Читать книгу Marmel Klebowski & das Geheimnis des Schrumpfkopfes - Anneke Freytag - Страница 7

Der Schamanenzauber

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Marmel erinnerte sich an warme Dunkelheit. Sie spürte daunenweiche Kissen, in die sie tief eingesunken war, eine gemütliche Matratze und eine samtene Bettdecke. Trotzdem fühlte ihr Kopf sich an wie eine Pampelmuse in der Saftpresse, und dunkel war es immer noch. Vielleicht sollte sie die Augen öffnen? Marmel blinzelte vorsichtig. Sie sah Graf Leopold von Leafburgh. Der Schamane hielt eine Öllampe in der Hand. Die bescheidene Lampe war das einzige Licht in dem düsteren, fensterlosen Keller. Es war viel zu dicht und blendete Marmels Augen, die sie schnell zusammenkniff.

»Schön, schön, du bist aufgewacht. Die Behandlung ist ein voller Erfolg, wie wundervoll«, sagte Leopold.

Marmel brummte nur. Von welcher Behandlung sprach er? Sie musste etwas wichtiges verpasst haben. Vorsichtig öffnete sie ein Auge, diesmal war das Licht weiter weg. Jetzt erkannte sie, dass sie in einem großen Himmelbett lag. Sie konnte durch ein Loch im nachtblauen Baldachin sehen. Von der steinernen Decke baumelten dicke, saftige Räucherschinken. Der Raum war vollgestopft mit Nahrungsmitteln. Käse, Brot, eingemachtes Obst, Gemüse stapelten sich in den Schränken und Regalen. Kisten voller Knollen und Rüben, Mehlsäcke und Fischfässer, all das vermischte sich zu einem deftigen Aroma. Marmel fühlte, wie ihr übel wurde, rasch setzte sie sich auf, und plötzlich schmerzte ihr Kopf, als ob jemand einen Hammer draufgeschlagen hätte. Das Ergebnis dieser Behandlung gefiel ihr gar nicht und der Raum auch nicht. Der Geruch war unerträglich, sie verzog das Gesicht und hielt mit den Fingern ihre Nase zu.

Der Schamane reichte ihr eine Tasse, gefüllt mit einem dampfenden Getränk.

»Bitteschön , eine Tasse Kräutertee für dich. Danach geht es dir gleich besser. Trink vorsichtig, der Tee ist heiß. Dein Magen ist leer und verträgt nicht viel auf einmal. Aber hier gibt es genug Essen, um deinen Magen aufzufüllen. Wie gut, dass das Bett im Vorratsraum steht, nicht wahr?«

Die Öllampe stand jetzt in einem der Regale auf einem Käselaib, der groß wie ein Wagenrad war und schwitzte. Mutig nahm Marmel die Finger von der Nase, sie nippte am Tee, spürte wie er ihren Magen erwärmte. Als sie die halbe Tasse geleert hatte, war ihr kaum noch übel und die Kopfschmerzen waren verflogen. Trotzdem fühlte sich ihr Kopf verändert an. Er war kühl und sie spürte jeden Luftzug. Marmel trank ein Schlückchen Tee, legte sich mühevoll ein paar Gedanken zurecht und fragte schwerfällig:

»Danke für den Tee, Herr Leopold. Jetzt geht es mir besser. Von welcher Behandlung hast du geredet? Und warum tat mir mein Kopf weh? Warum war mir schlecht?«

Der Schamane klopfte mit dem Spazierstock flink auf dem Boden herum, an der Stockspitze wippte der weiße Haarpuschel und Leopold grinste. Sein sehr weißes Gebiss füllte fast das ganze Gesicht aus.

»Ich spreche von der Behandlung, durch die ich dich von der Fallsucht heilte. Das schaffte ich mit der neuesten Errungenschaft der Schamanenheilkunst, Schnitte in die Eingeweide. Ich rasierte deine Haare ab, dann sägte ich deinen Kopf auf und schnitt aus deinem Gehirn ein Stück andersartiges Gewebe heraus, das deine Fallsucht auslöste. Danach legte ich die Schädelplatte zurück an ihren Platz und nähte die Kopfhaut zu.« Graf Leopold zog unter seiner Weste einen Handspiegel hervor und hielt ihn Marmel vor das Gesicht. »Ich habe dir einige Extranähte gemacht, bezaubernd nicht wahr?«

Marmels Gehirn verarbeitete die Erklärung des Schamanen und jeder Hirnbereich trug seinen Teil dazu bei.

»Aha, ‚Von der Fallsucht heilen‛ so nennt man es also, wenn jemand in den Schädel einbricht und ein Gehirnstück entführt«, sagte der Verstand.

»Meinst du, der Schamane war der Einbrecher?«, fragte die Gefühlsebene.

»Natürlich meine ich, dass der Schamane der Einbrecher war. Er hat es selber zugegeben«, erwiderte der Verstand.

»Ich bin empört. Diesem räuberischen Quacksalber sollte man verbieten, kranke Leute anzufassen. Es gehört sich nicht, in anderer Leute Köpfe zu schauen, wie unverschämt.«, plusterte sich die Gefühlsebene auf.

»Warum schimpfst du? Der verrückte Mann hat uns von Joss befreit. Wir sollten ihm dankbar sein. Der Unruhestifter ist endlich weg«, bemerkte der Verstand trocken.

»Weg. Danke, das Wort habe ich gesucht«, meinte das Sprachzentrum.

