hatte, an der das Kind begraben lag. Das wollte sie für sich allein haben. Auf Jørgen war sie böse gewesen, ohne einen richtigen Grund dafür zu haben, wie sie später einsah. Anstatt gemeinsam darüber zu sprechen, blieb jeder mit seinem Kummer für sich. Die Ehebetten hatte sie auseinander geschoben, so dass jedes für sich an einer Wand stand, sie ließ nicht zu, dass er sie berührte. Ab und zu, wenn sie Schuldgefühle überkamen, ging sie zu ihm, doch das war halbherzig, und es war keine Liebe dabei. Tagsüber betrachtete sie ihn, fragte sich verwundert, was sie bloß dazu gebracht hatte, diesen grantigen, finsteren Mann zu heiraten, war nicht imstande gewesen, seinen Schmerz zu erkennen. Bei der Erinnerung an diese Zeit läuft es ihr kalt über den Rücken. Alles war furchtbar schwer. Am Anfang die lähmende Trauer um das Kind, zu der Zeit glaubte sie, den Verstand zu verlieren. Hinzu kamen die miserablen wirtschaftlichen Verhältnisse, Jørgens viele Versuche mit der Fuchszucht und anderen unmöglichen Plänen, um sich daraus zu retten. Kristoffer, der den Hof nicht an Jørgen übergeben wollte, die Konflikte zwischen ihr und Synnøve, sie beide in einer Küche zusammen, und sie war sich wie eine Magd auf dem Hof vorgekommen.

Schließlich hatte sie ihre Kinder genommen und war mit ihnen zu ihren Eltern gefahren. Wochenlang war sie geblieben, bis ihr Schwiegervater sie endlich bat, nach Hause zu kommen. Sie könnten den Hof übernehmen, sie und Jørgen. Dann dieser Streich des Schwiegervaters, dass er ihr und nicht Jørgen den Hof vermachte. Sie dachte schon, Jørgen würde nie darüber hinwegkommen.

Danach versuchte sie über Wochen und Monate, sich ihm zu nähern, aber er ließ sie nicht richtig an sich heran. Am Ende fasste sie einen Entschluss, sie wollte ihm die Stelle auf dem Friedhof zeigen. Entweder würde sie ihn endgültig verlieren, und das wäre noch immer besser als das Verhältnis, das sie jetzt hatten, oder sie würde alles damit retten und es würde werden, wie es einmal war.

An einem schönen Vorsommerabend ging sie zu ihm.

»Jørgen, ich möchte gerne, dass wir zusammen eine kleine Tour unternehmen.«

Er kam mit.

»Wohin soll es denn gehen?«

»Zur Kirche.«

Stumm ging er an ihrer Seite, sie wusste nicht, ob er da bereits alles ahnte.

Sie traten durch die Kirchhofspforte und sie ging ihm voran zu der Stelle. Inmitten aufrecht stehender, vertrockneter Halme des Vorjahresgrases, zwischen sprießendem Grün schaute eine Unzahl von Tausendschön hervor, rote, rosafarbene, weiße.

Sie drehte sich zu ihm um, ihr Herz hämmerte gegen die Rippen, ihre Kehle war wie zugeschnürt, so dass sie kaum atmen konnte.

»Hier ist es, Jørgen«, flüsterte sie.

Er wurde grau im Gesicht unter der Bräune.

»Meinst du ..., du meinst nicht das Kind?«

»Doch, hier liegt es, hier irgendwo.«

»Seit wann weißt du das?«

Während er vor ihr stand, veränderte sich sein Gesicht, sie stand da und sah ihn an, dieser Moment kam ihr vor wie eine Ewigkeit.

»Warum hast du nichts gesagt?«

»Weil ... weil ich nicht die Kraft dazu hatte, ich konnte es nicht, nicht zu der Zeit. Kannst du mir irgendwann verzeihen, Jørgen?«

»Julie, Liebste, was musstest du nicht alles ertragen«, sagte er. Mehr sagte er nicht, er zog sie in seine Arme, hielt sie fest umschlossen, so fest, als wollte er sie nie wieder loslassen.

Da stiegen ihr Tränen in die Augen. Sie weinte, wie sie wohl noch nie in ihrem Leben geweint hatte. Endlich konnte sie weinen, um ihr Kind, das sie verloren hatte, um sie, um all die schlimmen Jahre.

Wie in einem stillschweigenden Übereinkommen erwähnen sie das Kind nicht mehr, doch in ihrem Innern ist es da, bei ihnen beiden, als Trauer, von der sie irgendwann einmal erlöst werden, wie es mit jeder Trauer geschieht. Manchmal, wenn sie in der Kirche sind oder alleine auf dem Friedhof, um die Gräber zu pflegen, kommt es vor, dass sie zusammen in die Ecke an der Friedhofsmauer gehen. Wenn sich ihre Augen dort begegnen, kennt der eine die Gefühle und die Gedanken des anderen. Das reicht aus, und das ist gut so.

Doch wenn sie schwanger ist, wie jetzt, wird sie die Angst nicht ganz los, nicht eher, bis das Kind geboren ist und die ersten Wochen und Monate überlebt hat. So war es schon mit Sven und so ist es auch jetzt wieder. Dagegen kann sie nichts machen.

Nachdem sie das Kind verloren hatte, glaubte sie nicht, dass sie noch weitere bekommen könnte. Dachte, die Entbindung hätte etwas in ihr zerstört. Sie hatte sich damit abgefunden, war dankbar für ihre drei Jungen. Deshalb war es wie ein Schock für sie, als sie auf einmal begriff, dass sie wieder schwanger war. Zuerst dachte sie schon, ihr fehle etwas. Sie konnte nicht glauben, dass es wahr sein sollte, bis sie die ersten fast unmerklichen Bewegungen des Kindes in ihrem Bauch spürte. Helge, der Jüngste, war da schon im zehnten Lebensjahr, und die erste Zeit, nachdem Sven geboren worden war, fühlte sie sich, wenn sie ihn versorgte, genauso unbeholfen wie damals, als sie Krister bekommen hatte. Sie erinnert sich noch, wie sie das erste Mal mit ihm in den Armen dalag. Noch ein Junge, sie betrachtete das kleine Gesicht, die roten Haarbüschel, und sie dachte, was es für ein Wunder ist, dass sie das erleben durfte. Und nun soll es wieder geschehen. In ihrem vierzigsten Lebensjahr wird sie einem neuen Menschenkind das Leben schenken. Ein Wunder ist das. Doch in dem Zustand zu sein ist für sie jetzt schwerer als damals, als sie jung war. In dem Maße, wie das Kind in ihrem Bauch heranwächst, spürt sie deutlicher als sonst, dass die Jahre mit der schweren Arbeit im Haus und im Stall Spuren in ihrem Körper hinterlassen haben. Es ist zu sehen, wenn sie sich im Spiegel anschaut. Runzeln um die Augen, Furchen und Linien, die sich eingegraben haben, man sieht, dass die Festigkeit, die die Haut in der Jugend hatte, zu verschwinden beginnt. Doch ihre Haare sind noch dick und glänzend wie früher, schwarz, mit Ausnahme eines fingerbreiten weißen Streifens, der an der Stirn herauswächst und auf der einen Seite des Kopfes vom Scheitel abwärts wie ein weißes Band hängt. Er ist schon seit vielen Jahren da, wird weder größer noch kleiner. Ursache dafür muss sein, dass sie genau an der Stelle einmal einen kräftigen Schlag abbekommen hat. Doch für sie selber ist er eine ständige Erinnerung an die Jahre, die vergangen sind. Jørgen ist auch noch nicht grau geworden. Sein Haar ist noch genauso dick wie früher, es liegt nicht in der Familie, dass die Männer auf Storvik eine Glatze bekommen. Mit den Jahren ist Jørgens Haar jedoch fahler geworden. In seinem Gesicht sind fremde Furchen, die Züge markanter geworden. Manchmal, wenn sie ihn anschaut, kommt es vor, dass sie eine merkwürdige Wehmut in sich verspürt. Sie sind nicht mehr jung.

