Читать книгу Marmel Klebowski & das Geheimnis des Schrumpfkopfes - Anneke Freytag - Страница 5

Der Planet Jagomus

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Am pelzigen Rand des Universums schwebte in tiefer Dunkelheit eine Galaxie; „Wirrsing“ war ihr Name. Wirrsing sah aus wie ein glitzernder Konfettihaufen, der durch blauen Dunst hüpfte und den Nebel gehörig aufwirbelte. Wagte man sich näher heran, erkannte man Sterne und Planeten verschiedenster Farben und Formen. Manche dampften dreieckig aus allen Löchern, andere zischten wie ein Feuerrad und wiederum andere krümelten die unteren Planeten voll. Keiner der Himmelskörper beachtete die festgeschriebenen Umlaufbahnen. Sie sausten kreuz und quer in den Grenzen der Galaxie herum, sie flogen Rennen, sie wanderten nebeneinander her und umrundeten sich gegenseitig. Planeten überholten Sonnen, und Sterne stahlen Planeten die Vorfahrt. Wenn es einem der Flieger an einem Ort nicht gefiel, schwebte er frohgemut weiter. Natürlich wäre es klüger, würden sie Naturgesetze einhalten, wie die magnetische Anziehungskraft und die Umlaufbahn. Aber in der Galaxie Wirrsing verstand keiner diese Gesetze. Wenn bereits die Planeten verrückt waren, welche Lebewesen tummelten sich dann auf ihnen? Nur wenige waren mutig oder dumm genug und reisten nach Wirrsing, geschweige denn zu einem der Planeten.

So wunderten sich die Gestirne ein bisschen, als ein blauer Lichtstrahl quer durch ihre Galaxie schoss und einen der Planeten ansteuerte. Der Planet war wie ein Ei geformt. Von weitem wirkte es so, als sei er mit einer grünen Moosschicht bedeckt, durchbrochen von weißen, gelben und blauen Kuhflecken. Ringstreifen aus hellblauem Gas umrundeten das Ei. In dem Gas trieben rot gemusterte Geröllsteine. Manchmal fiel ein Stein zum Planeten hinab, oder ein anderer sprang in einen Sternenhaufen. Doch meistens stießen die Steine gegeneinander, sie schlugen Funken, prallten voneinander ab und trafen wieder auf andere Steine. In dem hellblauen Gas stoben die Funken wie beim schönsten Feuerwerk. Auch auf der Oberfläche des Planeten gab es große Gesteinsbrocken. Aus der Erde ragten hohe Berge und lange Gebirgsketten.

Einer der Berge hieß Drachenfels, und weit oben öffnete sich dessen Gestein zu einem haushohen Höhleneingang. Vor dem Eingang hing ein Felsvorsprung wie ein Halbmond hinter düsteren Wolken. An diesem unwirtlichen Ort schnaufte ein alter Ritter. Sein dicker Bauch wabbelte bei jedem Atemzug unter der goldenen Rüstung hervor. Das volle, schwarze Haupthaar war ihm vor Jahren ausgegangen. Aber er besaß noch zwei Locken Stirnhaar, neben jedem Ohr hing eine lange Locke, die er hingebungsvoll pflegte. Wie auch den kurzen Spitzbart. Manchmal überlegte er, ob er die Locken über die Stirn legen sollte, diese war faltig wie ein Warzenschwein. Das Schlachtross war schwer zu beschreiben. Der Ritter saß auf einem Sattel, aber das Pferd fehlte. Der Sattel schwebte in Höhe eines Pferderückens und gurrte.

»Wo bleibt Er, Zweistiefel? Mein treuer Knappe!«, grunzte der Ritter und blickte hinter sich.

Der treue Knappe ächzte. Er wuchtete einen goldenen Ritterschild über den Rand des Felsvorsprungs. Der Schild schepperte vor des Ritters Füße, die in den Steigbügeln des schwebenden Sattels steckten. Zweistiefel folgte dem Schild. Allerdings schepperte er nicht, er murrte:

»Juppi, endlich oben. Ich bin da, alter Mann.«

Missmutig schaute er noch einmal auf die raue Kante. Wenige Zentimeter vor ihm tat sich eine tiefe Schlucht auf, ein in Stein gehauener Pfad schlängelte sich bis zum Felsvorsprung hoch. Von hier aus sah der Pfad viel steiler aus als er war. Unten am Fuße des Berges wanderten kleine, schwarze Punkte. Das mussten die Bergziegen sein. Zweistiefel fielen vor Schreck fast die Augen aus dem Kopf, er sprang drei große Schritte vom Felsrand zurück. Der Ritter sah Zweistiefel an und hob eine Augenbraue. Zweistiefel kratzte sich verlegen am Hosenboden und suchte nach einer guten Ausrede. Er wollte nicht wie ein Feigling aussehen.