»Sag mal, seit wann suchst du Worte?«, erkundigte sich der Verstand.

»Ich suche Worte, seitdem es ein Loch in unserem Gewebe gibt. Da führten vorher ein paar Verbindungen von mir durch«, erklärte das Sprachzentrum.

»He, schaut euch das an. So ein gruseliges Gesicht habt ihr noch nicht gesehen. Kann mir bitte einer sagen was das ist?«, fragte der Sehsinn.

»Gibt es kein schärferes Bild? Dieses ist viel zu verschwommen. So können wir kaum etwas erkennen«, moserte die Schaltzentrale.

»Tut mir leid, ich kann nichts schärfer machen. Die schlechte Verbindung ist schuld«, antwortete der Sehsinn.

Im Spiegel sah Marmel verschwommen ein fremdes Gesicht. Die Augen waren dunkel umrandet, die Haut war blass, der Kopf war kahl und war mit langen, kurzen, dicken und dünnen Nähten übersät. Sie erkannte sich nur an den Sommersprossen. Marmel erschrak fürchterlich, sie warf die Teetasse hoch und schrie so laut, wie sie noch nie geschrien hatte, so laut, dass der Spiegel zersprang. Die Tasse fiel in einen offenen Mehlsack, eine weiße Wolke stob aus dem Sack und der Tee spritzte. Der Schamane zuckte zusammen, und der Spiegel entglitt seiner Hand. Etwas rumste gegen die Tür, sie sprang auf, und Armins ausgelatschter Stiefel trat in die Vorratskammer. Der Ritter stürmte mit einer Hühnerkeule im Mund herein, er grunzte aufgebracht, rollte mit den Augen. Zweistiefel wetzte hinter ihm in die Kammer und schwang eine Brotstange. Armins Blick fiel auf Marmel, er riss das Hähnchen aus seinem Mund und rief:

»Armes Kind, sei unbesorgt. Ritter Armin vom Schwalbenacker naht zur Hilfe!«

Der Ritter stach mit der Hähnchenkeule wie mit einem Degen in die Luft. Bei jedem Wort flogen Fleischstücke aus seinem Mund. Während Zweistiefel mit dem Brot fuchtelte. »Ja, sag uns, was dir fehlt. Wir verpassen dem eine dicke Beule!«

»Mir fehlt ein Stück Gehirn, und ich bin ein Frankensteinmonster«, weinte Marmel.

Der Ritter ließ die Hühnerkeule sinken, Zweistiefel stellte das Brot ab, und beide seufzten enttäuscht. Kein Ungeheuer bedrohte Marmel, sie konnten nichts bekämpfen, oder erschlagen.

»Ein Frankensteinmonster? Davon hörte ich nie“, meinte der Knappe.

Armin trat vorsichtig ans Bett heran, er tätschelte unbeholfen Marmels Schulter.

»Nana, weine nicht, Mädchen. Wer braucht ein Stück Gehirn? Sie wird staunen, Gehirnstücke werden überbewertet. Höre auf die Erfahrung eines alten Recken. Mut und Wahrhaftigkeit zählen mehr. Und Sie ist wahrhaftig kein Frankensteinmonster. Wie ich sehe, ist Sie Marmel.«

Er zog ein schmuddeliges Taschentuch unter seinem breiten Ledergürtel hervor und reichte es Marmel.

Marmel schniefte ins Tuch und wischte sich Hähnchenstücke aus dem Gesicht. Die Worte des Ritters trösteten sie wenig. Sie konnte sich nicht damit abfinden, dass der Schamane sie operiert hatte, ohne sie zu fragen. Marmel war schockiert. Und dazu hatte sie allen Grund. Jeder Arzt auf der Erde fragte seine Patienten, ob sie mit dieser Behandlung einverstanden waren. Er musste ihnen erklären, was er tun würde, und er musste ihnen sagen, wie gefährlich das sein könnte. Vor der Operation untersuchte der Arzt genau den Kopf. Er fand heraus, wo das anders gewachsene Gehirnstück war und ob es nicht in der Nähe wichtiger Hirnbereiche lag. Zum Beispiel waren manche Regionen für die Sprache, die Erinnerungen oder die Bewegungen zuständig. Es wäre dumm, wenn man so etwas herausschneiden würde. Danach könnte der Patient gelähmt sein, er könnte nicht sprechen oder er hätte vielleicht kein Gedächtnis mehr. Erst wenn der Arzt sich sicher war, dass das Hirngewebe sich nicht neben wichtigen Teilen befand, operierte er es heraus.

All das wusste Marmel, doch sie ahnte nicht, ob der Schamane sich daran gehalten hatte. Sicher nicht. Er hatte sie nicht einmal um Erlaubnis gebeten. Marmel knüllte das Taschentuch zusammen. Sie ballte die Hand zur Faust, ihr Mund war schmal wie ein Strich.

»Herr Armin, ich fühle mich so schlecht. Ich sehe alles so, so. Och, mir fällt das Wort nicht ein. Eben so«, sagte sie unglücklich. Die Spiegelscherben auf dem Bett weckten das schlechte Gewissen in ihr, aber nur ein bisschen. Sie streckte dem Schamanen die Faust entgegen und schüttelte sie. »Du hast mich nicht gefragt! Ich wollte keine Nähte auf dem Kopf! Ganz sicher nicht. Herr Leopold das war, das war. Du weißt schon was!«

Der Ritter half Marmel weiter.

