Читать книгу Angela Autsch - Annemarie Regensburger - Страница 8

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Herr Brögger stellt Marie seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vor und sagt:

„Das Fräulein Marie fängt heute bei uns die Verkäuferinnenlehre an. Ich bitte Sie, ihr wohlwollend zur Seite zu stehen und ihr alle notwendigen Dinge zu erklären. Sie war ein halbes Jahr zur vollsten Zufriedenheit unser Kindermädchen. Also, viel Glück bei uns, Marie!“

Die Mitarbeitenden reichen Marie die Hand. Mit ihrem warmen Lächeln findet sie sofort Zutrauen. Eine langjährige Mitarbeiterin führt sie durch das Geschäft und die Lagerräume. Marie ist überrascht von der Größe des Betriebes. Noch nie hat sie so viele Kleider und Anzüge gesehen.

Eine spannende Zeit beginnt. Durch ihr liebenswertes, fröhliches Wesen ist sie sowohl bei Kolleginnen und Kollegen als auch bei der Kundschaft beliebt.

Marie freut sich jeden Tag auf die Mittagszeit. Theresia empfängt sie bereits an der Wohnungstüre und erzählt Marie ihre Fortschritte, aber auch ihre kleineren und größeren Probleme mit ihren Freundinnen. Auch Theresias kleinere Geschwister machen ihre Späße mit Marie. Bald streckt ihr auch das Baby seine Ärmchen entgegen.

Gegen Ende ihrer Lehrzeit erfüllt sich Marie ihren lang gehegten Wunsch und kauft sich ein Fahrrad. Laut singend fährt sie am Abend von Finnentrop nach Bamenohl. Ihre zwei jüngeren Brüder, die inzwischen 17 und 13 Jahre alt sind, sehen Marie schon von weitem und laufen ihr entgegen. Das ist ein Hallo! Gleich wollen sie das Radfahren ausprobieren. Doch Wilhelm stürzt mit dem Fahrrad und schürft sich die Hände auf. Auch bei Franz gelingt das Fahren nicht sofort. Lachend kommen alle drei zum Haus. Inzwischen ist Amalia ebenfalls im Dienst. Nur Gertrud ist daheim geblieben, da sich Mamas Gesundheitszustand immer mehr verschlechtert hat.

Beide kommen vors Haus und bewundern das Fahrrad von Marie.

„Stellt euch vor, Herr Brögger hat mir die Hälfte bezahlt, weil ich trotz meines Berufes immer bei seinen Kindern aushelfe und ihnen, bevor ich heimfahre, Geschichten erzähle“, sprudelt es aus Marie heraus.

Inzwischen ist Frau Brögger mit dem fünften Kind schwanger. Auch wenn es am Abend bei der Familie noch viel zu tun gäbe, nimmt sich Marie vor, jetzt mit dem Rad früher nach Hause zu kommen, und sagt das auch Mama und Gertrud.

Die Mama schüttelt zweifelnd den Kopf.

„Mama, was ist?“, fragt Marie.

„Der Vater kommt jetzt bald nach Hause und will mit uns reden.“

Fast wäre die Freude über Maries neues Fahrrad verflogen, denn alle spüren, dass es etwas Ernstes sein muss, was der Vater zu besprechen hat. Marie wagt noch eine Frage:

„Mama, ist etwas mit August?“

Die Mama schüttelt den Kopf und wischt sich ein paar Tränen aus den Augen.

Inzwischen sind die großen Schwestern und der Vater von der Arbeit heimgekommen. Ein betretenes Schweigen macht sich um den Küchentisch breit. Nach dem gemeinsamen Tischgebet und dem einfachen Abendessen räuspert sich der Vater und sagt:

„Ihr wisst, dass der Steinbruch bereits seit zwei Jahren offiziell geschlossen ist und ich trotzdem bis jetzt weiter dort arbeiten konnte. Doch nun ist es damit vorbei. Durch den langen Krieg gibt es praktisch keine Aufträge mehr und die Firma wird nun ganz geschlossen. Die Mitarbeiter werden alle abgebaut.“ Der Vater kämpft mit den Tränen, als er sagt:

„Wir müssen bis Anfang April unser Haus aufgeben und wir werden nach Heinsberg ziehen.“

„Aber warum müssen wir so weit wegziehen?“, rufen alle durcheinander.