»Ich trete zurück damit… Damit du nicht husten musst. Meine Kleider sind sehr staubig.«

Zum Beweis klopfte er den Staub aus seiner Kleidung. Dass er sich abstaubte, machte ihn wirklich nicht schöner. Den Stoff seiner Kleidungsstücke hielten zahlreiche Nähte, Knöpfe und Drähte zusammen. Ob er eine Hose, eine Weste, einen Rock oder einen Umhang trug, konnte man in dem Durcheinander aus Flicken und Nähten nicht erkennen. Auf der Nase des Knappen sprossen Haare, aus seinem Mund ragten spitze Schneidezähne, die Haare waren verfilzt und in ihnen tobte das Leben. Nein, Zweistiefel war keine Schönheit. Doch der Ritter störte sich nicht daran, er winkte seinem Knappen.

»Auf, auf, reiche Er mir den Schild!«

Zweistiefel ließ die Schultern hängen. Wieder durfte er nur die Waffen anreichen. Wie gerne wäre er nach dem entbehrungsreichen Weg einmal, ein einziges Mal, gegen das Ungeheuer angetreten. Seine Mundwinkel rutschten nach unten, und widerstrebend reichte er dem alten Ritter den Schild. Aber der Ritter gab den Schild zurück.

»Nein, nicht so. Reiche Er mir erneut den Schild und zeige Er mehr Elan! Uns erwartet ein glorreicher Kampf gegen ein bösartiges Ungeheuer! Es hat lange genug in Dungeling gewütet. Es ist unsere heilige Pflicht, die Bauern und Bürger von dem Übel zu befreien. Sieben Dorfhütten und zwei Scheunen pustete es weg, neun Ackerfelder vernichtete es. Nun soll das Biest für seine Taten büßen!«

Zweistiefel suchte tief in seinem Innersten nach einem Krümel Elan, aber er fand nichts. Sehr oft gab er den Schild in des Ritters behandschuhte Hände und der gab den Schild sehr oft zurück. Jedes Mal versuchte der Ritter etwas Begeisterung in Zweistiefel zu wecken. Der Ritter fabulierte unermüdlich von ihren zukünftigen Taten. Mit all den Heldenmärchen hätte er ein gigantisches Buch füllen können.

Zweistiefels Schultern sanken immer weiter nach unten. Er wusste, dass er keine einzige Heldentat vollbringen würde. Wenn der Ritter nur die Rüstung an ihn abtreten würde, dann könnte er endlich seinen Heldenmut beweisen. Zweistiefel hoffte seit fünfzehn Jahren auf die Rüstung, aber der alte Ritter gab sie nicht her.

»Wenn wir weiterhin hier stehen, wird das Ungeheuer wohl an Altersschwäche sterben«, seufzte Zweistiefel.

»Er hat nicht Unrecht! Es wurde genug geschwätzt. Jetzt zählen Taten. Auf ins Gefecht!«, rief der Ritter.

Er zog das Schwert und schlug die Hacken in einen unsichtbaren Widerstand. Unter dem Sattel stampften Schritte und Geröll zerbrach unter einer schweren Last. Der Sattel flog scheinbar zum Höhleneingang. Auf dem Sattel hopste der kugelige Ritter und stieß das Schwert in die Luft. Die goldene Klinge blitzte in der aufgehenden Morgensonne.

»Komme Er heraus, garstiges Ungetüm. Stelle Er sich seinem Schicksal!«

Die vier Holzzähne im Mund des Ritters vibrierten in den Zahnlücken.

In der Höhle schniefte etwas, es knurrte heiser. Es kratzte und schlurfte langsam auf dem Felsboden. Die Geräusche wurden lauter, ein riesiges, grünes Wesen trat aus der Dunkelheit. Ein Insekt, das einer Gottesanbeterin glich. Aber es gab vier Unterschiede. Dieses Insekt war mehrere Meter hoch, in der Mitte seines Kopfes saßen zwei schmale Nasenlöcher, es bewohnte eine Grotte im Gebirge, und es aß Bergziegen.

Der Ritter legte den Kopf in den Nacken, er sah dem Insekt fest in die ovalen Facettenaugen. Oder vielleicht sollte er in die schwarzen Kulleraugen auf der Stirn blicken. Im Grunde war es gleich, wohin er schaute. Alle Augen boten einen fürchterlichen Anblick, sie waren gerötet und tränten. Aus den winzigen Nasenschlitzen tropfte eine grüne Flüssigkeit.