Wer ihr am meisten geholfen hat, über die schlimmsten Ängste hinwegzukommen, als sie mit Sven schwanger ging, war Randi, ihre Freundin aus der Kindheit, die in der Stadt wohnt. Randi, die ein paar Jahre älter ist als Julie und eigentlich die Freundin von Synna war, ihrer Schwester, die an der Spanischen Grippe starb. Nach Synnas Tod fanden Julie und Randi zusammen, und es entstand eine Freundschaft daraus, die bis heute gehalten hat. Der Umstand, dass Randi ein ganz anderes Leben führt als sie, unter ganz anderen Verhältnissen und in einem Milieu, das von dem, in dem die Familie auf Storvik zu Hause ist, wohl kaum entfernter sein könnte, hat nicht daran rütteln können. Randi, sie ist mit dem Sozialisten und Idealisten Yngvar Thorsen verheiratet. Er, der sich nach und nach zum Journalisten in der Arbeiterzeitung Tidens Krav hochgearbeitet hat. Niemandem ist es gelungen, die Freundschaft zwischen ihr und Randi zu zerstören, weder den Leuten hier auf dem Hof noch der Familie von Storvik in der Stadt. Auch Yngvar nicht, obwohl er in seiner Kritik verständnisvoller war als ihre Leute. Durch dick und dünn haben sie in diesen Jahren zusammengehalten, die beiden Freundinnen. Randi ist der Mensch, auf den sie in allen Dingen vertrauen konnte. Während der Zeit, als sie beide schwanger waren, wechselten sie Zug um Zug Briefe, häufiger als sonst. Wenn Julie ihr schrieb, was sie alles beängstigte, munterte Randi sie auf.

»Es geht schon alles gut, du wirst sehen, und zwar mit uns beiden«, schrieb sie. »Wir werden die Schwierigkeiten meistern.«

Während die Schwangerschaft für Julie wie ein Schock kam, hatte Randi zusammen mit Yngvar alles geplant. Es sah aus, als würden die Zeiten besser werden. Randi und Yngvar konnten ihre alte Zweizimmerwohnung gegen eine Dreizimmerwohnung tauschen. Aber sie blieben im selben Haus mit den Arbeiterwohnungen im Fløiveien in Clausenengen wohnen. Die drei Kinder, ein Junge und zwei Mädchen, waren herangewachsen, die Jüngste war fünfzehn, so alt wie Krister, als ein kleiner Junge geboren wurde, ein paar Monate vor Sven. Plötzlich hätten sie so viel Platz, hatte Randi ihr geschrieben. Sie wünsche sich noch ein Kind, und das kam dann auch.

Randi, wie geht es ihr? Ist sie aus der Hölle, die die Stadt dort jetzt sein muss, weggekommen? Vielleicht ist sie zu ihrem Bruder in ihren Heimatort gefahren. Und schon muss sie wieder an Krister denken. Wenn ihm etwas passiert, wird das dann ihre Schuld sein? Sie war es, die durchgesetzt hat, dass er auf dem Gymnasium beginnen sollte. Und er wollte es auch selber sehr gerne. Sie hatte es für undenkbar gehalten, dass sie ihm das nicht ermöglichen sollten, dass sie ihm verwehren sollten, seine Fähigkeiten zu nutzen; doch sie weiß, dass es wahr ist, wenn Jørgen sagt, sie sei ambitiös, wenn es um ihre Kinder geht. Mehr als er es ist. Aber ohne Selma, ohne Helene und ohne Ivar wäre es nie gegangen. Es hätte sich von selber erledigt, sie hätten es finanziell nicht geschafft, ihn so weit weg zur Schule gehen zu lassen. Denn er wohnt gratis bei ihnen, bei Selma, die das Erdgeschoss des großen Hauses für sich allein hat, während Helene und Ivar die erste Etage bewohnen. Selma will nichts davon hören, dass er etwas dafür bezahlt. Julie versucht es auszugleichen, indem sie ihm jedes Mal, wenn er nach Hause kommt, Lebensmittel vom Bauernhof mitgibt. Allerdings wird die Dankbarkeit und die Freude, die sie dabei empfindet, durch das Verhältnis zwischen Jørgen und Ivar, das mit den Jahren immer schlechter geworden ist, getrübt. Völlig hoffnungslos wurde es, nachdem Ivar in die Partei eingetreten war.

»Ich habe Angst, er beeinflusst Krister mit Nazipropaganda«, tobte Jørgen.

»Nein, nun hör aber auf«, hatte sie gesagt, entmutigt. »Krister ist doch nur ein Kind. Du solltest deinem Bruder lieber dankbar sein, dass er unserem Sohn hilft.«

»Dankbar? Die Hände sind mir gebunden, ich kann nichts machen, und dann soll ich ihnen wohl noch ewig dankbar sein dafür. Es wird letztlich damit enden, dass sie uns Krister wegnehmen, genau wie sie Ivar bekommen haben.«

»O nein, das glaube ich nicht, niemand kann uns Krister wegnehmen.«

Denn wenn es auch wahr ist, dass Ivar mehr für Selma und Erling Storvik zum Sohn wurde als für die Eltern hier, Ivar ist trotzdem aus einem anderen Holz geschnitzt als Krister. Und obwohl Krister den Onkel bewundert, so hat sie keine Angst, dass Krister vergessen könnte, wo er hingehört.

Aus der Küche ist ein schwaches Stimmengewirr von den Frauen zu hören, die sich unterhalten, Rufe von Kindern, das Klappern von Gefäßen, und sachte überkommt sie der Schlaf. Sie wacht auf und weiß sofort, dass die Mittagszeit weit überschritten ist. Schweißgebadet ist sie aus einem tiefen und traumlosen Schlaf erwacht, mit Kopfschmerzen, die hinter ihrer Stirn hämmern. Sie steht auf, gießt Wasser aus dem Krug in die Waschschüssel auf dem Waschständer, wäscht Gesicht und Körper mit dem lauwarmen Wasser. Sie zieht sich von oben bis unten frische Sachen an; während sie die Treppe hinuntergeht, um sich wieder zu den Leuten zu gesellen, graust es sie vor dem, was sie zu erfahren fürchtet.

Der Himmel draußen im Meer sieht heute Abend genauso aus wie gestern Abend, eher noch schlimmer, die unheimliche Röte scheint noch intensiver zu sein. Auch heute Abend versammeln sich die Leute wieder auf dem Kirchberg, aber Julie erträgt es nicht, sich das anzuschauen. Von Krister und Ivar ist kein Lebenszeichen gekommen. Alle Verbindungen mit der Stadt sind abgebrochen.

Helene bleibt an diesem Nachmittag und Abend viel für sich alleine. Während der Mahlzeiten sitzt sie still da, ist höflich wie immer, sagt nicht groß etwas, antwortet nur, wenn sich jemand direkt an sie wendet. Nur ihr blasses, angespanntes Gesicht, ihre dunklen Augen verraten die Gefühle, die sie zu verbergen versucht. Wie muss es Helene jetzt nur gehen?, denkt Julie. An erster Stelle die Angst um Ivar, aber damit nicht genug, sie sitzt hier und weiß, dass ihre eigenen Landsleute gerade dabei sind, die Stadt, die sie so lieb gewonnen hat, zu zerstören, die Menschen, die dort wohnen, zu malträtieren. Nach dem Abendbrot bedankt sie sich höflich für das Essen und sagt, dass sie sich zur Nachtruhe begeben werde. Mit marionettenhaft steifen Bewegungen verlässt sie den Raum. Julie hat das Gefühl, dass sie ihr folgen, mit ihr sprechen, ihr helfen müsste, damit der Druck dieser furchtbaren Bürde, unter dem sie zu leiden hat, etwas von ihr genommen werden würde, aber Gott möge ihr verzeihen, heute Abend hat sie nicht die Kraft dazu. Wie die Dinge stehen, hat sie auch so mehr als genug mit sich zu tun.