Die Mama mischt sich ins Gespräch ein und sagt:

„Ihr wisst ja, dass ich von Heinsberg stamme. Wir haben dort auch schon ein paar Mal Verwandte besucht. In Heinsberg finden wir leichter eine Unterkunft und der Vater eine Arbeit.“

„Dann sehen wir uns nur noch an meinen freien Tagen“, wirft Elisabeth, die in Bamenohl arbeitet, ein.

„Und ich habe mir ein so schönes Fahrrad gekauft. Ich wollte damit jeden Morgen nach Finnentrop und am Abend wieder heimfahren“, sagt Marie traurig.

„Wir haben keine andere Wahl“, erwidert der Vater. „Ich habe mich bereits erkundigt und bekomme sehr wahrscheinlich bei der Bahn eine Arbeit. Eine Wohnung habe ich ebenfalls in Aussicht.“

Ein geschäftiger Monat beginnt. Durch die viele Arbeit, die das Auflösen des Haushaltes mit sich bringt, bleibt wenig Zeit für Traurigkeit. Marie kommt jeden Abend etwas früher mit dem Fahrrad heim und hilft beim Zusammenpacken. Schnell ist der 3. April 1918 da. Die Familie verabschiedet sich bei all den lieben Menschen, mit denen sie so viele Jahre im Dorf zusammenlebten. Bei den großen Töchtern fließen besonders viele Tränen, denn sie müssen sich von Freunden trennen, bei denen das eigene Herz auch ab und zu höherschlägt. Heinsberg ist für zärtliche Annäherungen zu weit entfernt.

Am Abend des nächsten Tags steht die Familie vor ihrer neuen Unterkunft. Es ist ein altes, strohbedecktes Bauernhaus ganz unten am Bach. Sozialer Aufstieg ist es keiner, denn im Haus wohnen noch zwei weitere Familien. Nach dem anfänglichen Schrecken der bereits erwachsenen Kinder über diese einfachen Wohnverhältnisse hält der 13-jährige Franz gleich Ausschau, ob es bei den zwei Familien auch Buben gibt. Doch bald lebt sich die Familie ein. Hauptsache ist, dass der Vater bei der Bahn untergekommen ist.

Am Wochenende kommt Marie zum ersten Mal mit dem Zug nach Heinsberg. Obwohl es schon Mitte April ist, ist es am Bach kühl, feucht und schattig.

„Mama, du musst hier sehr gut mit deinem Rheuma und deinen Herzproblemen auf dich aufpassen. Heize dir immer den Herd in der Küche ein“, sind die ersten Worte von Marie, als sie ihre schmächtige Mama sieht.

„Es geht schon, Marie. Wir können auf der Anhöhe einen Acker für den Gemüseanbau verwenden. Dort ist es sehr sonnig. Es wird mir guttun.“

Marie erzählt, dass sie bei einem Werkmeister der Firma Bischoff/Brögger ein Zimmer gemietet hat:

„Mama, dort gibt es auch zwei Mädchen. Sie sind sehr nett zu mir. Auch ihre Mama ist freundlich. Ich fühle mich sehr wohl.“

Marie verschweigt, dass sie nun abends nach der Arbeit wieder länger Frau Brögger hilft, denn nach der Geburt ihres fünften Kindes ist sie sehr geschwächt. Theresia braucht ebenfalls noch den Beistand von Marie, da sie als Älteste in der emotionalen Zuwendung oft zu kurz kommt. Wenn Marie am Wochenende nicht nach Heinsberg fährt, gönnt sie sich am Sonntag ab und zu eine Radtour rund um Finnentrop. Nach dem Sonntagsgottesdienst kann sie so für die Arbeitswoche auftanken.