»Das war unredlich!« Er drückte dem Schamanen bedrohlich dicht die Hähnchenkeule unter die Nase. »Ich habe schon viel mit dir erlebt. Aber was du diesmal getan hast, ist der Höhepunkt. Ich sollte dich hier und jetzt mit der Keule niederschlagen!«

»Bitte nicht, Armin. Denk daran wie lange wir gute Freunde sind«, japste der Graf. »Marmel, entschuldige, dass ich dich nicht fragte. Aber du hast ja geschlafen. Ich sah, welche Krankheit du hattest, und ich wusste wie ich dich davon kurieren konnte. Also heilte ich dich. Das ist meine Aufgabe als Schamane. Und in aller Bescheidenheit, ich bin ein guter Schamane. Nachdem du gestorben bist, habe ich dich gleich wiederbelebt. In ein paar Tagen bist du wieder quietschfidel. Ich habe sogar dein Gehirnstück in einem Einmachglas aufgehoben. Du darfst es jederzeit besichtigen.«

Marmels Augen weiteten sich, und der Ritter brüllte entsetzt:

»Was muss ich da hören? Du hast aus Marmel eine Zombiene gemacht?«

Leopold hob das Kinn und versuchte, der Keule elegant zu entkommen.

»Nein, nein. Sie ist nicht tot.«

»Ja, sage ich doch, eine Untote!«, donnerte Armin.

Zweistiefel beobachtete den Streit gleichgültig. Ihm war viel wichtiger, dass sein Magen gut gefüllt war. Der Knappe knabberte am kläglichen Rest der Brotstange und ahnte, dass er bald nichts mehr zu beißen hätte.

»Wollt ihr euch noch lange zanken? Dann gehe ich jetzt zurück an den Esstisch und nehme Marmel mit«, schmatzte er gelangweilt.

Marmel sah verdattert zu Zweistiefel, der eine ganze Stange Brot vertilgt hatte und immer noch an Essen dachte. Dann blickte sie zu Armin, der den Schamanen mit einer Hähnchenkeule bedrohte. Dazwischen das Himmelbett im Vorratsraum. Der Anblick war zu komisch. Marmel vergaß all ihren Groll und lachte laut los.

»Ja, das ist eine gute Idee, Zweistiefel. Ich habe Hunger, aber nicht auf Menschenfleisch und Gehirn, wie ein Zombie!«

Leopold von Leafburgh schnippte die Hähnchenkeule zur Seite.

»Na, hast du gehört, Armin? Das Mädchen hat Hunger. Das ist ein gutes Zeichen, jawohl, ja. Welch ein glücklicher Zufall, dass ich für dich und Zweistiefel eine warme Mahlzeit zubereitet habe. Ich hoffe, ihr habt etwas übrig gelassen. Komm Marmel, wir sehen einmal nach.«

Marmel konnte kaum mit dem Lachen aufhören, kicherte hinter vorgehaltener Hand und nickte. Als sie aus dem Bett kletterte, grinste sie immer noch. Die Samtdecke band sie um ihre Schultern, in dem Burgkeller war es sehr frisch und sie trug nur ihren Schlafanzug, den sie angezogen hatte, als sie Zuhause ins Bett gegangen war. Marmel tapste unsicher neben dem Schamanen. Die Umgebung erkannte sie nur undeutlich, und ihre Beine fühlten sich schwach an. Hinter ihr schleifte die rote Bettdecke wie eine königliche Schleppe über den Boden, der Zweistiefel und Armin folgten, wie ein seltsamer Hofstaat, der zu der Königsschleppe gehörte. Leopold von Leafburgh öffnete eine schwere Holztür und mit einer schwungvollen Geste bat er Marmel herein.

»Willkommen in meinem Kaminzimmer, bitte tritt ein.«

Vorsichtig lugte Marmel ins Zimmer, sie entdeckte Sattel, der vor einer Schüssel mit rostigen Nägeln schwebte. Er drehte sich, verharrte, als ob er zu Marmel schaute, dann wandte sich wieder der Schüssel zu. Ein Happen Rostnägel löste sich in Luft auf. Marmel runzelte die Stirn. Ein eisenfressendes Pferd? Irgendwann würde sie herausfinden, worauf der Sattel lag. Aber nicht jetzt, ihr Magen knurrte. Längs durch den Raum erstreckte sich ein dunkelbraun glänzender Tisch, er reichte fast von der vorderen bis zur hinteren Wand. Jeder Fleck der Tischplatte war bedeckt mit feinen Platten, Schüsseln und Tellern voller Essen und silbernen Kerzenleuchtern. Kunstvoll geschnitzte Lehnstühle standen an der reichlich gedeckten Tafel. Marmels Appetit war groß, die Spucke tropfte ihr fast aus dem Mund. Sie ließ sich auf einem der vornehmen Sitze fallen und griff mit jeder Hand in die Schüsseln. Auf ihrem Teller wuchs ein Berg aus Kartoffelbrei, Bratferkelscheiben, Preiselbeeren, Käse, Schokoladenpudding, Apfelkuchen, Weintrauben, Zimtsterne, Pistazien und Vanillesoße. Marmel griff nach einem Holzlöffel und schaufelte all die Köstlichkeiten in sich hinein. Ihre Backen waren gut gefüllt wie Hamsterbacken, als Leopold, Armin und Zweistiefel am Tisch ankamen.