Julie geht selber zeitig zu Bett, aber es ist unmöglich, zur Ruhe zu kommen. Angespannt lauscht sie auf alle Geräusche in diesem schummerigen Abend. Die Geräusche im Haus, die die Leute machen, die noch auf sind, durch das geöffnete Fenster kommen Stimmen von Menschen, die auf dem Weg vorbeigehen; es herrscht ein Treiben im Ort, wie das sonst an einem gewöhnlichen Abend in der Woche mitten in der Zeit, wenn es mit der Frühjahrsbestellung viel zu tun gibt, nie der Fall ist. Wie wird alles jemals wieder gewöhnlicher Alltag werden können, fragt sie sich. Das Einzige, was gewöhnlich und normal ist, sind die leichten Atemzüge, die von Sven zu hören sind, der hier im Zimmer schläft.

Sie ist noch wach, als Jørgen kommt und sich an ihrer Seite hinlegt.

»Wie sieht es aus?«, flüstert sie.

»Nein, das ...«, sagt er, und sie hört die Angst in seiner Stimme.

Sie bleiben liegen, dicht beieinander, doch keiner hat die Kraft, noch etwas zu sagen. Er legt ihre Hand zwischen seine beiden Hände und so schlafen sie erschöpft und unruhig ein paar Stunden.

Zeitig am Morgen, noch bevor Sven aufwacht, wird Julie von Klopfen unten an der Tür geweckt. Noch halb benommen richtet sie sich im Bett auf.

»Jørgen, du musst aufwachen, es klopft an der Tür.«

Doch er ist schon aus dem Bett, steht da und quält sich in die Hose.

»Wer kann das zu dieser Zeit sein?«, fragt er schlaftrunken, zieht die Hosenträger über die Schultern und geht barfuß nach unten, im Unterhemd, nimmt sich nicht die Zeit, das Oberhemd anzuziehen.

Julie sitzt im Bett, presst die Hände vor der Brust zusammen, ihr Herz hämmert zum Zerspringen.

Ein Unglück muss passiert sein. Fremde klopfen zu dieser Tageszeit bei ihnen nicht an, ohne dass etwas Furchtbares passiert ist. Niemand schließt hier die Türen ab, wäre es jemand aus dem Ort, wäre er direkt hereingekommen und hätte an der Küchentür geklopft, hätte sich zu erkennen gegeben. Doch dieser Fremde hat an der Haustür geklopft. Der Lehnsmann, denkt sie, der Pastor, und es läuft ihr eiskalt den Rücken hinunter, jetzt ist es passiert, das Schlimmste ist passiert, das, was die letzten zwei Tage ihre große Angst war, Krister.

Jørgen steht wieder in der Tür.

»Du musst aufstehen. Fremde sind zu uns auf den Hof gekommen«, sagt er. »Nein, nein, es ist nichts Gefährliches«, fügt er hinzu, als er die Blässe in ihrem Gesicht sieht.

»Wer ist es?«, flüstert sie und bringt nichts mehr heraus, weil es ihr die Sprache verschlagen hat.

»Das wirst du schon sehen«, sagt er und geht wieder.

Sie zittert so sehr, dass sie sich kaum anziehen kann. Sie verschüttet Wasser über Fußboden und Waschgestell, als sie Wasser in die Waschschüssel füllt, sich Wasser über das Gesicht gießt.

Im Flur steht ein Kinderwagen, voll gepackt mit Kleidungsstücken. Sie öffnet die Tür zur Küche, bleibt wie angewurzelt stehen, starrt ungläubig. Randi ist es, die dort sitzt, mit ihrer jüngsten Tochter. Beide sind schmutzig im Gesicht, wirre Haare, Schmutzflecke, Staub und Wasserspritzer auf Mantel, Strümpfen und Schuhen. Auf Randis Schoß schläft ein blondhaariger Knirps.

»Er ist geschafft, verstehst du«, sagt Randi, und ihre Stimme ist ohne Leben.

»Randi? Wo kommst du her?«

»Wo ich herkomme?«, fragt Randi und schaut Julie verständnislos an. »Ja, was denkst du denn?«

Julie sieht, wie Randi alle Gesichtszüge entgleiten und in ein heftiges Weinen ausbricht. Das Mädchen weint auch, klammert sich an die Mutter und schluchzt voller Verzweiflung.

Unschlüssig und unbeholfen bleibt Julie bei ihnen stehen, Randi weint an ihrer Brust, während sie versucht, beide umarmt zu halten.

»O Julie. Julie, du weißt nicht, wie grauenhaft das ist.«

»So, so«, versucht Julie sie zu trösten. »Du bist ja nun hier. Nun bist du in Sicherheit.«

Sie hört selber, wie dürftig ihre Worte sind, aber wie soll sie einem solchen Schmerz begegnen?

Da wacht der Kleine auf Randis Schoß auf, schaut sich schlaftrunken und mit großen Augen in dem fremden Raum um, nimmt wahr, dass die Mama und die Schwester weinen und bricht nun selber auch in Tränen aus. Und oben in dem Zimmer über der Küche ist Sven wach geworden, er fängt wie wild an zu heulen, weil er sich allein überlassen ist.

»Geh und hole ihn her«, sagt Julie zu Jørgen.

Das beschwichtigt Randi. Sie putzt sich die Nase, streicht sich mit dem Handrücken über die Augen. Ihr Gesicht sieht noch schmutziger aus als vorher, aber nun blitzt wieder ein bisschen die alte Entschlossenheit in ihm auf.

»Nein, es hilft ja nicht viel, wenn wir hier sitzen und flennen. Komm, beruhige dich jetzt. Endlich können wir uns sicher fühlen«, sagt sie zu Solveig. »Na, wir bringen euch aber auch einen richtigen Spektakel ins Haus«, sagt sie mit einem matten Lächeln zu Julie. »Da jagen wir euch einen Schreck ein, noch ehe die Vögel ihre Schuhe an die Füße bekommen haben«, sagt sie und hört sich fast wieder wie die alte Randi an, die Julie so gut kennt.

Das rüttelt Julie wach. Jetzt muss sie an die praktischen Dinge denken. Obwohl Fragen in ihr brennen, muss sie damit warten. Schnell und geschickt entfacht sie das Feuer im Herd und setzt Wasser auf.

»Ihr müsst euch erst mal waschen, du und die Kinder. Dann gibt es was zu essen und danach könnt ihr gleich ins Bett. Unterhalten können wir uns später«, sagt Julie.

»Nein, als Allererstes müssen wir ein paar Sachen ausziehen, bevor wir noch schmelzen«, sagt Randi. Und sie und ihre Tochter legen die Mäntel ab. Darunter tragen sie ein Kleidungsstück über dem anderen, das sie Schicht für Schicht ablegen, zum Schluss stehen sie im Rock und in einer dünnen Bluse da.

»Oh, herrlich«, stöhnt Randi. »Aber pfui, pfui, sehr appetitlich komme ich mir im Moment nicht gerade vor. Waschen wird gut tun. Und du schwitzt dich außerdem noch zu Tode«, sagt sie zärtlich zu dem kleinen Blondschopf und befreit ihn von seinen übereinander gezogenen Kleidungsstücken.

»Du musst wissen, es war so, der Schiffer auf dem Kutter, mit dem wir zum Glück mitfahren konnten, der stand da wie ein General. ›Wir nehmen hier nur Menschen an Bord‹, sagte er. ›Alles Gepäck muss zurückbleiben.‹ Der Junge schlief in dem Wagen, und weil es mir gelang, den Schiffer davon zu überzeugen, dass er ein Baby ist, konnte ich ihm abtrotzen, dass ich den Kinderwagen mitnehmen durfte.«

Die Koffer mussten sie am Kai zurücklassen, erzählt sie, aber alle Sachen, die sie irgendwie anziehen konnten, zogen sie über, und sie füllten den Kinderwagen mit Kleidungsstücken. Eine Büchse Kaffee und eine Kilotüte mit Zucker konnte sie trotzdem in dem Wagen verstauen.