An einem wolkenlosen Sommersonntag hört sie plötzlich eine Stimme hinter sich:

„Marie? Du bist doch Marie aus unserer Klasse. Schau, ich habe mir ebenfalls ein Fahrrad gekauft.“

Der junge Mann ist inzwischen neben Marie angekommen und lacht:

„Ja, klar. Du bist die Marie, du hast ein ganz schönes Tempo darauf.“

Beide begrüßen einander und lachen, weil sie sich ihren Kinderwunsch erfüllt haben. Eine Weile fahren sie lachend und schwatzend nebeneinander her. Bei einer Kreuzung trennen sich ihre Wege.

„Sehen wir uns wieder, Marie?“

„Ja, vielleicht. Es war eine feine Radfahrt mit dir.“

Dann, im Spätherbst, gibt es nur noch ein Thema in der Firma, in der Marie ihre Lehre absolviert, und zwar, dass der Krieg bald zu Ende sei. Auch ist bis Finnentrop durchgedrungen, dass die Marinesoldaten auf verschiedenen Schiffen den Aufstand proben und nicht mehr die Befehle ihrer Oberen ausführen wollen. Marie bekommt Angst um ihren Bruder und betet noch mehr als sonst, dass die Gottesmutter ihn und alle beschützen möge, damit nicht viele noch unnötig sterben müssen.

Am 11. 11. 1918 beendet der Waffenstillstand von Compiègne den Ersten Weltkrieg. Mit 17 Millionen geschätzten Toten war es bis dahin der tödlichste Konflikt aller Zeiten. Annähernd 70 Millionen Menschen standen unter Waffen. Allein im kleinen Dorf Bamenohl sind 35 Männer gefallen und viele kehren als Verwundete zurück. Welche seelischen Schäden die Kriegserlebnisse angerichtet haben, lässt sich wohl nicht erfassen. Auch konnten die Heimkehrer die Schande, dass der Krieg verloren war, nur schwer überwinden. Von „großer Not“ und „drückender Sorge“ schrieben die Zeitungen. Was Frauen und Kinder der Heimgekehrten ertragen mussten, bis wieder ein einigermaßen gutes Zusammenleben möglich war, steht in keiner Chronik.

Als August knapp vor Weihnachten heimkehrt, erzählt er seinen Freunden stundenlang von seinen Eindrücken beim Kieler Matrosenaufstand. Daheim redet er nur spärlich davon, denn er will vor allem die Mama nicht beunruhigen.

Der Kieler Matrosenaufstand fand kurz vor dem Ende des Ersten Weltkrieges statt. Auslösender Moment waren Befehlsverweigerungen auf einzelnen Schiffen der vor Wilhelmshaven ankernden Hochseeflotte. Etliche Matrosen und ihre Offiziere sahen den am 24. Oktober erlassenen Flottenbefehl, zu einer Entscheidungsschlacht gegen die britische Marine auszulaufen, als militärisch sinnlos an. Dies mündete in einer Meuterei mehrerer Schlachtschiffbesatzungen. Das Dritte Geschwader der Flotte wurde daraufhin nach Kiel zurückbeordert. In Kiel trat die Arbeiterschaft an die Seite der Matrosen. Es kam zu einem allgemeinen Aufstand. Von Kiel aus wurde der Impuls zur Ausbreitung der Unruhen gegeben, die dann zur Novemberrevolution und somit zum Ende der Monarchie in Deutschland und in Folge zur Errichtung der Weimarer Republik führten.2

Irgendwann erzählt August seiner Schwester Marie, zu der er immer noch ein großes Vertrauen hat, dass er auch zu den Befehlsverweigerern gehört hat. Marie antwortet ihm in der ihr eigenen einfachen und klaren Sprache:

„August, das war doch gut so. Sonst wären noch viele tausend Seeleute gestorben und vielleicht auch du.“

August ist dankbar über diese Worte von Marie, denn Befehlsverweigerung ist bei vielen, die zum Gehorsam gegenüber Vorgesetzten erzogen wurden, ein Verbrechen.