Keiner nahm ihr die schlechten Manieren übel, denn sie kannten andere Tischmanieren. Auf Jagomus schlug man Purzelbäume durch die Suppe, um das Haar darin zu finden. Für ein blumiges Bouquet warf der Kellner einen Blumenstrauß in den Wein. Oder man furzte mal kräftig auf einen Pfannkuchen, wenn man ihn flambieren wollte. Während Armin vom Schwalbenacker und Zweistiefel aßen, flog die gute Speise in alle Richtungen. Marmel staunte, wie weit der Ritter einen Fischkopf spucken konnte. Sattel schwebte um den Tisch herum, er suchte die Essensreste, schmatzte über ihnen und ließ die Reste verschwinden. Auf seine Weise aß jeder, bis er satt war. Zweistiefel und Armin sah man den gefüllten Bauch sehr deutlich an. Der Ritter rülpste, sein Knappe lümmelte sich kugelrund auf dem Stuhl. Der Schamane tupfte sich vornehm mit einer Stoffserviette den Mund ab, im Kamin knisterte gemütlich das Feuer und Marmel fühlte sich viel wohler. Sie baumelte mit den Beinen und wunderte sich über die komische Inneneinrichtung. Die Möbel waren edel und antik, wie für einen Festsaal gemacht. Wie auch das protzige Tierfell vor dem Kamin, die goldgerahmten Gemälde an den Wänden, allesamt zeigten sie Gesichter von gut frisierten Leuten. In einer Ecke wachte eine polierte Ritterrüstung.

Zwischen den Bildern hingen bunt bemalte Masken, Tafeln, an die Käfer und Schmetterlinge gepinnt waren, neben der Rüstung stand ein mannshohes Steingesicht, das zu einem Totempfahl blickte. Fleischfressende Pflanzen mit Mäulern, so groß wie Löwenköpfe, dekorierten den Raum, und auf dem Kaminsims ruhte ein Schrumpfkopf. Versonnen lutschte Marmel den Schokoladenpudding vom Löffel und betrachtete die seltsamen Gegenstände.

»Danke für das Essen Herr Leopold, das war lecker. Das Kaminzimmer sieht wirklich toll aus. Wo kommen all die Dinge her? Bist du nun ein Graf oder ein Schamane und warum wohnst du in einem Keller?«, fragte sie.

»Vielen Dank, vielen Dank, du bist wundervoll freundlich. Betrachte die Mahlzeit als Stärkungsmittel«, strahlte Leopold. »Du stellst gute Fragen, wo soll ich da nur anfangen? Zuerst bin ich Graf, neun Riesenlatschen Land sind mein Eigen und dies sind die Kellergewölbe meiner Burg. Eines Tages hörte ich von den fernen Nebeltälern. Ich reiste dorthin, um sie zu erforschen. Ich muss sagen, ein sehr interessantes Gebiet. Ich habe viele Mitbringsel für meine Burg gefunden und in einem Tal traf ich einen Schamanen. Ich war lange Zeit sein Gast, und ich lernte von ihm, bis ich selber ein Schamane war. Nachdem ich alle Nebeltäler erkundet hatte, kehrte ich heim. Doch meine geliebte Burg war wie vom Erdboden verschwunden. Alles ist weg, ich suche heute noch das Silberbesteck. Weißt du, es ist ein altes Erbstück. Ich bin mir sicher, das Besteck liegt irgendwo im Verlies. Wenn ich es nur finden würde. Deshalb wohne ich im Keller, damit ich das Silberbesteck jederzeit suchen kann.«

Zweistiefel murrte leise:

»Ja, und nach der Burg hat er seinen Verstand verloren.«

»Nun werde Er nicht frech«, brummte Armin vom Schwalbenacker und schüttelte mahnend einen Hühnerknochen. »Es war ein trauriger Tag für Leopold, als er den oberen Teil seiner Burg verlor. Knappe, Er weiß nicht, was geschehen ist. Ich erzähle es Ihm. Während Leopold auf Reisen war, hat sich ein Wampil in der Burg eingenistet. Weil dieser Wampil unten im Dorf Blutwurst und rohes Fleisch klaute, stürmte ein wütender Mob die Burg.« Armin bemerkte Zweistiefels scheelen Seitenblick. »Nun schau Er nicht so dumm drein. Ich rede nicht von einem Wischmopp. Ich rede von einer wütenden Menschenmenge, mit Mistgabeln und Fackeln, die alles zerschlägt. Der Mob suchte den Wampil und dabei zerstörte er die Burg. Was dann geschah, weiß Er sicher.«

»Ja, das weiß ich. Zwei Tage später fraß sich ein Lindwurm durch die letzten, stehenden Außenmauern«, nickte Zweistiefel.

Marmel blinzelte verwirrt, dem Gebäude waren die seltsamsten Dinge zugestoßen. Deshalb gab es also zwei gigantische Löcher in den Mauerresten der Ruine.

»Du tust mir fürchterlich leid, Herr Leopold. Das musste schlimm für dich gewesen sein, als du die Burg und all deine Sachen verloren hast«, sagte sie.

Der Schamane winkte ab, seine Stimme war betrübt.

»Danke für dein Mitgefühl. Aber nein, nein, der Schmerz über den Verlust hat nachgelassen. Mein Silberbesteck verlor ich vor langer Zeit.« Als er fortfuhr, sprach er wieder munter. »Aber ich gebe nicht auf, Marmel. Ich werde das Besteck wiederfinden. Darf ich fragen, welche Art Kleidung du da trägst?«

»Das ist ein Schlafanzug. Bevor ich plötzlich in diesem Drachengebirge war, lag ich Zuhause in meinem Bett und wollte einschlafen«, erklärte Marmel.