»Aha, ein Mantis nasus!«

Der Ritter war erstaunt. Diese Riesenartigen waren dafür bekannt, dass sie friedlich und zurückgezogen lebten. Anscheinend traf das nicht auf kranke Exemplare zu. Er deutete mit der Schwertspitze auf das triefende Mantis nasus.

»Bereite Er sich auf sein Ableben vor. Ich, Sir Armin vom Schwalbenacker, werde Ihm das Handwerk legen!«

Das Mantis schniefte. Ihm wäre es lieber, wenn man ihn Fangschrecke nannte. Seit er erkältet war, wurde er stetig verärgerter. Mit der verstopften Nase roch er die Bergziegen nicht, und die Ziegen waren sein Lieblingsessen. Als sein Hunger zu groß wurde, lief er in ein Dorf und aß ein paar Hausziegen. Naja, er nieste noch ein paar Hütten um, aber es waren nicht viele. Seitdem störten ihn die Winzlinge im Blechkostüm. Er hatte gerne Besuch, aber jetzt fühlte er sich schlechter als schlecht. Er war grantig. Die Winzlinge piekten ihn mit Zahnstochern aus Metall und kratzten ihn. Womit hatte er das verdient? Fangschrecke streckte den Arm aus und deutete auf die Nachbarhöhle im gegenüberliegenden Berg. Dort wohnte ein Drache, der die Zahnstocher mochte. -Im Gegensatz zu Fangschrecke.

Der Ritter verstand die Geste falsch, er raste mit gesenktem Schwert auf Fangschrecke zu und rief:

»Er will mich mit dem Säbelarm zerteilen? Ich werde Ihn lehren, einen Ritter zu schlagen, schändliches Unwesen!«

Fangschrecke tapste nervös auf der Stelle. In welche Richtung sollte er flüchten? Und unter welchem seiner Flügel lag das Schnupfentuch? Seine Nase kribbelte unerträglich, ein großer Nieser kündigte sich an, und Fangschrecke bog den langen Hals nach hinten.

Armin vom Schwalbenacker glaubte an einen leichten Sieg, er stählte seine Muskeln für den Todesstoß.

Plötzlich knallte eine blau strahlende Lichtkugel in die Wolkenfetzen am Himmel. Die Kugel zog einen brennenden Schweif hinter sich her, sie zischte über Armins Kopf hinweg und schlug vor den Fußklauen des Mantis ein. Das blaue Licht sprengte einen kleinen Krater in den Boden, Steinsplitter flogen umher. Die Kugel britzelte im Loch, und helle Dampfwolken stiegen von ihr auf. Langsam zog das Licht sich zurück und schrumpfte bis auf einen winzigen Punkt, der geräuschvoll verpuffte. Ein kleines Mädchen kam zum Vorschein. Dieses Mädchen war Marmel, die verschlafen ihre Augen öffnete. Das Erste, was sie sah, war eine grüne Schleimfontäne. Sie schrie und rollte sich zusammen, so eng sie konnte. Die Arme um die Beine geschlungen und den Kopf eingezogen, kauerte sie in der dampfenden Kuhle. Was war das für ein verrückter Traum? Vorsichtig lugte sie unter ihren Armen hervor. Sie begriff, dass sie auf einem Berg war, und seltsame Gestalten umgaben sie. Der kleine Krater schien ihr der sicherste Ort zu sein. Sie verharrte in ihm und beobachtete stocksteif die komischen Figuren. Vor ihr stand ein meterhohes Krabbeltier, das in alle Richtungen nieste. Hinter ihr fiel ein dicker Ritter aus dem Sattel. Marmels Augen wurden immer größer, als sie sah, dass der Sattel nicht auf einem Pferd lag. Er hing in der Luft.

Und nicht nur Marmel war baff. Fangschrecke nieste sehr erschrocken. Er konnte gar nicht mehr damit aufhören. Aus seiner Nase spritzten grüne Tropfen, so groß wie eine Matschpfütze. Der dicke Ritter plumpste vom Sattel und rollte ein gutes Stück. Armin vom Schwalbenacker entging den riesigen Tropfen nur knapp. Während Zweistiefel gelangweilt einen sonderbar geformten Stein stupste und getroffen wurde. Die Fontäne schoss ihn mit voller Wucht an einen Felsbrocken und umspülte ihn von allen Seiten. Zweistiefel schüttelte sich und wandt sich wie ein Aal am Haken. Er konnte sich nicht befreien, klebte am Felsen fest und blubberte die schlimmsten Flüche, die ihm einfielen.