Die Jahre des Wiederaufbaus sind sehr schwierig. Die Firma Bischoff/Brögger übersteht aber die Wirtschaftskrise und Marie trägt in dieser Zeit sehr zum Unterhalt ihrer Familie bei. So oft es ihr möglich ist, fährt sie an den Wochenenden nach Heinsberg, um der Mama und Gertrud zu helfen. Dadurch, dass sie die Mutter nicht jeden Tag sieht, fällt ihr viel stärker auf, dass diese immer schwächer wird. Irgendwann bemerkt sie auch Mamas geschwollene Beine und macht ihren Vater darauf aufmerksam. Endlich begibt sich Amalia in ärztliche Behandlung und spürt eine leichte Besserung. So kann sie sich auch auf die Hochzeit ihrer ältesten Tochter Elisabeth mit Anton Balzer freuen. Es ist ein wunderbarer Tag, an dem die ganze Großfamilie bei der Hochzeit zusammenkommt. Inzwischen ist ja nicht nur August erwachsen, sondern auch alle vier Töchter. Die beiden Jüngsten Wilhelm und Franz sind 18 und 14 Jahre alt. Die Eltern sind dankbar, dass August gesund vom Krieg heimgekehrt ist und nun die älteste Tochter einen neuen Weg einschlägt. Am Abend, bei der Verabschiedung, sagt Marie zu ihrer Schwester:

„Du weißt ja, was ich dir an meinem Erstkommuniontag anvertraut habe. Doch ich habe mein Versprechen an Jesus noch nicht umgesetzt, aber ich weiß, dass ich nicht heiraten, sondern, wenn die Zeit dafür reif ist, ins Kloster gehen werde. Ich wünsche dir viel Glück und dass es dir mit Anton gutgeht.“


Zwei Wochen später fahre ich mit einer Freundin nach Mödling. Wir steigen vom Zug aus und rufen uns ein Taxi.

„Trinitarierinnenorden, hier in Mödling?“

Noch nie hat der Taxifahrer von diesem Orden gehört.

„Wollen Sie nach St. Gabriel?“

„Nein, zu den Trinitarierinnen. Drei Schwestern leben noch im Kloster.“

Irgendwann fällt uns ihre Anschrift ein: Husarentempelgasse 4.

„Ah, da hinaus wollen Sie fahren. Ja, diese Gegend kenne ich.“

Wir fahren bei schönen Villen vorbei, hinaus aus der Stadt. Herbstlich bunte Laubwälder säumen die Straße. Mödling ist Ende Oktober in Gold getaucht. Dann, ein offenes Tor, wir fahren die Auffahrt hinauf und stehen vor einem alten Ansitz, vermutlich noch aus der Kaiserzeit. Später erfahre ich, dass dieser wohlhabenden Juden gehört hat, die während der Nazizeit flüchten mussten. Nach dem Krieg wurde dieses Anwesen Gemeindebesitz, der später dem Trinitarierorden geschenkt wurde. Wir verabschieden uns beim Taxifahrer, betreten das Haus und gehen zur Auskunft.

Ein Mann um die 50 kommt. Er begleitet uns zu den Schwestern und sagt: „Ich wohne mit meiner Frau und den sechs Kindern hier und bin unter anderem der Hausmeister für die Schwestern.“

Auf einem Türschild neben der Haustüre steht „Trinitarierinnenorden“. Wir gehen hinein und gelangen praktisch unmittelbar in den Wohnraum der Schwestern und damit in eine andere Welt. Die Einfachheit rührt sofort an meiner Seele. Im Kohlenherd brennt ein Feuer. Im Raum ist es angenehm warm. Ein Tisch, eine Bank, vier Stühle, eine Kommode sind die ganze Einrichtung des Raumes. An den Wänden hängen Fotos, unter anderem von Besucherinnen aus aller Welt. Auf einem lächelt uns Schwester Angela verschmitzt entgegen. Vier Türen führen in andere Räume. Eine davon öffnet sich, Schwester Evangelista, die ich in Innsbruck kennengelernt habe, kommt herein und begrüßt uns. Gleich fühlen wir uns wohl. Sie bietet uns einen Platz an. Die Küchentür geht auf. Eine Schwester kommt auf uns zu. Ich merke sofort, dass sie die praktische Schwester ist. Ein nach vorne gebeugter Rücken spricht von jahrzehntelanger, harter Arbeit in Haus und Garten.