»Na so etwas, na so etwas, bist du dir sicher, dass du keinen Reiseanzug trägst?«, fragte der Schamane.

Marmel schüttelte kräftig den Kopf.

»Nein, das ist kein Reiseanzug. Ich trage ganz sicher einen Schlafanzug.«

Der Schamane nestelte am weißen Haar des Spazierstocks.

»Mir ist bisher gar nicht aufgefallen, wie dünn du angezogen bist. Wenn ich mich recht erinnere, liegen in der Kleidertruhe die alten Kindersachen meines Neffen. Ich schenke sie dir mit Freuden und danach könnte ich dir dein Gehirnstück zeigen. Was meinst du dazu, Marmel?«

Marmel meinte, dass sie die warmen Anziehsachen gut gebrauchen konnte. Aber auf die Hirnbesichtigung verzichtete sie dankend.

Am frühen Abend spielten Armin vom Schwalbenacker und Graf Leopold von Leafburgh im Kaminzimmer Karten. Sattel hatte das Gewölbe verlassen und auch Marmel wollte nach draußen. Sie wankte in der alten, aber für sie neuen Kleidung die Stufen der Kellertreppe hoch. Ihr gefielen die abgetragenen Sachen des Neffen. Am besten waren die Stiefel, sie waren gewachst und fast wie Gummistiefel. Wasserdichte Stiefel waren die tollste Erfindung der Welt, dicht gefolgt von Murmeln. Marmel wollte die Beinahe-Gummistiefel gleich ausprobieren. Obwohl ihr der Schamane empfahl, sie solle zwei Tage im Bett bleiben.

Der Wasserfall, der aus einem Loch im Burgfundament stürzte, war die Quelle eines Flusses. Das Gewässer eignete sich prima als Testgebiet für die neuen Stiefel.

Im düsteren Gang der Gewölbetreppe tastete sich Marmel an der Wand entlang. Sie spürte raue Holzbretter, drückte die Falltür hoch und kletterte aus der Luke. Marmel richtete sich auf, und sie klopfte sich nicht die Hose ab. Zweistiefel hatte ihr gutes Benehmen beigebracht, wie es auf Jagomus galt. Auf der anderen Seite der Klappe hörte sie Jalbert knarzen.

»Hier kummst du net raus!«

»Hallo Jalbert. Ich bin schon draußen«, lachte Marmel und ließ die Klappe zufallen, die dabei laut auf den Boden knallte.

»He, bitte etwas gefühlvoller. Das ist keine Panzertür! Na gut, du bist schon draußen. Lach nur, das nächste Mal bin ich schneller«, meckerte der Holzkopf in der Falltür, dann grinste er breit. »Grüß dich Marmel. Wie geht’s, wie steht’s? Bist du auf der Durchreise? Ich versteh dich, mit dem Schamanen hält es keiner lange aus. Seine ewige Suche nach dem Silberbesteck treibt jeden in den Wahnsinn.«

Marmel zog ihre Stupsnase kraus.

»Ne, der Schamane hat kein Silberbesteck gesucht. Er hat mir Kleider aus einer Truhe herausgesucht und ich bin nicht auf der Durchreise. Ich will die Stiefel ausprobieren.« Sie hob einen Fuß an und zeigte Jalbert den Stiefel.

»Mir ist aufgefallen, dass etwas an dir anders ist. Aber mir kam keine Idee, was es sein könnte. Hast du auch eine neue Frisur? Netter Schnitt, du siehst aus wie eine Fetzenfratze.« Jalbert knisterte und krächzte heiser. Als er Marmels finsteres Gesicht sah, krächzte er umso mehr. »Aber ist es nicht etwas kalt um die Ohren?«

Er freute sich so sehr über seinen eigenen Witz, dass er sich verschluckte und hustete. Marmel konnte nicht mitlachen. Sie fühlte sich wie eine Missgeburt, die verspottet wurde.

»Ja, natürlich ist mir kalt. Aber Herr Leopold hat mir etwas gegeben, damit meine Haare nachwachsen. Du wirst schon sehen.«

Mit gesenkten Augenbrauen wandte sie sich dem Zeltausgang zu, den sie nur durch einen glücklichen Zufall fand. Marmel stiefelte über den Hof, durch das bröselnde Tor, einen gewundenen Pfad zwischen saftigen Wiesen den Hügel herunter. Die Landschaft erschien ihr verwischt wie ein Aquarell. Sie blickte auf das graue Geröll vor ihren Füßen, das sie deutlich sah und folgte dem Weg, wie einer Brosamenspur. Marmel war beunruhigt, dass sie nach der Behandlung des Schamanen nicht viele Dinge auf einmal erkennen konnte. Trotzdem erreichte sie den Fluss. Auf der Uferböschung rannte sie fast gegen einen Baumstamm. Sie stützte sich mit den Händen am Stamm ab, um ihn zu umrunden. Das Ufer war mit jungen Bäumen gesäumt, deren Äste sachte über einem reißenden Strom schaukelten. Im Wasser sah sie schemenhaft eine pferdegroße Gestalt stapfen. Sie tauchte mit dem Kopf ein und spritzte mit Flügeln um sich wie ein Vogel.