Armin hörte den Knappen in höchster Not, noch bevor er das Malheur sah. Der Ritter wuchtete seinen Bauch hoch und fuchtelte mit dem Schwert herum.

»Harre Er unbesorgt aus, Knappe. Ich werde Ihn vor den Klauen der Bestie bewahren!«

Er rutschte durch grüne Tümpel und Pfützen, ruderte heftig mit den Armen und fiel immer wieder hin. Das Mantis nieste und nieste, überall regnete grünes Zeug herunter. Der Felsvorsprung verwandelte sich in eine große, glitschige Pfütze. Kein Stückchen kam der Ritter vom Fleck, er saß auf seinem geflickten Waffenrock, der unter dem speckigen Gürtel hervor lugte, und hielt den Schild über seinen Kopf. Der dickflüssige Schleim tropfte bedächtig über den goldenen Rand des Schildes. Wieder hörte er den Mantis nasus niesen und grünes Zeug flog im hohen Bogen durch die Luft. Der Ritter runzelte die faltige Stirn. Unter diesen Bedingungen konnte er weder Zweistiefel befreien, noch das Monster erlegen. Von Anfang an hatte ihm der Kampf nicht gefallen. Der Sieg über ein krankes Mantis nasus wäre ein unrühmlicher Triumph. Dies leidende Wesen bot keine Herausforderung für einen tapferen Ritter. Doch er musste sich eingestehen, dass dessen Erkältung ein würdiger Gegner war. Vor dem heftigen Niesen musste Armin vom Schwalbenacker kapitulieren. Er hockte geduckt unter dem Schild, starrte Fangschrecke durchdringend an und dachte nach. Der Ritter bemerkte nicht, wie der treue Sattel sich näherte. Der Sattel stupste den Ritter vorsichtig an, Armin drehte sich nicht um und starrte weiter. Der Sattel knuffte ihn wieder und schließlich rammte er ihm das Leder in den Rücken. Armin vom Schwalbenacker fiel beinahe mit der Knollennase voran in den Matsch.

»Au, bei allen Teufeln. Welcher Gimp hat Ihn gebissen, Sattel? Sieht Er nicht, dass sein Reitherr einen Plan ersinnt?«

Der Sattel pfiff lang gedehnt. Er zeigte Armin die Seite, an der die Satteltasche hing.

»Jetzt ist nicht die Zeit für eine Rast, Sattel«, sagte der Ritter und schob den Sattel weg, der ein wenig ungehalten schnaufte.

Am Verschluss der Satteltasche knabberte ein unsichtbares Maul und die Tasche klappte auf. In ihr befand sich die Reiseapotheke des Ritters, Salben, Kräutertinkturen und Tränke gegen Haarausfall, Rückenschmerzen, faule Zähne, quer sitzende Fürze, rosa Flecken, ein Rheumakissen, Verbandszeug und vieles mehr. In der Tasche raschelten Kräuter und Fläschchen klimperten. Ein Pott Eukalyptus-Salbe stieg empor und trudelte vor Armin in der Luft.

»Aha, sehr gut, Sattel. Dies Mittel könnte hilfreich sein.«

Armin vom Schwalbenacker ergriff den Pott, den er ruppig öffnete und auf der flachen Hand unter dem Schild hervorstreckte. Die ätherischen Öle der Salbe verströmten einen wohltuenden Duft. Das Aroma drang selbst durch die verschnupfte Nase des Mantis. Fangschrecke machte einen langen Hals, seine Kauwerkzeuge klickerten neugierig und mit einem Happs verschlang er den Pott. Sein Magen grummelte und gluckerte, Fangschrecke legte den stacheligen Arm auf den Bauch und rülpste. Der Rülpser hallte ohrenbetäubend laut an den Felswänden wieder und löste weit entfernt eine Lawine aus. Eine Dampfwolke schoss dem Mantis nasus aus Mund und Nasenlöcher. Die Wolke roch angenehm nach Eukalyptus, sie reinigte Fangschreckes Nase und senkte sich auf die grüne Pfütze. Verdutzt zog Fangschrecke Luft durch die Nase, sie war schnupfenfrei. Er tänzelte glücklich, einmal im Kreis, hin und her und wieder zurück. Fangschrecke fühlte sich gesund wie nie zuvor. Übermütig sprang er in die Luft, breitete die Flügel aus und entschwand hinter der Gebirgskette der Drachenfelsen. Der Wind der Flügelschläge fegte den Eukalyptusnebel vom Felsvorsprung und mit dem Nebel verschwand auch der grüne Schleim. Nur eine seichte Wasserpfütze blieb zurück.