Das Boot, das sie mitgenommen hatte, setzte sie bei Halsanaustan an Land. Dort hätten sie auf einem Hof unterkommen können, aber als sie erfuhr, dass ein Lastwagen, der viele von denen, die mit an Bord waren, hierher in diesen Ort bringen würde, ja, da hätte sie an Julie gedacht. »Und jetzt sind wir hier, Julie, und ansonsten ...«

»Und ansonsten können wir uns später weiter unterhalten«, wiederholt Julie.

Julie bringt Randi und die Kinder in ihr, Julies und Jørgens, Schlafzimmer, entschuldigt sich wegen der morgendlichen Unordnung. Sie bekämen, so schnell es zu machen sei, ihr eigenes Zimmer.

»Unordnung?«, sagt Randi. »Wer achtet jetzt auf so was!«

Julie öffnet eine Kommodenschublade mit sauberen Kindersachen.

»Nimm dir nur, was du brauchst.«

»Es ist bestimmt nicht richtig«, sagt Randi, »Julie, du hast jetzt bestimmt genügend Leute im Haus, die saubere Kindersachen brauchen, doch ich muss dein Angebot annehmen. Das bisschen, was ich mitnehmen konnte, muss erst einmal gewaschen werden, bevor es benutzt werden kann.«

»Ja, du musst dich jetzt hier wie zu Hause fühlen«, sagt Julie.

Bevor sie geht, bleibt sie mit einer Hand an der Türklinke stehen, zögert.

»Randi?«, sagt sie. »Kann ich dich fragen ...«

»Ich weiß, was du fragen willst, Julie, ich habe es dir gleich, nachdem ich zur Tür rein war, angesehen. Krister, stimmt’s? Ich habe Krister gesehen, gestern Nachmittag. Er ist voll beschäftigt mit Löscharbeiten. Krister kommt schon zurecht, da kannst du ganz beruhigt sein. Und ihr Haus steht noch, zu dem Zeitpunkt auf alle Fälle. Unser Haus auch. Jetzt bete ich nur noch, dass alles bald vorüber ist.«

»Gott sei Dank, Randi, Gott sei Dank.«

Sie sitzen am Frühstückstisch, Julie und Jørgen, Randi und ihre Kinder, und Randi erzählt, wie es kam, dass sie hier landete.

Nachdem sie am Sonntag die Ängste überstanden hatten und es am nächsten Morgen gegen fünf Uhr so aussah, als wären die meisten Brände unter Kontrolle, dachten die Leute, es sei vorüber, sie könnten aufatmen. Sie selbst war da halb ohnmächtig ins Bett gesunken. Wie die Dinge auch standen, sie musste erst einmal schlafen. Aber am Montagmorgen gegen neun war sie kaum aus dem Bett gekommen, als es erneut Fliegeralarm gab. Und am Montag gab es ein Inferno, sie wünsche niemandem, dass er so etwas erleben müsse. Die Menschen versuchten, aus der Stadt wegzukommen, während die Jäger und Kampfflugzeuge, Stukas, wie sie sie wohl nennen, mit Maschinengewehren in die Straßen feuerten. Sie könne jetzt nicht darüber sprechen, sie schaffe es nicht, sie werde versuchen, es ihnen zu beschreiben, später. Von Hallvor, der an der Technischen Hochschule in Trondheim studiert, hat sie nichts gehört. Kari, die älteste Tochter, war draußen in den Straßen, um mitzuhelfen, sie wollte in der Stadt bleiben.

Später am Abend, als es dunkel geworden war, konnte Yngvar sie auf einen Lastwagen verfrachten, der sie aus der Stadt brachte, wohin, wusste sie nicht. Dann hatte sie das Glück und war von dem Fischkutter mitgenommen worden, sie dachte, er würde Richtung Süden fahren, nach Romsdal. Sie wollte sich dann zu ihrem Heimatort durchschlagen, zu der Familie ihres Bruders. Erst lange, nachdem sie an Bord gekommen waren, erfuhr sie, dass der Kutter in Richtung Norden fuhr, genau in die entgegengesetzte Richtung, die sie angenommen hatte.

»Nach Molde?«, fragte der Schiffer. »Nein, auf eine solche Verrücktheit lasse ich mich nicht ein. Wissen Sie nicht, dass Molde auch bombardiert wurde?«

Randi sieht, dass Julie blass wird. Ja, so sei es, sagt sie. Und sie habe erfahren, dass Åndalsnes bombardiert wurde und von Veblungsnes nur noch ein qualmender Ruinenhaufen übrig geblieben sein soll.

Dann gibt es also noch viele andere, um die man Angst haben muss, denkt Julie. Die Eltern, ihre Schwester, alle ihre Angehörigen zu Hause.

»Du musst keine Angst haben, Julie. Dein Heimatort ist zu klein, um Bomben auf ihn zu werfen. Aber Ålesund bombardieren sie bestimmt, die Teufel.«

»Die Feufel«, ahmt Sven sie nach. »Die Feufel, die Feufel«, wiederholt er begeistert, als er merkt, dass er die Erwachsenen damit zum Lachen bringt.

»Die Feufel?«, sagt Randis Kleiner prüfend und lächelt vorsichtig zu Sven hinüber, bevor er sein Gesicht geniert an Randis Brust versteckt.

»Nein, hört euch das an!«, sagt Randi und lacht. »Die beiden werden noch richtig gute Kameraden. Dass ich aber auch herkomme und dem Jungen beibringe, schlechte Wörter zu gebrauchen.«

»Ach, das vergisst er schon wieder«, sagt Jørgen lachend.

Julie hat für sie das Zimmer hergerichtet, das bisher die beiden Schwestern aus der Stadt benutzt haben. Das breite ausziehbare Bett ist für zwei mehr als groß genug, auch für den Kleinen ist noch Platz. Die beiden Mädchen ziehen auf den Dachboden des Vorratshauses, das Wetter erlaubt das jetzt schon, ansonsten logieren dort die Hilfskräfte den Sommer über.

»Ich hoffe, ihr werdet hier gut schlafen«, sagt Julie.

»Gut genug? Das ist großartig!«, sagt Randi. »Ich wäre mit einem Lager auf dem Fußboden mehr als zufrieden gewesen. Ich könnte jetzt überall schlafen, egal wo.«

Der Kleine auf ihrem Arm gähnt und reibt sich mit dem Handrücken über die Augen.

»Mein Ärmster, du bist nun wohl auch müde nach all den Strapazen, die du durchmachen musstest, so klein, wie du bist«, sagt Randi.

Jetzt sieht Julie, dass der Junge seinem Vater ähnelt. Er hat Yngvars intensiv leuchtend blaue Augen. Obwohl jetzt über den Augen ein Schleier von Müdigkeit liegt, ist es zu erkennen. Er ist ein schönes Kind. Martin heißt er. Randi sagt, er sei nach Yngvars Idol aus der Jugendzeit benannt worden, Martin Tranmæl. »Um einen großen Namen ein bisschen in Erinnerung zu halten«, sagt sie.

Auch heute machen sie weiter. Schwarze Rauchwolken wälzen sich über den strahlend blauen Himmel. Den dritten Tag, eine Ragnarök, die überhaupt nicht mehr aufzuhören scheint. In der Küche auf Storvik sind die Frauen damit beschäftigt, das Mittagessen zuzubereiten. Sie haben den Haushalt zweigeteilt. Draußen im Altenteil hat Synnøve das Kommando, gemeinsam mit den Dienstmädchen aus der Stadt. Dort draußen sind sie sieben am Tisch, außer dem Dienstmädchen, das das Essen im Wohnzimmer serviert. Wenn Julie nachrechnet, muss sie den langen Tisch in der Küche für elf Personen decken. Hier essen die Angestellten zusammen mit der restlichen Familie. Jetzt haben sie nur noch zwei Angestellte, das Mädchen aus der Stadt und den Knecht Anders. Demnächst muss sie noch ein Mädchen anstellen, denn sie ist jetzt schon so dick geworden, dass sie es mit dem Füttern und Melken im Stall bald nicht mehr schaffen wird. Später müssen sie extra noch Hilfe für die Feldarbeiten holen. Sie sind jetzt schon achtzehn, wenn man Groß und Klein zusammenzählt. Für so viele Menschen wird eine Menge Essen gebraucht. Heute gibt es Kartoffelbällchen. Zusammen mit dem in Kohlrüben gekochten Knochen einer abgeschabten Hammelkeule ist das ein wirklich gutes Gericht, das, wie sie weiß, alle mögen. Sie kennt Randi so gut, dass sie ihretwegen nichts Besonderes zubereiten muss. Und sie deckt für Randi und ihre Kinder mit am Küchentisch, wo sie gemeinsam mit den anderen Hausbewohner essen sollen.