Gespannt beobachtete Marmel das Wesen. Sie kniff die Augen zusammen und strengte sich unglaublich an, um es deutlicher zu sehen. Sie erkannte ein geflügeltes Drachentier. Es stand auf zwei Beinen und hatte an den Flügelspitzen Klauenhände. Seine nassen Schuppen schimmerten bläulich, der kräftige, grau-blaue Schnabel war kantig und unten breiter als oben, an ihm wuchs dunkelroter Flaum wie am Kinn eines Wikingers. Von seinem Kopf standen zwei spitze Hörner ab, die wie eine Nudel gedreht waren. Den Hals schmückte ein roter Federkranz. Auf seinem Rücken lag ein Sattel, der Sattel, auf dem Marmel zum Schamanen geritten war. So ein komisches Drachenhuhn trug Armins treuen Sattel? Ungläubig beugte Marmel sich weiter vor, die Baumrinde kratzte unter ihren Händen.

Plötzlich sträubte das Tier den roten Federkranz, mit seinem kräftigen Echsenschwanz klatschte es auf die Wasseroberfläche und blickte grimmig um sich.

Marmel drückte sich dicht an den Baum, erschrocken hielt sie die Luft an und hoffte ganz fest, dass das Drachenhuhn sie nicht entdeckt hatte.

Es knirschte böse mit den scharf gesägten Zacken am Schnabelrand. So, als würde es jeden Tag ein Kind verschlingen. Plötzlich blinkten in dem umher spritzenden Wasser kleine Lichtlein auf und umschwirrten das Drachenhuhn. Wie die Sternchen, die sie Zuhause gesehen hatte. Wenn sie ihr Glockenklingeln hören könnte, wären es ganz sicher die gleichen Lichter. Marmel lauschte angestrengt, der Wasserfall übertönte fast jedes Geräusch. Sie vernahm kein Klingeln, doch das Drachenhuhn verstand sie gut. Obwohl es flüsterte, klang seine tiefe Stimme überdeutlich durch das Getöse des Wasserfalls.

»Nicht einmal beim Baden hat man seine Ruhe vor euch Pins. Was sucht ihr hier?«

Einer der hellen Punkte zischte empor, er setzte sich auf den groben Schnabel des Drachenhuhns. Es sah aus, als ob es ihm etwas sagte.

»Barbaren Borek? Der gigantomanische Großwack, Börk der II, erwartet deinen Bericht zur Lage. Verbeuge dich vor seinem Diener und spreche nach dem Piepton, fiep«, quietschte das Sternchen, unhörbar für Marmel. Dann hörte Marmel wieder das vermeintliche Drachenhuhn sprechen.

»Ja, Barbaren Borek, der bin ich. Und du kannst dem gigantomanischen Großwack bestellen, dass ich den Ritter nicht weiter beobachten will. Sucht euch einen anderen, der euch erzählt, welche Monster er jagen will. Ich bin ein oslanischer Beißer und kein Kindermädchen für euch andere Monster«, grollte Borek. Er verbeugte sich nicht, wie der glühende Bote verlangt hatte.

Empört blitzte es aus der Mitte des Pins.

»Verbeug dich, verbeug dich. Nein, ich sehe keine Verbeugung. Barbaren Borek verbeugt sich nicht und er drückt sich vor seiner Aufgabe wie ein feiges Schuppenhuhn. Das erzähle ich allen Monstern und Magiegeschöpfen, fiep.«

Der Beißer schielte mit seinen gelben Augen auf das helle Pünktchen und er grunzte:

»He, ich bin kein feiges Schuppenhuhn. Ich gehöre zur Gattung der Schnappdrachen. Wenn ich wollte, könnte ich dich leicht in meiner Klaue zerquetschen.«

Eine kurze Pause trat ein, dann sagte das Lichtlein:

»Borek ist wohl mit Lindwürmern verwandt? Er unternimmt nichts gegen die Menschen, wie wir Kämpfer von der LIGA DER FREIEN ZAUBERHAFTIGEN. Börk, der II, führt uns FREIE ZAUBERHAFTIGE in eine gute Zukunft. Ohne Menschen. Solange es Menschen gibt, sind wir dem Untergang geweiht. Hast du vergessen, dass du auch ein Zauberhaftiger bist? Fiep.«

»Mit Lindwürmern sind wir Schnappdrachen auch nicht verwandt, das ist ein gemeines Gerücht. Natürlich weiß ich, dass ein Schnappdrache ein Zauberhaftiger ist. Armin vom Schwalbenacker verfolgte nur deshalb meine Spur bis zum Pferdeverleih. Und deswegen versteckte ich mich unsichtbar unter dem Sattel. Nicht um zu sehen, was er tut, damit ich es euch sagen kann. Mag sein, wir Zauberhaftige sind vom Aussterben bedroht, und wir müssen zusammenhalten. Aber mein scharfer Schnabel wird mir stumpf, wenn ich nur damit tratsche. Jetzt verschwindet, ihr Plagegeister. Mein Badewasser wird warm.« Der Beißer schüttelte das Lichtlein von seinem Schnabel. »Der gigantomanische Großwack kümmert mich nicht. Er ist nicht unser Urwesen. Das war Großwack Börk, der I, der Magie aus der Erde sprühte, bis an jedem Lebewesen auf Jagomus ein Zauber haftete. Seit der erste Großwack starb, werden wir immer weniger. Sein Sohn ist ein unfähiger Nachfolger. Börk, der II, hat die Kraft einer Seeschnecke und die Schlauheit einer Erbse. Er sitzt blöde in seiner Lavagrube und versprüht kein bisschen Magie. Wegen seiner Faulheit entstehen keine neuen Zauberhaftigen. Stattdessen werden Menschen geboren, weil es keine Magie in der Luft gibt. Die Bitte des zweiten Börks ist mir so viel wert wie ein feuchter Zwergenfurz. Wenn er Neuigkeiten erfahren will, dann soll er sich selber einen Sattel auf den Rücken schnallen.«

Der schwebende Lichtpunkt kicherte giftig.