Als die Luft klar war, sah Armin vom Schwalbenacker kein Ungeheuer mehr. Er machte ein Gesicht wie ein altes Brot. Das Mantis nasus hatte sich im Nebel davongestohlen, wie unhöflich.

»Sattel, das Mantis ist auf und davon. Schlimme Zeiten sind das, alter Junge. Kaum jemand hält noch die ungeschriebenen Gesetze ein. Früher kämpften Ritter und Ungeheuer bis zum Tode. Heute macht jeder, was er will. Wie soll ein ehrlicher Ritter so zu Ruhm und Ehre gelangen?«

Armin tätschelte betrübt den Sattel und betrachtete den Platz vor der Höhle. Hier hätte der Ort einer legendären Schlacht sein können. Vielleicht wäre sie nicht legendär geworden, aber zumindest wäre es eine Schlacht gewesen. Eine Mantislänge vom Höhleneingang entfernt, entdeckten seine altersschwachen Augen einen mickrigen Krater.

»Potzblitz, wie entstand das Loch? Mein treuer Knappe, komme Er her. Findet Er eine Erklärung für dieses Rätsel?«

Der Nebel hatte auch Zweistiefel von der klebrigen Flüssigkeit befreit. Der Knappe wrang sein Fetzengewandt aus, schlurfte tropfnass neben den Ritter und pulte sich grünes Zeug aus dem Ohr.

»Hast du das grelle Licht nicht gesehen, alter Mann? Es flog direkt über deinen Kopf.«

Armin kratzte sich die Glatze.

»Ich kann mich nicht entsinnen. Doch mir drängt sich eine wesentlich wichtigere Frage auf. Wer ist dies Mädchen in dem Krater? Wir sollten uns nach seinem Namen erkundigen.«

Zweistiefel pulte stoisch im anderen Ohr, der Ritter zog ungeduldig eine Augenbraue hoch und stieß den Knappen an.

»Nun bewege Er sich, fauler Kerl. Frage Er das Mädchen wie es heißt!«

»Au, beruhige dich alter Mann. Ich wollte in diesem Augenblick die Frage stellen.« Zweistiefel rieb sich den Arm, er beugte sich vor und seufzte: »Na Kleine, wie heißt du denn?«

Marmel streckte vorsichtig den Kopf unter ihren Armen hervor, sie umklammerte ihre Knie und starrte die zwei Figuren an. Sie brachte kein Wort hervor. Es waren so merkwürdige Dinge passiert. Sie mochte exotische Dinge, aber diese waren überwältigend exotisch. Eine meterhohe, niesende Gottesanbeterin, die ein Mantis sein sollte. Ein Ritter, dessen Bauch aus der Rüstung quoll und der auf einem Sattel ohne Pferd ritt. Überall grüne Suppe und ein dreckiger Junge, der an einem Felsblock geklebt hatte. Marmel schwirrte der Kopf, sie war so durcheinander, dass sie zitterte. In ihrem Kopf herrschte Großalarm, die verschiedenen Teile ihres Gehirns versandten im Sekundentakt scheinbar lebenswichtige Meldungen.

»Habt ihr das gesehen? Habt ihr das gesehen? Ein riesiges Insekt. Bestimmt acht Meter hoch, so groß wie ein Riesenrad! Und schaut mal, da hinten fliegt ein Sattel und hier steht ein Ritter. Was sind das für dicke Wulste auf seiner Stirn? Ich glaube, das sind die größten Falten, die ich je gesehen habe. Und erst der hässliche Clown neben ihm, der hat Haare auf der Nase«, rief der Sehsinn und der Riechsinn antwortete: »Das ist nichts gegen den Geruch, der Clown muss sich seit Jahren nicht gewaschen haben.«

»Du meine Güte, das Tier war wirklich sehr hoch. Wie beunruhigend. Was für ein Glück, dass es jetzt weg ist. Die zwei Personen stehen direkt vor Marmel? Nein, wie unangenehm. Hoffentlich sind sie nicht ansteckend. Marmel sollte hier weg, dieser Ort ist gefährlich«, jammerte die Gefühlsebene.

Womit der Verstand jedoch nicht einverstanden war, er widersprach heftig und erklärte:

»Es besteht keine direkte Gefahr. Marmel sollte besser herausfinden, wo sie ist und wer die Stinker sind. Sie sollte dem Clown ihren Namen sagen. Und ich vermute, dass der Clown gar kein Clown ist. Er ist wohl ein Knappe.«

Die Schaltzentrale, die allem zugehört hatte, war nun vollends verwirrt und beschwerte sich:

»Wie, was? Insekt, stinkender Clown, Riesenrad? Hui, das ist zu viel, was soll Marmel jetzt machen? Himmel, Sack und Zwirn, ruhe alle miteinander! Bei dem Lärm kann ich nicht nachdenken.«

»Was ist nun, großer Organisator? Ich warte. Welches Glied soll ich bewegen? Marmels Muskeln werden bald steif«, mischte sich die Motorik ein.

