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Erster Teil

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„Ein Rad, Mariechen, schau ein Rad“, ruft Amalia, als sie ihrer Schwester ein Glas Wasser in den Gemüsegarten bringt. Marie sieht auf, fährt sich mit der Hand über ihre heiße Stirn, stolpert über den Kübel voll Bohnen, den sie soeben gepflückt hat, und läuft, so schnell sie kann, dem jungen Mann, der eben mit seinem Fahrrad vorbeifährt, hinterher. Dieses hat vorne ein großes und hinten ein kleineres Rad. Marie klatscht in die Hände, lacht und ruft dem Mann nach, der sie fröhlich zurückgrüßt. Sie bleibt stehen, streicht sich über die Augen und sieht den Fahrradfahrer um die Ecke verschwinden.

Ein Rad, noch nie hat sie ein Rad gesehen.

Sie kommt in den Garten zurück und sagt zu ihrer Schwester: „Du, Amalia, ich möchte auch einmal so ein Rad haben. Da kommt man viel schneller voran und lustig ist das Radfahren sicher auch noch dazu. Wie schnell sich die Räder drehen! Sobald ich selber ein Geld verdiene, werde ich mir eines kaufen.“

Noch kann sie nicht ahnen, wohin sie einmal die ratternden Räder eines Zuges bringen werden. Ihre kleine Welt ist noch heil.

Die Mama kommt bei der Haustüre heraus und ruft: „Mariechen, was machst du denn, bist du nicht beim Bohnenpflücken?“

„Doch, Mama, entschuldige, ein Mann ist soeben mit einem Fahrrad vorbeigefahren. Mama, ein richtiges Rad, das sich bewegt. So eines möchte ich auch!“

„Ach, Mariechen“, seufzt die Mama, „ein Rad kostet viel Geld. Du weißt, wir müssen sparen, komm jetzt, komm, es ist Mittagszeit.“

Marie läuft mit ihrer Schwester Amalia ins Haus. Ihre Schwester Gertrud kommt aus der Waschküche. Die Mama zerrt die kleineren Brüder Wilhelm und Franz zum Wassertrog. „Wascht euch die Hände, ihr Lausbuben. Wo habt ihr nur wieder gesteckt?“

Maries älteste Geschwister Elisabeth und August sind bereits im Dienst. Auch der Vater kommt nicht zum Mittagessen. Er arbeitet bei den Westfälischen Kalkwerken als Maschinist bei der Werkskleinbahn.

Alle anderen setzen sich jetzt um den Tisch. Marie greift zu einem Gebetbuch in der Ecke, streicht zärtlich über den Umschlag und schlägt ein Gebet auf. Die Mama und die Geschwister falten ihre Hände und hören auf Maries eindringliche Stimme. Danach steht die Mama auf, holt die Schüssel mit dem Essen, schüttelt leicht ihren Kopf und denkt bei sich: „Was wird wohl einmal aus diesem Mädchen werden?“

Doch Marie weiß dies bereits. Vier Monate zuvor, am 14. April 1912, ging sie zur Erstkommunion. Das war ein Fest! Am Vorabend hatte ihr die Mama mit der Brennschere Stopsellocken gemacht, die sie für die Nacht mit einem Haarnetz schützte. Als dann am Morgen der Zug der Erstkommunionkinder von der Schule in die Kirche ging, leuchteten Maries kupferrote Haare besonders schön in der Morgensonne. Die Musikkapelle spielte, Marie klopfte ihr Herz, denn Jesus im Brot zu empfangen, war das bisher größte Geschenk in ihrem Leben.

Als sie von der Kommunion in ihre Bank zurückkommt und die Hände vor das Gesicht schlägt, bittet sie Jesus: „Bitte, bitte, schenk mir die Gnade, dass ich Ordensschwester werden kann.“ Ihr Herz ist so übervoll, dass sie diese Bitte ihrer um sechs Jahre älteren Schwester Elisabeth anvertraut.

Nach dem Essen läuft Marie schnell in die Kammer, die sie mit ihren Schwestern teilt, und kniet sich vor dem kleinen Altar auf ihrer Kommode, den sie seit ihrer Erstkommunion immer mit frischen Blumen schmückt, hin und sagt: „Jesus, ich weiß, dass du immer bei mir bist, ganz gleich was ich mache. Wir sind wie zwei Wassertropfen, die im Meer deiner großen Liebe ineinander aufgehen.“

Schnell wirft sie noch einen Blick auf das Marienbild, das sie bei der letzten Wallfahrt nach Kohlhagen, die sie mit ihrer Familie im Mai gemacht hat, bekommen hat. Maria und Jesus, das sind ihre zwei Verbündeten, von denen sie sich beschützt fühlt.

22 Jahre später möchte Marie ihre Liebe zu Jesus ihrem Lieblingsneffen Werner mit auf seinen Weg geben und schreibt am 3. April 1934 vom Kloster in Mötz ein Gedicht für ihn, in dem es unter anderem heißt:

„Ach könnte doch dein Kinderherz erfassen, das große Glück,

nie würdest deinen Heiland du verlassen!