»Eine feine Botschaft. So werde ich sie dem gigantomanischen Großwack überbringen. Oh, wird er wütend werden. Er wird dir die Flügel ausreißen, fiep.«

Steif legte der Beißer die Flügel an.

»Ach, er wird mir die Flügel ausreißen? Während er in der Höhle von Schlickschlack ist? Börk muss wirklich sehr elastisch sein.«

Vom glühenden Punkt zischten grelle Funken und ein Licht nach dem anderen verpuffte zackig. Zurück blieb Barbaren Borek. Er stand reglos im unruhig dahinfließenden Strom. Die feine Gischt des Wasserfalls nieselte auf seine Schuppen und er schüttelte sich voller Unbehagen. Seine feinen Ohren zuckten, er bemerkte ein leises Kratzen am Ufer und wandte sich um. Dicht an einem Baum lehnte Marmel. Borek starrte sie verwundert an.

Marmel starrte zurück und fragte sich, wie ein Rülpser dem Schnappdrachen die Flügel ausreißen konnte und wieso ein Geräusch wie Börk in einer Höhle wohnte. Die Worte des Drachenhuhns erschienen ihr rätselhaft. Hätte sie doch das Leuchtpünktchen gehört, dann würde sie mehr begreifen. Ein wenig verstand sie jedoch. Das Drachenhuhn war gar kein Drachenhuhn, es war ein oslanischer Beißer von der Gattung der Schnappdrachen und hieß Barbaren Borek. Obwohl er viel Ähnlichkeit mit einem Drachenhuhn hatte, beschloss sie, ihn nicht mehr so zu nennen. Denn der Beißer schien sehr empfindlich zu sein. Über die Spitznamen „Schuppenhuhn“ und „Lindwurm“ hatte er lautstark geschimpft. Diesen zweiten Großwack konnte er offenbar auch nicht gut leiden. Über ihn hatte er viel lauter geschimpft. Der Großwack musste eine Art König sein und gleichzeitig erschuf er alle Zauberwesen. Sein Thronfolger schien kein guter Großwack zu sein, so sehr wie sich Borek über ihn beschwert hatte. Aber wieso nannten sie sich Zauberhaftige? Marmel grübelte. Vielleicht, weil an ihnen Zauberei haftete. Und sie fühlten sich wohl von den Menschen auf Jagomus bedroht. Denn sie bildeten eine Liga, die Menschen ausspionierte. Es klang so, als ob Borek keine Lust dazu hatte. Er wollte den Ritter Armin vom Schwalbenacker nicht mehr beobachten. Marmel meinte, dass sie geradewegs in eine Agentengeschichte hineingerutscht war. Barbaren Borek tat ihr sehr leid. Er steckte in einer gemeinen Zwickmühle. Die anderen Zauberhaftigen erwarteten, dass er die Pläne des Ritters verriet. Gleichzeitig gab ihm Herr vom Schwalbenacker gutes Essen und eine schöne Unterkunft.

Plötzlich knackten hinter ihr Zweige und Stiefel traten gegen Baumwurzeln. Nur Zweistiefel konnte derartig geräuschvoll laufen. Marmel meinte in den gelben Augen des Beißers ein eindringliches Bitten zu sehen. Sie lächelte ihn an und nickte, wortlos schloss sie einen Pakt mit Barbaren Borek. Niemals würde sie sein Geheimnis verraten. Die Miene des Beißers entspannte sich, seine Gestalt verflüchtigte sich und wie zuvor sah Marmel nur den Sattel in der Luft schweben. Borek machte sich keinen Augenblick zu spät unsichtbar.

Kurz darauf purzelte Zweistiefel aus dem Gebüsch. Der Knappe rieb sich den Hintern und stöhnte.

»Auweh, die Wildnis am Fuße des Hügels ist gefährlicher als jede Ungeheuerhöhle. Marmel, wie bist du nur zum Fluss gekommen ohne dir den Hals zu brechen?«

Verdutzt schaute Marmel ihn an und gluckste:

»Na so wie du, zu Fuß.«

»Du bist zu Fuß gegangen, wer hätte das gedacht. Ich habe eine Neuigkeit, die dich überraschen wird. Das Abendbrot steht auf dem Tisch. Darf ich dich zur Burg geleiten, schlaues Mädchen?«

Zweistiefel verbeugte sich frech und Marmel lachte. Sie war froh, dass sie sich nicht alleine durchs Gebüsch tasten musste. Der Knappe bog die Äste vor ihr zur Seite, sie kamen schnell voran, verließen das Gestrüpp um das Flussufer. Auf dem steinigen Weg zur Burgruine sagte der Knappe:

»Wolltest du nicht deine Stiefel ausprobieren? Ich finde, sie sehen sehr trocken aus.«

Zweistiefel hatte eine gute Frage gestellt, Marmel hoffte, dass sie eine ebenso gute Ausrede fand. Sie grübelte, suchte nach Worten, verwarf Ideen, ersann neue Ausreden und dann meinte sie:

»Ich habe meine Stiefel nicht ausprobiert, damit das Wasser nicht zu warm wird.«

Hinter ihnen ertönte raues Gelächter, das von dem schwebenden Sattel ausging. Er folgte ihnen brav und alles schien wie immer zu sein.