»Entschuldigung, und was ist mit mir? Antwortet mir mal jemand? Wieder redet keiner mit mir, ihr seid gemein! Dann überlege ich mir eben selber, was ich tun sollte. Marmel hat steife Muskeln? Kein Problem, ich bewege sie mal ein bisschen«, sagte Joss leichthin und setzte sein Vorhaben sogleich in die Tat um.

Urplötzlich verlor Marmel das Bewusstsein. Sie fiel um, zuckte und zitterte am ganzen Körper, ihre Hände verkrampften sich und schlossen sich wie Klauen. Sie riss ihre Augen weit auf, grunzte und machte Geräusche, die keinem menschlichen und keinem tierischen Laut ähnelten.

Zweistiefel wich entsetzt zurück. Das Mädchen verhielt sich entgegen allem, was er bisher gesehen hatte. Angst erfasste ihn, zutiefst schockiert beobachtete er das Schauspiel. Er wollte sich abwenden und konnte sich dennoch nicht von dem furchtbaren Anblick lösen. Erstarrt sah er auf das Mädchen.

Armins Gesicht war wie versteinert, der Ritter bemühte sich um Haltung. Er hatte allerhand grässlichen Wesen gegenüber gestanden, aber das ungewohnte Verhalten des Mädchens erschütterte ihn zutiefst. Von einem Menschen erwartete er Normalität, die gleichen Bewegungen, die er selber machte.

Marmels Zuckungen ebbten ab, die verkrampften Glieder entspannten sich, sie verstummte und kam langsam zur Besinnung. Verschwommen sah sie die Gesichter des Ritters und des Knappen. Zwei Fragen drängten sich ihr zäh auf. Warum wurde sie von den beiden entsetzt angestarrt? Und warum lag sie auf dem Rücken?

Marmel ahnte die Antwort auf ihre Fragen, doch sie schaffte es nicht, die Antwort ganz zu begreifen. Eine schwere Müdigkeit lastete auf ihr. Ehe sie die Antwort auf ihre Fragen fand, schlief sie ein. Marmel war sehr erschöpft und schlief tief. Ihre Miene war friedlich und entspannt, wie die jeder schlafenden Zehnjährigen.

Der Ritter schnaufte hörbar, er zupfte nervös an seinem schwarzen Spitzbart, um seine Nerven zu beruhigen.

»Das Mädchen schläft. Er muss die Frage nach dem Namen auf später verschieben.«

»Oh nein. Bitte, Sir Armin. Besteh nicht darauf, dass ich mit dem Mädchen rede. Es ist sicher eine Hexe. Wie es gezappelt hat und auf ihrer Nase sind hellbraune Flecken. Der Teufel hat sie angeniest.« Zweistiefel kaute auf seinen Fingernägeln.

Armin vom Schwalbenacker warf dem Knappen einen mahnenden Seitenblick zu. Er kannte seinen Knappen gut. Zweistiefel knabberte an seinen Fingernägeln, wenn er verängstigt war. Wenn er große Angst hatte, redete er Armin vom Schwalbenacker mit „Sir“ an. Der Ritter versuchte ruhig nachzudenken.

»Mmh, vielleicht ist seine Vermutung richtig. Dann sollte Er Holz zusammen tragen und die Hexe verbrennen.«

Zweistiefel sah sich um, überall wohin er blickte, sah er rauen Fels. Nicht einmal ein winziger Holzspan steckte in einer Felsspalte.

»Hier gibt es kein Holz«, heulte er.

»Nur die Ruhe, Er Jungspund. Ich habe Ihn gefoppt. Die letzte Hexe wurde vor drei Tagen verbrannt. Schaue Er genau hin, die Flecken auf der Nase des Mädchens sind Sommersprossen. Ich vermute, das Mädchen ist krank. Vielleicht leidet es unter einem Fieberkrampf. Hole Er zwei Wolldecken aus der Satteltasche und baue Er dem Mädchen aus den Decken ein Bett.«

Zweistiefel befolgte die Anweisung ohne zu murren. Der Schreck saß ihm tief in den Gliedern. Als Marmel in dem bescheidenen Bett lag, hockten Ritter und Knappe schweigsam neben den Decken. Zweistiefel fürchtete, dass er jeden Augenblick verhext wurde, trotz des Ritters Worte. Aber das Mädchen schlief und schlief. Die Zeit verstrich, nichts geschah und seine Angst verflog.