»Das fehlte gerade noch«, sagt Randi, als Julie mit ihr darüber spricht. »Denkst du, ich bin hergekommen, um die feine Stadtdame zu spielen?«

Doch als nach dem Mittagsmahl abgeräumt und abgewaschen ist, deckt sie zum Nachmittagskaffee im Wohnzimmer. Auch die Leute vom Altenteil bittet sie dazu. Jetzt muss Randi alles erzählen, was an diesen furchtbaren Tagen in der Stadt passiert ist.

Es ist ruhig wie in der Kirche, während Randi von den Geschehnissen berichtet.

Am Sonntagmorgen sei sie zeitig aufgewacht, erzählt sie. Normalerweise bleiben sie an solchen Tagen länger im Bett, doch sie fühlte sich unruhig, konnte nicht mehr schlafen und stand auf. In der Stadt herrschte Sonntagsstille, prächtiges Wetter mit strahlendem Sonnenschein, ein klarer blauer Frühlingshimmel. Später am Morgen war das Brummen eines Flugzeuges zu hören, und gegen halb neun das Donnern gewaltiger Explosionen, die von Nordlandsiden zu kommen schienen. Gleich danach begann der Fliegeralarm. Zuerst stürzten sie auf die Straße, doch dann kam das Inferno über sie. Vorbei war es mit dem Sonntagsfrieden, Explosionen von Sprengbomben, Sirenen, Maschinengewehrrattern aus Jagdflugzeugen, das infernalische Heulen der Stukas, die im Sturzflug ankamen und über Häuser und Straßen jagten. Yngvar schickte sie in den Keller. Dort saßen sie zusammen mit anderen Bewohnern, älteren Leuten, Frauen und Kindern. Die Männer waren draußen in den Straßen, um zu helfen. Sie saßen dort, während das Haus unter den detonierenden Sprengbomben erbebte. Sie hörten die Geräusche von berstenden Fensterscheiben, und die meiste Angst hatten sie, dass das Haus über ihnen zusammenstürzen könnte. Jedes Mal, wenn sie hörte, dass eine Pause während der Bombardierung eintrat, stürzte sie auf die Straße. Diesen Anblick wird sie nie vergessen. Entlang den Kais brannte es und der ganze Kaiberg stand von oben bis unten in Flammen. Feuersäulen schossen hoch und dicker, schwarzer Rauch wälzte sich in den Himmel. Jedes Mal, wenn sie sich hinauswagte, bekam sie von Leuten, die sie traf, Informationen. Die Explosionen, die sie am Morgen zuerst gehört hatten, kamen von Dale, erfuhr sie. Vier Menschen waren dort umgekommen und mehrere verletzt worden. Eine der ersten Bomben, die die Stadt trafen, schlug in der Straße vor dem Gaswerk ein. Dort entstand ein Krater, der zu einem Bruch in der Hauptwasserleitung der Stadt führte, das Wasser stand in einer himmelhohen Säule in der Luft. Damit wurden Löscharbeiten fast hoffnungslos. Außerdem feuerten die Flugzeuge auf die Mannschaften. Einige der Projektile durchschlugen die Feuerwehrschläuche und machten sie unbrauchbar, und die Feuerwehrleute und die freiwilligen Helfer mussten ihre Arbeit ständig unterbrechen, um Schutz vor dem Beschuss durch die Flugzeuge zu suchen. Die ersten Stunden herrschte ein vollkommenes Chaos.

Die Leute versuchten, Inventar und ihre Habseligkeiten aus den brennenden Gebäuden und aus den Häusern, die noch nicht getroffen waren, zu retten. Jedes Mal, wenn Yngvar sich kurz sehen ließ, schafften sie gemeinsam etwas nach draußen auf die Straße.

»Gott weiß, was jetzt damit geworden ist«, sagt Randi.

Es fielen ja nicht nur Sprengbomben. Die Deutschen warfen auch Brandbomben, kleine zischende Teufel, die alles, was in ihre Nähe kam, anzündeten. Durch die Zeitungen waren die Leute davor gewarnt worden, und viele waren der Aufforderung gefolgt und hatten dafür gesorgt, dass sie Spaten und Sand im Haus hatten. Diese Bomben können nämlich mit Sand gelöscht werden. Sie sah mit eigenen Augen, wie Leute diese Bomben nahmen und sie von Hauswänden und Gebäuden entfernten, sie auf die Straße beförderten und Sand darüber warfen. Viele Häuser wurden dadurch vielleicht gerettet, doch zeitweise hagelte es von solchen Bomben auf die leicht brennbare Holzbebauung, die Übermacht war zu groß, und ständig flammten neue Brände in der Stadt auf.

»Ich kann das nicht beschreiben. Man muss selber dabei gewesen sein, um glauben zu können, dass das, was zu sehen war, auch wirklich passiert ist«, sagt Randi.

Gegen fünf Uhr morgens sah es so aus, als hätten sie alles unter Kontrolle. Seit Eintritt der Dunkelheit war es ruhig geblieben, und die meisten dachten, der Alptraum sei vorüber. Da war sozusagen die gesamte Bebauung in dem Gebiet zwischen der Nordmører Molkerei und dem Toldbodbakken, den Kais entlang und zur Hauggate hinauf in Asche gelegt. So gut wie alles war in Schutt und Asche gelegt, auch entlang dem Torvet und der Storgate. Die Gebäude, die kein Opfer der Flammen geworden waren, waren zerstört worden. Das Grand Hotel war abgebrannt, ebenso der altehrwürdige Knudtzongården. So sah es allein auf Kirchlandet, im Stadtkern, aus. Was in den anderen Stadtteilen los war, auf den anderen Inseln, auf denen die Stadt erbaut ist, weiß sie nicht genau. Die letzten Stunden in der Stadt hatte sie sich draußen aufgehalten. Es war unwirklich, durch die Straßen zu gehen, die nur durch die auflodernden Brände erleuchtet wurden, unwirklich und unheimlich. Schornsteine ragten schwarz aus Ruinen, übrig geblieben von dem, was tags zuvor eine friedliche und schöne Stadt gewesen war.

Auch sie selber konnte sich nichts anderes vorstellen, als dass es nun vorüber sei, und der größte Teil der Feuerwehr und der Hilfsmannschaften wurde abgezogen, um ihnen ein paar Stunden Schlaf zu gönnen. Dann erwachten sie am Montagmorgen zu einem Alptraum, der noch schlimmer war als am Vortag. Bombenladung auf Bombenladung, Sprengbomben und Brandbomben wurden über der Stadt abgeworfen. Das ganze Stadtzentrum auf Kirchlandet stand in Flammen. Das Dach des Festhauses fing Feuer und um die Mittagszeit brannte die Kirche nieder. Als die Glocken herabstürzten, hallte es wider wie die Verkündigung eines Strafgerichts, das über die Stadt gekommen war.

»Nie werde ich diesen unheimlichen Laut vergessen, niemals«, sagt Randi.

Die Hitze in der Stadt war so groß, dass es unmöglich war, sich einzelnen Quartieren zu nähern. Die anderen Stadtteile wurden ebenfalls von Brandbomben getroffen, überall schossen neue Brände empor. Ein unbeschreibliches Inferno.