»Verstehe, das Flusswasser soll nicht zu warm werden«, bemerkte Zweistiefel fachmännisch, als sie das Gewölbe betraten.

Bis auf den Holzkopf Jalbert versammelten sich alle um die reichlich gedeckte Tafel im Kaminzimmer. Das Feuer knisterte im Kamin und verbreitete eine behagliche Wärme. In den Schüsseln auf dem Tisch duftete das Essen, der Schamane zündete Kerzen in silbernen Leuchtern an, und eine fleischfressende Pflanze gurgelte ein fröhliches Volkslied. Auf merkwürdige Art und Weise herrschte eine sehr gemütliche Stimmung. Marmel saß jedoch auf dem gepolsterten Lehnstuhl und rührte lustlos in ihrem Grießbrei. Sie seufzte traurig und dachte an Zuhause. Sogar ihre Zwillingsschwester Mareike vermisste sie.

Der schwebende Sattel drehte besorgt die Vorderseite in ihre Richtung. Marmel matschte weiterhin mit dem Holzlöffel bedrückt im Brei herum. Sie war still und behielt das Geheimnis seiner wirklichen Gestalt für sich. Beruhigt wandte sich der Sattel wieder seiner Schüssel voller rostiger Nägel zu. Aber ihm wollten die Nägel nicht mehr so recht schmecken. Auch Armin vom Schwalbenacker bemerkte, dass Marmel nichts aß. Ein halbes Schnitzel im Mund, schmatzte er:

»Schmeckt es Ihr nicht, oder ist Ihr nicht wohl?«

Graf Leopold von Leafburgh sprang auf und wuselte hektisch durch das Zimmer. Er schaute unter bissige Topfblumen, lugte hinter Bilder und edle Wandteppiche.

»Ich kenne etwas, das zu jeder Zeit schmackhaft ist. Krabbeldrops! Die Dose ist bis zum Rand voll. Was für ein Glück, nicht wahr?«

Aus der Ritterrüstung angelte der Schamane ein Paket aus großen Blättern hervor, er öffnete es und hielt es Marmel hin. Auf dem Pflanzenteller lagen weiche Schokoladenbrocken, dünne Käferbeine ragten aus der Schokolade und wackelten in der Luft.

Marmel zog die Nase kraus und stupste ein Käferbein an.

»In den Drops stecken Käfer.«

»Ja, ist das nicht toll? Die Käfer waren meine Idee. Sie machen die Krabbeldrops viel spannender. Man weiß nie, wohin der Drop läuft, und es kribbelt schön auf der Zunge. Greif zu, Marmel. Du darfst dir so viel nehmen wie du willst.«

Marmel schüttelte heftig den Kopf. Sie wollte nicht mit Krabbelkäfern in Schokolade spielen. Sie wollte die Drops nicht über den Tisch flitzen lassen oder herausfinden, wie sie die Käfer von der Schokolade befreien konnte.

»Nein. Danke. Ich mag nichts essen, Herr Leopold. Ich will nach Hause«, schniefte sie.

»Da siehst du es Leopold, sie will keine Schokolade, sie will nach Hause!«, polterte der Ritter. »Sei unbesorgt, Mädchen. Ich und mein treuer Knappe werden losziehen und das Land nach einer Weisen absuchen. Sei frohen Mutes, auf Jagomus wimmeln die Weisen wie die Ameisen herum. Eine von ihnen wird wissen, wie Sie nach Hause kommt, Marmel. Morgen in aller Frühe werde ich mit meinem Knappen aufbrechen, und ich werde nicht ohne eine Weise zurückkehren. Das schwöre ich Ihr bei meiner Ehre, als Ritter Armin vom Schwalbenacker.«

Er klopfte mit der Faust kräftig auf die gewölbte Rüstung, dass ein dumpfer Knall ertönte und unter dem knackfesten Eierbrot sein Bauch wabbelte.

Marmel wischte sich mit dem Hemdsärmel durch das feuchte Gesicht, sie lächelte dankbar und ihre dunklen Augen strahlten. Nun war der Grießbrei wieder lecker, und mit einem gut gefüllten Magen schlüpfte sie ins Bett. Dass das Schlafzimmer gleichzeitig eine Vorratskammer war, wäre ein Grund gewesen, um nicht zu schlafen. Der schwitzende Käse stank im Regal vor sich hin, in der Dunkelheit pendelten die Schinken wie fette Geister an der Decke, in einer Getreidekiste knabberten Mäuse am Korn. Marmel fürchtete sich nicht vor den gruseligen Schatten und unheimlichen Geräuschen, sie war voller Zuversicht. Bald würde sie wieder Zuhause sein, dort wo es keine verrückten Schamanen gab. Sie hörte etwas durch die Regale wuseln, ein Einmachglas fiel vom Regal, das Glas zersprang auf dem kalten Steinboden und die Scherben klirrten. Aber Marmel schlummerte friedlich ein.

Marmel Klebowski & das Geheimnis des Schrumpfkopfes

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