Armin grunzte:

»Ihre Tracht gleicht nicht den üblichen Kleidern. Sie muss aus einem fernen Land kommen. So etwas habe ich noch nie gesehen, kleine Mädchen, die Hosen tragen. Hohoho!«

»Ja, merkwürdig. Sieh nur. Sie trägt rote Perlenketten im Haar. Sie halten zwei ungeflochtene Zöpfe zusammen. Ein Schmuck, wie ihn eine Wergäunerin hat«, nickte Zweistiefel.

»Oho, aufgepasst. Das Fräulein erwacht. Nun, stelle Er die Frage.«

Armin vom Schwalbenacker versuchte ein freundliches Gesicht zu machen. Er grinste und die alten Holzzähne kamen zum Vorschein. Zweistiefel kratzte aufgeregt ein paar Tiere aus dem verfilzten Haar.

»Guten Tag, Mädchen. Hast du gut geschlafen? Bitte fall nicht wieder um. Wir würden gerne wissen, wie du heißt?«

Marmel rieb sich Schlaf aus den Augen. Sie fühlte sich dösig, sie wurde wacher, aber die komischen Gestalten saßen immer noch vor ihr. Sie kniff sich in den Arm und sagte:

»Au!«

Oh Mann, das tat verflixt weh. Der Ritter und der Knappe waren noch da, und der Sattel schwebte immer noch hinter ihnen. Außerdem schauten sie Marmel so verdutzt an, als ob sie nicht alle Tassen im Schrank hätte. Sie hatten wohl ihren epileptischen Anfall gesehen. Sie selbst fand den Ritter und den Knappen viel verrückter als ihr Gezappel. Vielleicht sollte sie sich nochmal kneifen? Marmel entschied sich dagegen. Der Ort war seltsam wie ein Traum, doch er schien Wirklichkeit zu sein. Die Wolldecken kratzen, und der Boden war ungemütlich hart. So etwas träumt man doch nicht. Sie erinnerte sich an ein Gefühl der Schwerelosigkeit, bevor sie auf dem Felsvorsprung gelandet war. Vielleicht war sie auf einem fremden Planeten. Dann wäre sie die Erste, die ihn entdeckte. Der Gedanke war aufregend und großartig. Er gab ihr den Mut einer Entdeckerin. Sie wollte alles über diesen Ort herausfinden.

»Danke, ich habe gut geschlafen. Ich heiße Marmel Klebowski und wie heißt du? Und wer ist der dicke Ritter?«, antwortete sie dem Knappen.

Armins Grinsen schrumpfte, und Zweistiefel grinste umso breiter. Nicht einmal er nannte Armin vom Schwalbenacker „dicker Ritter“, das traute er sich nicht.

»Mein Name ist Zweistiefel und der Dicke, ich meine, der alte Mann ist Armin vom Schwalbenacker.«

»Freut mich euch kennenzulernen«, lächelte Marmel. »Ich glaube, ich habe mich irgendwie verlaufen. Wo bin ich hier?«

Zweistiefels Brust schwoll an, ihm gefiel Marmels Neugier. Er fühlte sich einmal wichtig.

»Verlaufen, also so etwas. Du hast dich wohl in eine Sternschnuppe verirrt. Du bist auf Jagomus im Drachengebirge. Der vollständige Name unserer Welt lautet „Kleisternebenagerumpeluff“. Das Wort beschreibt, wie das erste Geräusch unserer Welt klang. Es klang so, wie ein Topf Kleister, der auf einen Hamster fällt. Eines Tages nannten wir den Hamster Jago und zum Kleister sagten wir Mus.„Kleisternebenagerumpeluff“ ist ein langer Name und niemand kann ihn richtig aussprechen. Deshalb mochte keiner über den Planeten reden, es führte ständig zu Missverständen und Heiserkeit. Dann kürzten wir den Namen ab und sagten Jagomus. Damit sind alle glücklich. Jagomus klingt schön, nicht wahr? Darf ich fragen, aus welchem Land du stammst und welchen Titel du trägst?«

Ritter Armin vom Schwalbenacker räusperte sich.

»Ich störe ungern die nette Plauderei. Später würde ich gerne mehr von Ihr erfahren, Marmel Klebowski. Es gilt viele Fragen zu beantworten. Doch Sie ist wohl krank, Mädchen. Wir sollten eiligst zum Schamanen gehen und ihn um Rat fragen.«

Von wem spricht der Ritter? Verwirrt schaute Marmel um sich, sie sah kein zweites Mädchen oder vielleicht ein Kleid ohne Mädchen. Wie der Sattel ohne Pferd.