Selbstverständlich gab es unter denen, die noch in der Stadt zurückgeblieben waren, Ansätze von Panik, doch sie wunderte sich, wie gefasst die meisten waren, trotz allem. Sie suchten Zuflucht in Kellern und provisorischen Schutzräumen. Wo sollten sie denn sonst Schutz finden in dieser kahlen Stadt? Wenn sie sich nach draußen auf die Straßen wagten, wurden sie von den Flugzeugen beschossen. Dennoch trotzten viele der Gefahr und versuchten, das Inventar aus den Häusern zu retten, und die Feuerwehr und die Hilfsmannschaften hielten stand, suchten nur Deckung, wenn das Maschinengewehrfeuer zu nahe kam. Solange es heller Tag war, war es unmöglich, aus der Stadt wegzukommen, weil die Flüchtenden von den Flugzeugen aus beschossen wurden. Diese Flugzeuge, bei der Erinnerung schaudert es Randi, die wie die Teufel vom Himmel gestürzt kamen und Straßen und Gassen mit Maschinengewehrfeuer belegten. Getötet wurde niemand, soweit sie weiß, was man nur als Wunder bezeichnen kann. Doch sie weiß, dass viele ältere Leute, Frauen und Kinder sich nach Karihola gerettet haben, nach Kvernberget und an andere Orte rings um die Stadt und Schutz unter Bergvorsprüngen und in Höhlen gesucht haben. Ein Wunder war es auch, dass das Wetter dieser Tage so ungewöhnlich schön war. Wenn es geregnet hätte oder kalt gewesen wäre, was im April häufig der Fall ist, wären viele an der Kälte zugrunde gegangen. Und was sollen die Leute machen, um sich mit Essen und anderen lebensnotwendigen Dingen zu versorgen? Was ist mit den Kranken, mit den Neugeborenen und was mit den Frauen, die vor der Entbindung stehen? Es gibt keinen Strom, kein Wasser, man darf gar nicht daran denken. Aber das Schlimmste von allem, das, was sich für immer in ihr festsetzen wird, das ist die Erinnerung an die Flugzeuge, die eine Kugelsalve nach der anderen auf unschuldige Menschen feuerten, auf Zivilisten, Frauen und Kinder. So etwas kann man wohl nie verzeihen.

»Was sind das für Menschen, die so etwas tun? Nein, es geht nicht an, dass man die Deutschen Menschen nennt, jedenfalls nicht für mich, nach all dem, was ich gesehen habe. Untiere sind sie, unzivilisierte Schweine.«

Jetzt fällt Randis Blick auf Helene, die stumm dasteht und sie anstarrt, weiß im Gesicht, dann den Raum verlässt. Randis Wangen färben sich rot.

»Ach, nun habe ich Worte gebraucht, die ich vielleicht nicht hätte gebrauchen sollen. Ich habe nicht daran gedacht, dass sie hier im Zimmer war. Aber sie wird sich vielleicht daran gewöhnen und es ertragen müssen. Und ich bereue nicht, dass ich Schweine gesagt habe, denn nichts anderes sind sie. Und sie machen noch immer weiter, schon den dritten Tag. Wer soll das begreifen? Es muss wohl erst alles zerstört werden, darum geht es und um nichts anderes. Von Kristiansund bleibt nur noch ein Berg Ruinen zurück.«

Julie geht zum Altenteil hinüber, um nach Helene zu sehen. Sie sitzt steif auf dem Sofa im Wohnzimmer; die Arme überkreuz um ihren Körper gelegt, unbeweglich wie eine Statue.

»Ist es sehr schlimm für dich?«, sagt Julie sanft.

Ein langer Seufzer durchzuckt Helene, doch sie nimmt sich gleich wieder zusammen.

»Ja, Julie. Mehr als das. Jetzt weiß ich erst einmal, was die Hölle ist.«

»Aber das ist doch nicht deine Schuld, Helene.«

»Nicht meine Schuld? O doch. Es sind meine eigenen Landsleute, die das machen. Mein Volk. Kannst du nicht verstehen, wie das für mich ist? Vielleicht kannst du es begreifen, wenn ich dir sage, dass das mein Krieg ist, mehr als deiner, mehr als eurer? Nein, man kann es nicht erklären, das muss man fühlen. Und wenn ich an die Zukunft denke, an meine und Ivars Zukunft, was soll daraus werden? Wie soll es angehen, danach in dieser Stadt zu wohnen? Ist es verwunderlich, dass ich Angst habe? Wenn ich doch nur ein Lebenszeichen von Ivar erhalten würde.«

»Ja, du hast nach allem, was zu hören war, um ihn sicher Angst.«

»Natürlich habe ich auch um ihn Angst, aber ich denke, Ivar wird sich über diese Tage retten. Jetzt wird er bestimmt alles tun, was er kann, um zu helfen. Aber danach, wenn das alles vorüber ist, was wird dann werden?«

Ihr Körper, ihr Gesicht, ihre Augen, die Hände, die sie in ihrem Schoß so fest zusammenballt, dass die Knöchel weiß werden, zeigen ihre innere Erregung. Doch ihre Stimme ist beherrscht, fast monoton, während sie erzählt, wie alles in diesem Winter gewesen ist.

Ernst zu werden begann es nach dem ersten September im vergangenen Jahr, diesem magischen Datum, als alles losging. Es fing ganz allmählich an. Freunde entschuldigten sich und lehnten dankend ab, wenn sie zu ihnen nach Hause eingeladen wurden. Freunde, die Ivars Ansichten nicht teilten, aber da Ivar nicht gerade das größte Interesse daran hatte, über Politik zu diskutieren, waren sie trotzdem eng befreundet. Nun erschienen nur die anderen, Parteifreunde. Viele der Klavier- und Ballettschülerinnen kamen nicht mehr zum Unterricht, schließlich blieben fast alle weg. Leute, die sie kannte, viele von ihnen zählte sie zu ihren Freunden, grüßten nicht, wenn sie sich auf der Straße begegneten, wichen ihrem Blick aus, wechselten die Straßenseite und gingen zum gegenüberliegenden Bürgersteig, wenn sie sie erblickten. O ja, sie hatte die Zeichen erkannt. Aber trotzdem hatte sie gedacht, dass sich das nach und nach wieder geben würde, wenn sie und Ivar sich nur anständig benähmen. Denn trotz allem war es jedoch nicht weiter schlimm, außer dass sie deutscher Herkunft war, woran man ja gar nichts ändern kann – und wenn sie eine noch so gute norwegische Staatsbürgerin ist. Und Ivar ist Mitglied in einer Partei, die bei vielen unbeliebt ist. So hatte sie gedacht und versucht, gegenüber den anderen sie selbst zu bleiben, wie sie das gegenüber den Menschen, mit denen sie zu tun hatte, immer war. Es ist nicht meine Schuld, hatte sie gedacht, es ist nicht meine Schuld, dass Hitler die Welt in einen neuen, großen Krieg stürzt. Doch ein Schock war es gewesen, denn sie hatte auch geglaubt, dass Hitler die Rettung für Deutschland wäre, aber nie hätte sie gedacht, dass es dadurch geschehen könnte, dass er andere Völker mit Gewalt unterwirft. Und nun, nach der Zerstörung der Stadt? Sie will zurück, will bei Ivar sein, gleichzeitig hat sie Angst davor, hätte nie gedacht, dass sie je eine solche Angst verspüren könnte, wie sie sie jetzt verspürt.

»Aber du kannst doch hier bleiben, solange du möchtest«, sagt Julie hilflos. »Hier bist du in Sicherheit.«

»So wie die Dinge liegen, ist es für euch nun nicht gerade ein Vergnügen, mich hier im Hause zu haben«, sagt Helene und kann die Bitterkeit in ihrer Stimme nicht unterdrücken.

»Nein«, sagt Julie empört. »Nein, so etwas darfst du nicht sagen. Du weißt, dass du hier immer willkommen bist.«

Noch einen weiteren Abend steht eine Menschengruppe auf dem Kirchberg und verfolgt die schlimme Tragödie, die sich dort hinten im Westen abspielt. An die Stelle der bisherigen Ungläubigkeit ist eher eine von Mutlosigkeit geprägte Resignation getreten.