„Ah, ihr seid die zwei Tirolerinnen! Ich bin Schwester Felice. Wer von euch möchte denn einen Roman über Schwester Angela schreiben?“

Das Wort Roman klingt ziemlich zweifelnd. Ich lächle und sage, dass ich versuchen will, das Leben von Schwester Angela niederzuschreiben.

Sie blickt mich fragend an und sagt: „In einem Roman ist doch vieles nur erfunden, wird dies gut gehen?“

Ich sage ihr, dass ich mich an die Eckdaten halten und nur eine Erzählung rundherum spinnen werde. An ihrem skeptischen Blick spüre ich, dass ich mir ihre Zuneigung erst erwerben muss.

Nun zeigt uns Schwester Evangelista unsere Schlafstätte. Meine Freundin bekommt das Zimmer gleich neben der Küche. Die Schwester begleitet mich dann durch einen schmalen Gang in mein Zimmer. Alles ist sehr einfach eingerichtet. Ein paar Minuten bleibe ich alleine hier und nehme mir vor, mich ganz auf das Jetzt einzulassen.

Drei Schwestern, alle über 80, ein Leben lang gemeinsam gelebt. Schwester Evangelista, die jetzige Oberin, ist 1955 in den Orden eingetreten. Sie sagt, dass in Mötz, wo Schwester Angela im Orden war, sehr lange nicht über sie gesprochen wurde, da es in Mötz viele Nazis gab. Auch in Mödling wurde nicht über Schwester Angela geredet. Wie überall sollte Gras über diese schreckliche Zeit wachsen. Bis Anfang der Achtzigerjahre war Schwester Angela kein Thema.

1986 las die damalige Generaloberin Schwester Maria Nieves Perez aus Valencia anlässlich eines Besuches in Mödling die Lagerpost von Schwester Angela. Von ihr zur Nachforschung angeregt, machten sich Schwester Hermine und Schwester Felice auf die Suche nach Verwandten von Schwester Angela in Deutschland. In Tirol hat Dr. Peter Stöger schon sehr früh Nachforschungen begonnen.

Schwester Evangelista sagt, dass sie und Schwester Agnes von 1978 bis 1980 in der Erzieherinnenschule in Pfaffenhofen in Tirol waren. Peter Stöger unterrichtete damals in Pfaffenhofen. Später hat sogar eine Schülerin von ihm eine Diplomarbeit über Schwester Angela geschrieben.

Schwester Felice trat 1969 in den Orden ein. Sie war auch länger in Valencia, im Mutterhaus des Ordens tätig und hat auch ein bisschen von der guten spanischen Küche mit nach Mödling gebracht.

Nun mischt sich auch Schwester Agnes in unser Gespräch ein und fragt: „Was machen Sie hier bei uns?“

„Ich schreibe ein Buch über Schwester Angela.“

Sie beginnt zu lächeln und sagt: „Schwester Angela, unsere Schwester Angela. Jetzt gehe ich aber in mein Zimmer. Ich will Sie nicht länger belästigen.“

„Sie belästigen uns nicht, Schwester Agnes. Wenn es für Sie möglich ist, erzählen Sie uns auch noch ein bisschen, was Sie über Schwester Angela wissen.“

„Vielleicht morgen.“

Die zwei anderen Schwestern schütteln zweifelnd den Kopf.

„Schwester Agnes ist gesundheitlich sehr angeschlagen und ihr Gedächtnis hat seit vorigem Jahr stark nachgelassen.“

Schwester Evangelista erklärt uns die Fotos an der Wand. Auf einem Foto ist noch Schwester Carmen abgebildet. Sie war die Älteste in diesem Kloster und verstarb 2004. Auf einem anderen Foto lachen uns Schwestern aus Madagaskar entgegen. 25 von ihnen kümmern sich dort um die Ärmsten. Noch ein Foto zeigt Schwestern aus Kolumbien. In der Zwischenzeit gibt es mehr als 30 Gemeinschaften der Trinitarierinnen in verschiedenen Ländern.

„Seit wann gibt es diesen Frauenorden?“, frage ich dazwischen.