Nie würdest deinen Heiland du betrüben,

nie deine Seel mit einer Sünd beflecken! (Brief 2)

Und geh mit offnem Herzen deinem Heiland so entgegen,

und bitt ihn recht, er möcht dich ganz sein Eigen nennen!

Schließ auch in dein Gebet all deine Lieben,

flecht auch ein kurz Gedenken meiner mit hinein,

denn Kinderherzchen nie vergebens flehen,

wenn sie vertrauensvoll zum Heiland gehen.“ (Brief 2)

Die Schlussstrophe heißt:

„Fest hab ich’s mir vorgenommen,

in den Himmel muss ich kommen!

Mag es kosten, was es will,

für den Himmel ist mir nichts zu viel!“ (Brief 3)1

Am Abend, als alle Bohnen geputzt und zum Konservieren vorbereitet sind, braut sich ein Gewitter zusammen. Die ersten Regentropfen fallen. Marie sieht ihren Vater in seinem Arbeitsgewand und den kalkigen Schuhen mit schnellen Schritten auf das Haus zukommen. Sie öffnet ihrem Vater die Tür und ruft:

„Papa, ich habe heute einen Mann auf einem Fahrrad gesehen. Wenn ich Geld verdiene, kaufe ich dir eines. Dann kommst du schneller heim und wirst nicht so nass wie heute.“

„Ach Mariechen, du denkst immer zuerst an die anderen. Jetzt werde einmal erwachsen, dann sehen wir weiter.“

Nach einem einfachen Abendessen beten alle gemeinsam den Rosenkranz. Wilhelm und Franz stoßen sich ab und zu gegenseitig, doch niemand weist sie zurecht. Buben sind eben Buben und können noch nicht so lange stillhalten. Vor dem Zubettgehen hört Marie, was der Vater zur Mama sagt:

„Weißt du, Amalia, es geht uns eigentlich recht gut. Ich habe Arbeit. Du hast zwar mit den Kindern sehr viel zu tun, doch die Größeren helfen schon fleißig mit. Besonders Marie ist immer sehr aufmerksam.“

„Ja, August, das stimmt. Manches Mal frage ich mich, was wohl aus ihr werden wird. Sie ist empfindsamer als die anderen, vor allem, wenn es um religiöse Dinge geht. Ich bin immer wieder erstaunt, wie selbstverständlich sie auf Gott vertraut.“

„Ja, darauf müssen wir auch wieder mehr vertrauen. Ich glaube, dass schwierige Zeiten auf uns zukommen. Wo ich auch hinkomme, höre ich Schlagwörter wie:

‚Kampf um Lebensraum‘, ‚Kampf um eine nationale Existenz‘. Die Deutschen wollen expandieren und unser Kaiser Wilhelm unterstützt dies noch. Wenn das nur nicht zu einem Krieg führt.“

Marie klopft das Herz bis zum Hals. Sie läuft in ihre Kammer, kriecht unter ihre Bettdecke und betet, bis sie einschläft.

„Macht es gut, Kinder“, ruft die Mama ihren fünf Kindern nach, die sich nach dem langen Sommer auf den Schulweg machen. Ein eigenartiges Gefühl beschleicht sie, als sie sieht, dass Marie den kleinen Franz an der Hand hält. Nun ist auch ihr Jüngster in der Schule. Sie geht zurück ins Haus, das auf einmal so still ist, und räumt den Tisch ab. Plötzlich wird ihr schwindlig. Sie muss sich hinsetzen. Eine Schwäche überkommt sie. Ein paar Tränen rollen ihr über die Wangen. Es ist, als ob sie sich heute zum ersten Mal eingestehen kann, dass sie erschöpft ist. Sieben Kinder in elf Jahren haben an ihrer Substanz gezehrt. Auch wenn sie froh ist, dass nun alle Kinder „aus dem Ärgsten draußen sind“, wie man im Volksmund sagt, überkommt sie heute ein eigenartiger Schmerz. Sie spürt, dass sie die Kinder nicht halten kann, dass sie ihre eigenen Wege finden müssen. Die unruhige politische Lage macht ihr ebenfalls Sorgen. Die Männer diskutieren im nahen Gasthaus viel lauter und aggressiver als noch vor kurzer Zeit. Wenn nur kein Krieg kommt!

Sie gibt sich einen Ruck, steht auf und macht sich an die Arbeit.

Inzwischen haben die Kinder den Schulhof erreicht. Marie übergibt der Lehrerin der ersten Klasse ihren kleinen Bruder Franz, der noch etwas verängstigt in die Klasse hineinschaut.

„Du brauchst keine Angst zu haben“, sagt Marie. „Ich hole dich nach der Schule wieder hier ab.“

Die Schülerinnen und Schüler der siebten Schulstufe begrüßen einander lautstark. Marie fragt ein paar Buben: „Hat jemand von euch auch im Sommer den Fahrradfahrer gesehen?“ Ein Bub antwortet lachend: „Ja. Sobald ich selber ein Geld verdiene, kaufe ich mir auch ein Fahrrad.“ Marie lächelt und sagt: „Ich auch!“

Jahre später werden diese zwei öfters miteinander eine Radtour machen und der inzwischen erwachsen gewordene Bub wird Marie den Hof machen.