»Nein, ich kann da nicht länger hinsehen«, sagt Randi. »Wir gehen nach Hause, Julie!«

Wie oft haben sie im Verlauf der Jahre nicht so beieinander gesessen, sie und Randi. Nächtelange Gespräche bei einer Tasse Kaffee am Küchentisch. Meistens an Randis Küchentisch. So hatte es am besten gepasst. Randi hatte hier im Ort nie etwas zu tun, während Julie zwei-, dreimal im Jahr etwas in der Stadt zu besorgen hatte. Um einzukaufen, zum Zahnarzt zu gehen und um andere notwendige Dinge zu erledigen. Randi war nur wenige Male hier gewesen, aber erst als Julie und Jørgen den Hof übernommen hatten und die Schwiegereltern in das Altenteil gezogen waren, und auch dann war sie immer nur auf Kurzbesuche hier. Julie hatte gesehen, dass sie sich hier nie so richtig zurechtfand. Außerdem sei sie auch nicht der Typ, der aufs Land zu Besuch käme und die feine Dame aus der Stadt mimen könne, sagt sie. Doch es sind nicht wenige Sorgen und Freuden, die sie beide sich in langen Nächten am Küchentisch anvertraut haben.

Randi macht sich keine allzu großen Sorgen, dass Yngvar sich nicht durch die Ereignisse retten könnte, jedenfalls macht sie sich nicht mehr Sorgen, als unter diesen Umständen normal ist. Um Kari hat sie da schon mehr Angst. Sie ist so unbesonnen und ohne Furcht, glaubt, sie könnte fast alles in ihrer jugendlichen Art bewältigen. Sie hofft, dass es Yngvar gelingt, sie etwas zu bremsen. Nein, was ihr jetzt am meisten Sorgen bereite, ist, dass Yngvar nicht wisse, dass sie hier gelandet seien. Er denkt, sie seien in Richtung Molde gefahren, und wenn er erfährt, dass dort dieselbe Hölle ist, wird er es mit der Angst zu tun bekommen. Er wird auch nicht herausbekommen, welches Boot sie genommen haben. Es wimmelte dort von Schiffen, alles, vom Färinger Boot bis zu großen Kuttern. Das wird sie nie vergessen, wie Leute aus der Stadt, und nicht minder vom Lande, Boote bereitstellten und Flüchtlinge im Pendelverkehr aus der Stadt brachten.

Doch es hat nun mal keinen Sinn, sich Sorgen zu machen. Solange per Telefon und Telegraf kein Durchkommen ist, solange alle Verkehrsverbindungen unterbrochen sind, kann man nichts anderes tun, als nur warten.

»Und du, Julie, stell dir vor, du wirst bald wieder ein kleines Baby haben«, sagt Randi. »Das ist doch nicht schlecht, oder? Ich hätte selber auch gerne noch eins, doch wie es jetzt aussieht, ist wohl nicht daran zu denken. Außerdem bin ich inzwischen schon fast zu alt dafür.«

»Denkst du denn, es bereitet mir kein Kopfzerbrechen, dass ich in solchen Zeiten ein Kind in die Welt setze?«

»Doch, das kann ich mir schon denken. Ich habe mir die letzten Tage selber Sorgen gemacht, wie sich das, was wir durchgemacht haben, auf Martin auswirken wird, aber es hilft ja auch alles nichts, Julie. Und Kinder sind immer geboren worden, egal, wie die Welt ausgesehen hat. Mit den Großen ist es fast schlimmer. Wir wollen mal hoffen, dass das Ganze nicht so lange dauert, dass ihnen ihre Jugendzeit verdorben wird.«

Nicht nur Julie ist ehrgeizig, wenn es um die Zukunft der Kinder geht. Randi ist es genauso. Yngvar interessiert es zweifellos mehr, dass die Kinder wissen, welcher Klasse sie angehören und sich im Klassenkampf bewähren. Die drei Großen sind auch schon eifrige Sozialisten. Doch Yngvar war sich mit Randi immer darin einig, dass Bildung nichts schaden kann, auch wenn man der Arbeiterklasse angehört. Deshalb protestierte er erst gar nicht, als Randi sich dafür einsetzte, dass Hallvor auf das Gymnasium gehen sollte. Hallvor legte ein glänzendes Abitur ab, doch schließlich war sie es, die ihn dazu überredete, sich an der Technischen Hochschule zu bewerben. Sie war es auch, die Yngvar überreden konnte, obwohl er murrte, bei der Bank einen Kredit zur Finanzierung des Studiums aufzunehmen. Doch Hallvor ist sehr tüchtig. Er arbeitet so viel er kann nebenbei. Was allerdings am meisten in ihr bohrt, ist der Umstand, dass sie den größten Druck gemacht hat. Nach dem Abitur hatte der Junge eigentlich größere Lust, in einer Baufirma in der Stadt eine Lehre zu beginnen, als Zimmermann. Denn Hallvor ist ein heller Kopf, hat aber auch geschickte Hände, und am allerbesten gefalle es ihm, seine Hände für eine ordentliche Arbeit zu benutzen, wie er sagt. Das freut Yngvar natürlich. Doch er bewarb sich in Trondheim und wurde in der Fachrichtung Bau und Anlagenbau angenommen. Nach der Besetzung Trondheims hat sie von ihm einen Brief bekommen, in dem er schrieb, dass alles mit ihm in Ordnung sei. Mehr weiß sie nicht. Im Übrigen habe sie den Eindruck gewonnen, dass ein Mädchen mit im Spiele sei. Doch sollte Hallvor dort oben irgendetwas zustoßen, hätte sie das Gefühl, schuld daran zu sein, dass er dorthin gefahren sei.

»Genau das ist das Gefühl, das ich die letzten Tage hier wegen Krister habe, Randi. Weil ich es war, die ertrotzt hat, dass er in die Stadt ging, wo er in das Elend geraten ist, in dem er nun sitzt.«

»Ja, ich habe darüber nachgedacht, Julie. Obwohl wir so unterschiedliche Leben führen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können, sind wir uns in vielerlei Hinsicht merkwürdig ähnlich. Oder sind wir das erst geworden, haben wir uns gegenseitig beeinflusst?«

Beide sind sie darauf bedacht, dass ihre Kinder eine Ausbildung bekommen. Randis Töchter haben die Mittelschule besucht. Solveig hat sie im Frühjahr beendet und hat eine Arbeit in einem Geschäft gefunden. Sie ist tüchtig, sagt Randi, sie spart das meiste, was sie verdient, weil sie im Herbst auf das Gymnasium will. Kari besucht die Handelsschule, nebenbei beschäftigt sie sich mit Sprachen. Das interessiert sie sehr. Seit dem Herbst hat sie im Grand Hotel an der Rezeption gearbeitet. Damit ist nun jedoch Schluss, denn das Grand Hotel gibt es nicht mehr. Und es gibt keine Zeitungsredaktion mehr, in die Yngvar gehen könnte.

»Ja, daran habe ich auch schon gedacht«, sagt Julie. »Wie wollt ihr denn zurechtkommen, wenn alles vorüber ist?«

»Nein, ich bin jetzt nicht in der Lage, darüber nachzudenken, jetzt nicht. Denn eines habe ich dieser Tage gelernt. Hat man das Leben gerettet, hat man alles gerettet.«

»Wie ist es, hat sich Krister manchmal blicken lassen, bevor es losging?«

»Ja, ab und zu ist er bei uns zu Hause gewesen, der Junge hat allerdings viel zu tun. Außerdem habe ich ihn mit einem Mädchen gesehen. Das schien mir ziemlich leidenschaftlich zu sein.«

»Ein Mädchen?«, sagt Julie. »Er ist doch noch ein Kind.«

»Wieso erschrickst du denn so darüber?«, fragt Randi lachend. »Er ist ein flotter Bursche und für sein Alter richtig erwachsen. Du musst verstehen, dass er halt angefangen hat, nach Mädchen zu sehen. Du kannst doch nicht so naiv sein. Wir leben jetzt in einer anderen Zeit, als wir jung waren, war alles anders, verstehst du.«

»Was war das denn für ein Mädchen?«, möchte Julie wissen, doch bevor Randi ihr antworten kann, steht Jørgen in der Tür, und die Unterhaltung ist beendet.