Zwischen 1880 und 1885 schlossen sich fünf junge Frauen unter der geistlichen Führung des Diözesanpriesters Juan Baptist Calvo in Valencia zusammen und gründeten die neue Schwesterngemeinschaft nach den Regeln des männlichen Ordensgründers der Trinitarier Johannes von Matha aus Frankreich.

Die wichtigste Regel lautet: „Alle haben teil an dem von Gott gegebenen Erbe und setzen Gottes Werk in der Geschichte fort. Es gilt, die heiligste Dreifaltigkeit zu ehren und Freiheit den Gefangenen unserer Zeit zu bringen.“

Die Trinitarierinnen gehen davon aus, dass Gott so lebensbejahend ist, dass jede Knechtung und Entwürdigung der Menschen Gottes Schöpfung und dem Glauben an Gott widerspricht.

Wenn Gott das volle Leben ist, ist es die logische Konsequenz, dass Menschen sich für ein Leben in Gerechtigkeit einsetzen. Die Trinitarierinnen sehen es als ihren besonderen Auftrag, sich für jene einzusetzen, die aufgrund von Opportunismus, Rassismus oder aus verschuldetem Unwissen ihrer Mitmenschen keine Chance auf ein menschenwürdiges Dasein bekommen.3

In der ersten Lebensregel von Valencia heißt es: „Die Schwestern widmen sich dem Unterricht für Kinder der unterprivilegierten Klasse, um den Armen die Frohe Botschaft zu verkünden, und ebenso der Pflege der Kranken. Sie wohnen Tür an Tür mit der arbeitenden Bevölkerung, halten Abendschule für Arbeiterinnen und Dienstmädchen.“4

Diesem Grundsatz der Schwestern von Valencia waren auch die Schwestern in Mödling bis zu ihrer Pensionierung verpflichtet.

Im Wohnraum prasselt angenehm das Feuer. Eine Caritasmitarbeiterin kommt, um Schwester Agnes die notwendigen Medikamente zu verabreichen. Bevor Schwester Felice wieder in die Küche zurückgeht, bestätigt sie uns noch, dass sie in den späten Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts mit Schwester Hermine nach Deutschland gefahren ist. Einmal fuhr sie an einem Tag 1000 km bis nach Recklinghausen. Dort blieben die zwei Schwestern eine Woche, um Interviews mit den Verwandten zu machen. Da die Aussagen von Neffen und Nichten später nicht immer korrekt in der Presse wiedergegeben wurden, kam es zu Verstimmungen zwischen den Schwestern und einigen Verwandten. Vor ein paar Jahren hat eine Verwandte doch noch einmal in Mödling angerufen und sich für ihr damaliges Verhalten entschuldigt. Dafür sind die Schwestern sehr dankbar.

Ich frage Schwester Evangelista, ob sie weiß, wie es zur Klostergründung in Mötz kam.

„Ja, ich gebe dir eine Bettlektüre mit, in der ist alles beschrieben.“

Schwester Felice kommt mit dem Abendessen. Sie hat für uns sehr liebevoll gekocht. Beim Essen erzählen wir einander aus unserem Leben. Auch wenn wir sehr unterschiedliche Lebensentwürfe haben, ist mir doch manches vertraut. Ich ging nämlich in meiner Heimatgemeinde bei Schwestern in den Kindergarten und hatte eine Klosterfrau als Klassenlehrerin. Der respektvolle Umgang dieser alten Schwestern miteinander berührt mich sehr. Nach dem Essen zeigt uns Schwester Evangelista noch das große Speisezimmer und den Kasten mit all den Berichten, Fotos, Büchern und Briefen von und über Schwester Angela.

Wie viele Priester und andere Gäste werden die Schwestern an diesem großen, schweren Tisch bewirtet haben? Vorher haben sie sicher in der Küche geschwitzt, um das Beste auftischen zu können.