»Herr Schwalbenacker, von wem redest du?«

»Ich rede von Ihr!«

Würdevoll gestikulierte der Ritter mit der Hand. Durch die Geste wurde seine Antwort nicht klarer, und Marmel runzelte die Stirn.

»Ich sehe keine Ihr.«

Der Ritter grunzte:

»Nun, das ist natürlich. Sie würde Sie wohl im Spiegel sehen.«

Marmels Runzeln auf der Stirn vertieften sich, jetzt stand auch ihr Mund offen. Es gab ein Mädchen im Spiegel und sie sollte das Mädchen kennen? So ein ausgemachter Quatsch.

Zweistiefel grinste heimlich. Wie lustig sind Marmels Fragen an Armin. Schadenfroh beobachtete er, wie der Ritter an ihnen verzweifelte. Nach einiger Zeit wurde ihm langweilig, der Spaß dauerte lange genug, und in Zweistiefel keimte ein bisschen Mitleid auf. Er lugte hinter Armin vom Schwalbenacker hervor und sprach träge:

»Der alte Mann redet von dir. Er spricht alle in der dritten Person an.« Verschwörerisch beugte er sich zu Marmel herunter. »Ich glaube der Alte sieht manchmal doppelt.«

»Oh, achso.« Nach dieser Auskunft verstand Marmel nicht viel mehr und wunderte sich sehr. »Herr vom Schwalbenacker, ich erzähle später gern etwas von mir. Mich haben schon viele Ärzte untersucht. Aber wenn du möchtest, gehe ich mit dir zum Schamanen.«

Marmel war nicht überrascht. Insgeheim hatte sie geglaubt, dass ihre Eltern bald auf die Idee kommen würden, sie zu einem Schamanen zu bringen. Den Sattel betrachtete sie misstrauischer.

»Keine Sorge, er ist ein braver Sattel«, brummte der Ritter.

Er wickelte ihr fürsorglich eine Wolldecke um die Schultern und setzte Marmel auf den Sattel. Sie linste nach unten, wo sie die Hufe sehen sollte und fragte verwundert:

»Warum hängt der Sattel in der Luft?» Marmel schnüffelte. »Und wieso riecht es hier nach Eierbrot?«

»Ach, mmh. Nun, ja. Wir sollten aufbrechen. Ein langer Weg liegt vor uns«, blubberte der Ritter, er klaubte das goldene Schwert auf und ging mit langen Schritten voraus.

Armin redete ungern über das fehlende Pferd und den Geruch nach Eierbrot. Das Gespräch lief zwangsläufig auf den Grund seiner leeren Geldbörse hinaus. Er war kein gefragter Held. Seit Jahren erschlug er Ungeheuer, aber Ruhm und Reichtum blieben aus. Wenn er doch wenigstens Ruhm ernten würde. Schön wäre es, wenn ein Liedermacher die Heldentaten des Armin vom Schwalbenacker besingen würde.

Wie immer schleppte der Knappe den goldenen Schild, der auf einer Reise eine lästige Last war. In der anderen Hand hielt er die Zügel, die am Sattel fest gebunden waren und keuchte dem Ritter hinterher. Zweistiefel hustete atemlos neben Marmel:

»Der Sattel hängt in der Luft, weil der alte Mann kein Gold für ein Pferd hatte. Seine Rüstung besteht aus Koboldknacker, deshalb riecht sie nach Brot. Koboldknacker ist wohl das härteste Brot im ganzen Universum. Es ist das einzige Brot, das Koboldzähne zerknackt. Und der goldene Überzug ist Dracheneidotter. Der alte Mann wird nicht gerne auf seine Ausrüstung angesprochen. Denn das ist eine Arme-Ritter-Rüstung.«

Diese Leute kleiden sich furchtbar seltsam, staunte Marmel. Sie zog müde die Wolldecke enger um ihre Schultern, klammerte sich an den Sattel und nahm die Umgebung der fremden Welt in sich auf. Ein frischer Wind wehte ihr um die Nase. Er trug den Geruch eisiger Bergspitzen, klammer Felswände und winziger Blumenbüschel mit sich. Das Grüppchen verließ den Felsvorsprung, es wanderte den schmalen Felsweg entlang und gesellte sich zu den winzigen Punkten am Fuße des Drachenberges.

Marmel Klebowski & das Geheimnis des Schrumpfkopfes

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