Mittwoch, der erste Mai, bricht mit demselben strahlenden Wetter an, allerdings auch mit denselben düsteren Zeichen, dass die Stadt noch weiterhin unter Beschuss liegt.

Im Volkshaus in Øra soll es eine Veranstaltung geben. Ein Umzug ist nicht geplant. Das wagen die Leute nun doch nicht. Es wäre für die Flugzeuge, die wie ein Blitz aus heiterem Himmel auftauchen können, zu sehr wie eine offene Zielscheibe.

Randi will hingehen und die Kinder mitnehmen. Die beiden Schwestern aus der Stadt bitten darum, freizubekommen, und der Knecht Anders hat sich fein angezogen, um teilzunehmen, wie er das immer getan hat. Auf Storvik ist es zu Kristoffers Zeiten stets so gewesen, dass die Bediensteten freibekommen haben, und es wurden nie sichtbare Arbeiten außerhalb der vier Wände verrichtet. So wurde dem »Tag der Arbeiter« Respekt gezollt. Sie machten es nicht wie viele andere Bauern im Ort, die demonstrativ Mist streuten und andere sichtbare Arbeiten auf den Feldern verrichteten, wenn der Umzug am ersten Mai vorbeikam. »Tag der Arbeit«, sagten sie höhnisch. Allerdings hatte sich Jørgen an diesem Tag nie in Øra sehen lassen. Jetzt hat er sich entschlossen hinzugehen. Allen Blicken zu trotzen, die ihn bestimmt treffen werden, um ihm zu signalisieren, dass er hier an einem solchen Tag unter ihnen nichts zu suchen hat.

Er schließt sich Randi an, und auf dem Weg dorthin sieht er zu seiner Überraschung, dass es mehrere aus der Siedlung gibt, die so gedacht haben wie er. Fein angezogen, befinden sie sich auf dem Weg ins Volkshaus. Das ist noch nie vorgekommen.

Der Festsaal ist besetzt, der Gang voll von Menschen, Jørgen schafft es, sich einen Stehplatz gleich hinter der Tür zu erobern. Für einen kurzen Moment geht ihm der schreckliche Gedanke durch den Kopf, wenn die Deutschen jetzt auf die Idee kämen, über dieser Stelle eine Bombe abzuwerfen, dann blieben nicht mehr viele Einwohner im Ort übrig. Von der Feindseligkeit, die er befürchtet hatte, ist kaum etwas zu spüren.

Der Saal ist wie zum siebzehnten Mai, dem Nationalfeiertag, geschmückt. Birkenzweige, die im Wasser gestanden haben und grün geworden sind, verschönern das Rednerpult und die Bühne, auf der Blasmusik gespielt wird, der Chor singt und Gedichte vorgetragen werden. Zum ersten Mal in seinem Leben hört er, wie »Ja, wir lieben ...« auf der Bühne gesungen wird. Während des Gesanges sind die Leute sehr bewegt, Stimmung kommt im Saal auf. Die Nationalhymne an einem solchen Tag, allein das ist schon merkwürdig genug.

Vor ein paar Jahren nahm das Sägewerk den Betrieb wieder auf, nachdem es jahrelang stillgelegen hatte. Jetzt hält der Vorarbeiter hier eine flammende Rede, in der er die Leute zu Kampfgeist und Zusammenhalt aufruft. Nicht nur für ihre Sache, die Sache der Arbeiter, sondern über Partei- und Klassengrenzen hinweg. Und er bringt seine Freude darüber zum Ausdruck, dass hier heute so viele, die wohl nicht hierher gehören, erschienen sind. Lieder werden gesungen, die Jørgen nicht kennt, Arbeiterkampflieder, und er wundert sich über die Leidenschaft, die aus diesen Liedern spricht. Als die Zusammenkunft beendet wird, indem sich alle erheben und, begleitet von Blasmusik, Die Internationale singen, ertappt er sich dabei, wie er etwas tut, von dem er nie geglaubt hätte, dass es je geschehen könnte. Er singt leise mit, obwohl er nicht allzu viel von dem Text kann. Dieser Text, der gerade heute auch für ihn einen Sinn bekommt, obwohl er persönlich mit Sozialismus nichts zu tun hat. »Wacht auf, Verdammte dieser Erde ...«

Er geht mit dem Gefühl nach Hause, etwas Großes erlebt zu haben. Vielleicht war es der erste Sprössling für eine Verbundenheit, die die Bewohner des Ortes näher zusammenbringen kann, die sie die unversöhnlichen Klassengegensätze vergessen lässt. Über alle Parteigrenzen hinweg, sagte der Redner. Ja, über alle Grenzen hinweg. Jetzt müssen alle Parteien gegen die Eindringlinge zusammenstehen. Alle, außer der einen, der Nationalen Sammlung. Von denen war heute keiner da. Nein, das hätte gerade noch gefehlt, so groß, wie die Verbitterung der Menschen jetzt geworden ist. Die Verbitterung, die aufkam, als Quisling am Abend des neunten April über Rundfunk die Regierung für abgesetzt erklärte. Die Bildung einer neuen Regierung bekannt gab, mit sich als Premier- und Außenminister.

Den ganzen Donnerstag über herrschte eine Stille, die die Ahnung aufkommen ließ, dass irgendetwas anders war. Das ständige Brummen der Flugzeuge hoch über ihnen war weg. Über dem Himmel im Westen lag lediglich ein grauer Dunst, keine schwarzen Rauchwolken wie an den vergangenen Tagen. Und Hoffnung keimt in ihnen auf. Ob es endlich vorüber ist? Später am Abend klingelt das Telefon. Julie nimmt den Anruf entgegen. Mit einem hämmernden Herzen in der Brust, dass sie kaum atmen kann, hört sie Ivars Stimme. Er habe ein Telefon gefunden, von dem aus er anrufen könne, sagt er, sagt aber nicht, wo er ist.

»Es ist alles in Ordnung mit uns, mit mir und mit Krister. Ich glaube, es ist jetzt vorbei.«

Erleichterung, Dankbarkeit ergreift sie.

»Krister, wann kommt er nach Hause?«

»Das ist im Moment nicht abzusehen. Noch herrscht das reine Chaos.«

»Ist er jetzt da? Kann ich mit ihm sprechen?«

»Ich habe ihn zum Schlafen nach Hause geschickt.«

»Dann steht das Haus noch?«

Randi steht neben ihr, gibt ihr Zeichen.

»Wie sieht es in Clausenenga aus? Fløiveien?«

»Ja, da steht fast alles noch«, sagt Ivar, und Julie nickt Randi zu, die ihr immer noch Zeichen gibt, und Julie versteht, was Randi will.

»Du, wenn du Yngvar Thorsen triffst, kannst du ihm sagen, dass Randi und die Kinder hier sind. In guter Obhut, kannst du sagen.«

Für einen Augenblick bleibt es still, dann sagt er:

»Ich werde dafür sorgen, dass das erledigt wird.«

Helene ist auch da. Jetzt nimmt sie den Telefonhörer. Steif und ernst hört sie, was Ivar ihr zu sagen hat, während ihr die Tränen die Wangen herunterlaufen.

»Nein, Ivar, ich kann nicht hier bleiben. Ich will nach Hause. Ich will zu dir.«

In ihrer Stimme liegt eine ungewöhnliche Heftigkeit, die sie die letzten Tagen so von ihr nicht gehört haben. Dann steht sie wieder da, lauschend, während sich ihre Gesichtszüge glätten und sie wieder so wird wie immer, beherrscht, ruhig.

»Ja, gut, Ivar«, sagt sie matt. »Ja, ich verstehe.«

»Es scheint, dass euer Zuhause unbeschädigt ist«, sagt Julie. »Das ist doch wenigstens etwas, über das man trotz allem noch froh sein kann, oder?«

»Du musst entschuldigen, Julie, aber wie soll ich richtig froh sein können, wenn ich an all die anderen denke, die alles verloren haben? Die ihre Angehörigen verloren haben?«

Julie kehrt heim

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