Schwester Evangelista gibt mir noch vier Kassetten mit Originalaufnahmen von Gesprächen mit den Verwandten und ZeitzeugInnen. Sie erzählt auch, dass Schwester Hermine anlässlich des Beginns des Seligsprechungsprozesses den damaligen Verantwortlichen für Österreich viele Originalbriefe von Schwester Angela geliehen hat, die nicht mehr ins Kloster zurückgekommen sind. Auch sei beim Seligsprechungsprozess einiges schiefgelaufen. Die Verantwortlichen strebten ja einen Märtyrerinnenprozess an. Doch da Schwester Angela in Auschwitz entweder an Herzversagen oder an einem Granatsplitter gestorben ist5, wurde sie bisher in Rom nicht als Märtyrerin anerkannt. Erst in den letzten Jahren wird Schwester Angelas Leben noch einmal überprüft. Als Schwester Evangelista dies erzählt, schwingt Traurigkeit in ihrer Stimme mit. Ich tröste sie und sage: „Ob die Amtskirche Schwester Angelas Leben anerkennt und sie eine Selige wird, bleibt dahingestellt. Für uns und für viele Menschen war sie in dieser Schreckenszeit eine besondere Frau, die ein heiligmäßiges Leben gelebt hat.“

„Ja“, sagt Schwester Evangelista, „sie musste sogar in den Hungerbunker, nur weil sie einen SS-Mann mit ‚Grüß Gott‘ gegrüßt hat.“

Meine Freundin holt einen Ordner aus dem Kasten und beginnt Briefe zu fotografieren. Bevor Schwester Evangelista sich zurückzieht, drückt sie meiner Freundin einen Stein und mir einen großen Nagel in die Hand. Vermutlich stammen diese beiden Gegenstände aus dem Konzentrationslager Mauthausen in Oberösterreich und stehen stellvertretend für die Ausbeutung und den gewaltsamen Tod von unzähligen Menschen während der Zeit des NS-Terrors. Wir halten die Gegenstände in unseren Händen. Tränen laufen uns über die Wangen. Aus meinem Inneren heraus formt sich ein Text:

Soviel Leid

soviel Tränen

soviel Schreie

so lange her

und immer noch

nicht vorbei

Ich bin tief bewegt, dass Schwester Evangelista so viel Vertrauen zu uns hat und uns mit diesen Schätzen allein lässt.

Im Bett beginne ich den Bericht über das Mötzer Kloster zu lesen.

Die Gründung einer Schwesterngemeinschaft der Trinitarierinnen erfolgte im Jahre 1926. Die Gräfin Karoline Erdödy erwarb in Mötz ein kleines Landgut mit Haus, Hof und einigen Feldern, um eine Niederlassung des Ordens zu ermöglichen.

Am 11. August 1926 trafen drei Schwestern aus Valencia und eine Schwester aus Österreich in Mötz ein, sodass die Gründung mit diesem Datum perfekt wurde.

Die kleine Gemeinschaft begann ihr klösterliches Leben in Gebet und Zurückgezogenheit und lebte sehr bescheiden von Paramentenstickereien und Näharbeiten.

Die Anfangsjahre sahen die Eröffnung eines Privatkindergartens im Kloster. In den Wintermonaten wurden außerdem für die größeren Mädchen der Umgebung Nähkurse abgehalten.

Nachdem sich die Gründung gefestigt hatte und die Zahl der Schwestern aus eigenem Lande vielversprechend war, gingen die spanischen Schwestern in ihre Heimat zurück.

Schwester Michaela Roth, die von Anfang an eine wesentliche Rolle bei der Verwirklichung der österreichischen Gründung hatte, wurde Oberin.

Unter ihrer Führung festigten sich die Kontakte mit den Drittordensgemeinschaften in Trier und Paderborn, in deren Folge dann auch Ordenszuwachs aus Deutschland kam. Eine dieser „deutschen“ Schwestern war Maria Autsch, die als Schwester Angela vom Herzen Jesu sich mutig gegen den Nationalsozialismus stellte und treu das Evangelium lebte bis zu ihrem Tod in Auschwitz.6

Bewegt schlafe ich ein.