Der Lehrer macht die Kinder aufmerksam, dass in diesem Schuljahr die Vorbereitung für das Sakrament der Firmung stattfindet. Marie spürt ihr Herz klopfen. Auch wenn sie die anderen Fächer gerne mag, so ist ihr doch Religion am liebsten. Sie sehnt sich danach, durch die Geistkraft Gottes gestärkt zu werden. Für sie ist die Verbindung von oben nach unten und von unten nach oben etwas ganz Natürliches. Heute würde man sagen, oben und unten sind eins. Ein Jahr später, am 12. September 1913, dem Fest Mariä Namen, ist im Hause Autsch schon am frühen Morgen viel los. Marie, Amalia, Gertrud und Wilhelm ziehen sich ihr bestes Gewand an. Die Mama hat am Vorabend den Mädchen wieder Locken mit der Brennschere gemacht. Bei allen fallen die Haare heute wunderschön. Der Vater steht bereits mit dem Pferdefuhrwerk vor dem Haus und ruft: „Kinder, seid ihr endlich fertig? Wir müssen fahren!“

Die vier Firmlinge laufen aus dem Haus, winken der Mama in der Haustüre, steigen in den Wagen und fahren los. Seit ihrer Erstkommunion waren sie nicht mehr in Schönholthausen, der Mutterpfarre der umliegenden kleinen Gemeinden.

Was ist das für sie eine Aufregung, mit den vielen Kindern in der Kirche zu sitzen. Und dann der Höhepunkt! Dem Bischof von Paderborn wird die Bischofsmütze aufgesetzt. Er nimmt den Bischofsstab und spendet dann jedem einzelnen Kind durch eine Berührung seiner Hand an der Wange des Kindes das Sakrament der Firmung. Marie spürt förmlich, wie die Geistkraft sie erfüllt. Als dann anschließend die ganze Gemeinde „Großer Gott, wir loben dich …“ miteinander singt, ist für Augenblicke für alle der Himmel offen.


104 Jahre später, im Oktober 2017, bei der Gedenkmesse für Schwester Angela Autsch, machen die GottesdienstbesucherInnen wieder eine ähnliche Erfahrung.

Langsam füllt sich die Kirche St. Nikolaus in Innsbruck. Eine besondere Spannung liegt in der Luft. Heute wird im Gedenken an Schwester Angela Autsch die „Erdwärtsmesse“ gefeiert. Der Tiroler Komponist Peter Jan Marthé hat diese Messe komponiert. Gefeiert wird mit dem ehemaligen Erzbischof von Salzburg, Alois Kothgasser. Frauen und Männer aus der Diözese Innsbruck tragen mit Texten zum Gelingen dieses Gottesdienstes bei. Ich knie mich neben eine geistliche Schwester und frage sie, wer sie ist.

„Ich bin Schwester Evangelista aus Mödling, auch eine Trinitarierin wie Schwester Angela Autsch.“

Ich lächle und sage ihr, dass ich sie und die anderen Schwestern in Mödling besuchen möchte, weil ich einen Roman über das Leben von Schwester Angela Autsch schreiben werde. Sie nickt, ein Händedruck, die Orgel braust auf. Die Menschen stehen auf, im Mittelschiff kommen von hinten die Ministrantinnen und Ministranten, die Mitzelebranten und zum Schluss der Bischof mit Hirtenstab und Bischofsmütze am Haupt.

Barbara – ihr Name bedeutet „die Fremde“ – begrüßt alle Anwesenden. Sie ist wirklich eine Fremde im noch immer nur von Männern beanspruchten Altarraum. Sie stammt aus Mötz und hat sich ganz besonders für das Wiedererwachen der Erinnerung an Schwester Angela Autsch eingesetzt und mit großem Einsatz diesen Gottesdienst koordiniert.

„Kommt, singt dem Herrn ein neues Lied, preist ihn, der uns geladen …“, beginnt der Chor das erste Lied und mit hundertfachen Kehlen stimmen die Menschen mit ein, lassen den Alltag hinter sich, lassen sich mittragen von den Klängen der Instrumente. Das gesprochene Wort am Altar gibt die nötige Erdung, dass die Menschen nicht mit Flügeln emporgehoben werden. Irgendwann vor der Kommunion, dem Zentrum christlicher Gemeinschaft, während der Chor singt, heißt es: „Wer mich liebt, der bleibt in mir und ich in ihm“, ich dichte noch schnell dazu „und auch in ihr“. In diesem Moment bricht ein Sonnenstrahl in den Kirchenraum. Die Fenster glänzen noch bunter, die Menschen singen noch inbrünstiger. Es ist, als ob Schwester Angela auf diese Weise ihr Lächeln über Raum und Zeit hinweg erdwärts senden würde. Für einen Augenblick ist die Trennlinie zwischen Wissen und Glauben aufgehoben, für kurze Zeit ist alles eins. Am Abend schreibe ich dem Komponisten und dem Chor einen Text zur Erdwärtsmesse:

Angela Autsch

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