Am nächsten Morgen ist es schon früh unruhig im Haus. Wie am Vorabend angekündigt, brechen Schwester Evangelista und Schwester Felice zum Gottesdienst auf. Während meine Freundin und ich beim Frühstück im bereits geheizten kleinen Wohnraum sitzen, kommt Schwester Agnes mit ihrem Rollator lächelnd aus ihrem Zimmer und setzt sich zu uns. Jetzt am Morgen ist ihr Geist hellwach und sie genießt es sichtlich, mit uns alleine am Tisch zu sitzen. Ich bestärke sie und sage: „Sie können mir einfach sagen, was Ihnen einfällt.“

Sie sagt: „Dieses Haus hat Juden gehört. Sie mussten vor den Nazis fliehen. Paul besuchte uns im Jahre 2000 [vermutlich ein Nachkomme]. Zwei Schwestern sind nach dem Krieg aus Deutschland gekommen. Schwester Hermine war lange Zeit Oberin. Sie hat alles gut organisiert. Ich war mit ihr öfters in Valencia, denn die Ordensregeln werden alle sechs Jahre neu überarbeitet. Ich habe 40 Jahre Sprachbehandlung bei unseren Heimkindern gemacht. Es ist alles so lange her, ich kann mir nicht mehr alles so gut merken.“

Ich tröste sie und sage: „Schwester Agnes, Sie wissen noch so viel von früher, Sie sind immer noch eine wichtige Schwester.“

Sie strahlt übers ganze Gesicht.

Die zwei anderen Schwestern kommen von der Kirche zurück. Richtig fesch sind sie in ihrem Ausgehkleid und den glänzenden Schuhen.

Schwester Agnes sagt: „Gell, Schwester Felice, Schwester Hermine hat mit Ihnen alles über Schwester Angela erkundet. Ist alles schon erledigt?“

„Ja, alles haben wir gemacht und wir haben alles gut verwaltet.“

Mir fällt jetzt bewusst auf, dass sich die Schwestern mit „Sie“ ansprechen. Ich denke mir, dass dies eine gute Möglichkeit ist, höflich miteinander umzugehen, wenn die Schwestern einmal Probleme miteinander haben sollten.

„Schwester Agnes, kann ich mir das Buch von Dr. Margita Schwalbová ausleihen? Sie war ja als Ärztin gleichzeitig mit Schwester Angela in Auschwitz?“

Schwester Agnes schüttelt zweifelnd den Kopf und sagt: „Dann müssen wir es gleich wieder bestellen. Von Pater Quirin haben wir nicht alles zurückbekommen.“

Das muss bei den Schwestern tief sitzen, wenn sich sogar Schwester Agnes daran erinnert. Schwester Evangelista sagt ihr, dass dieses Buch nicht mehr im Handel erhältlich ist. Schwester Agnes sagt darauf lächelnd:

„Sie sind die Oberin.“

Schwester Evangelista blinzelt mir zu und steckt das Buch in meine Tasche.

Irgendwie kommen wir auf schwere Krankheiten der Schwestern in den letzten Jahren zu sprechen. Es rührt mich sehr an und ich frage mich, wie lange die Schwestern noch so wie jetzt miteinander leben können. Als ob Schwester Evangelista meine Gedanken lesen könnte, sagt sie:

„Wie gut, dass die große Familie, die bei uns wohnt, uns viel hilft.“

Vor dem Mittagessen machen meine Freundin und ich im großen Garten einen Spaziergang. Im Gemüsebeet gibt es noch viele reife Tomaten, Paprika und Zucchini. Ob es Schwester Felice heuer noch schafft, das ganze Gemüse zu verarbeiten? Im nahen Wald tauchen wir in das Gold des Herbstes ein. Es ist wie ein Sinnbild dafür, was diese Schwestern in ihrem Leben für andere Menschen getan haben. Bei einer kleinen Abzweigung steht auf einem Schild „Schwesternfriedhof“.

Beim Mittagessen frage ich meine Gastgeberinnen, was uns Schwester Angela für heute sagen kann. Fast gleichzeitig geben wir uns die Antwort:

„Sie nannte das Unrecht beim Namen!“

Nach dem Essen unser Versprechen, im Frühjahr 2018 wiederzukommen, anschließend hinein ins Auto, mit Schwester Felice als Chauffeurin zum Bahnhof, ein paar Tränen, winken, abfahren.

Bereichert kommen wir am Abend daheim an.

Angela Autsch

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