Читать книгу Angela Autsch - Annemarie Regensburger - Страница 6
ОглавлениеDas letzte Schuljahr für Marie. Als ob die Geistkraft Gottes die Kinder für den Übergang ins Erwachsenwerden gestärkt hätte, spüren sie, dass sie nicht mehr Kinder sind. Verträumte Blicke wandern von den Mädchen zu den Buben und umgekehrt. Auch Marie wird rot, als sie den Buben, der – so wie sie – einen Fahrradtraum hat, anlächelt. Doch in ihrer tiefsten Seele weiß sie, dass sie ins Kloster gehen will. Sie hatte ja Jesus bei der Erstkommunion um diese Gnade gebeten.
Im Juni 1914 drückt ihr der Lehrer das Abschlusszeugnis in die Hand und sagt:
„Marie, du warst eine besonders begabte und liebenswerte Schülerin. Du hast dich auch immer um Frieden in der Klasse bemüht. Nun hast du die Volksschule mit Auszeichnung abgeschlossen. Bleib dir treu.“
Marie wird wieder rot, denn sie versteht nicht genau, was der Lehrer mit „sich treu bleiben“ meint. Jetzt wird sie, wie ihre älteren Schwestern, daheim mithelfen, denn die Mama ist ab und zu kränklich.
Am Samstag, den 1. August 1914, fällt Bamenohl aus dem friedlichen Alltag. Was viele schon lange geahnt, was Amalia und August hinter vorgehaltener Hand, um die Kinder nicht zu verängstigen, geflüstert haben, ist nun Wirklichkeit geworden.
Marie ist gerade mit zwei Schwestern im großen Gemüsegarten. Sie jäten Unkraut und bereiten einige Beete für die Herbstpflanzung vor. Plötzlich schrecken die Mädchen hoch. Ein Mann, mit einer schrillen Glocke in der Hand, kommt die Straße entlang und schreit: „Die Mobilmachung ist befohlen.“
Die Mädchen laufen ins Haus. Dort erwarten sie bereits Mutter und Vater.
„Papa, musst du auch in den Krieg ziehen?“, fragt Marie ängstlich.
„Ich nicht, aber euer Bruder August, denn er ist bereits 19 Jahre alt.“
Die Mädchen beginnen zu schluchzen:
„Aber warum, warum muss er in den Krieg, warum ist überhaupt jetzt Krieg?“
„Das ist eine lange Geschichte“, antwortet der Vater. „Setzt euch nieder. Ich erzähle sie euch. Komm, Amalia, setz dich auch zu uns. Heute sind wir nicht mehr zum Arbeiten fähig. Heute hat uns die große Weltgeschichte eingeholt.“
Soeben kommt mit fragendem Blick August bei der Tür herein. Als er erkennt, was los ist, bleibt ihm der Atem stehen:
„Muss ich auch einrücken?“
Alle nicken. August nimmt es gefasst. Unter den jungen Männern wurde ja schon längere Zeit über diese Möglichkeit diskutiert und wie die meisten jungen Leute ließ auch er sich von der allgemeinen Jubelstimmung mitreißen. Viele waren sowieso der Meinung, dass der Krieg in kürzester Zeit vorüber sein und Deutschland als Siegermacht hervorgehen würde.
August tröstet deshalb seine Eltern und Geschwister und sagt:
„Macht euch nicht zu viele Sorgen um mich. Wir werden den Krieg gewinnen. Ich gehe, wenn es möglich ist, zur Marine. Ich möchte nämlich aufs Meer hinausfahren. Ihr betet inzwischen für mich.“ Und mit einem Augenzwinkern zu Marie sagt er noch:
„Vor allem du, Marie, du hast ja einen besonderen Draht nach oben.“
Alle blicken zu Marie, deren Augen voll mit Tränen sind. Doch ein wenig haben sich inzwischen alle beruhigt und der Vater beginnt mit der Geschichte, die den Ersten Weltkrieg innerhalb von sechs Wochen ausgelöst hatte.
„Am 28. Juni 1914 besuchte der österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand mit seiner Frau Sophie die bosnische Hauptstadt Sarajevo. Bosnien wurde 1908 von Österreich-Ungarn annektiert, was den Widerstand vor allem nationalistisch eingestellter Serben hervorrief. Ihr müsst euch vorstellen, dass bereits am Morgen, als das Thronfolgerpaar in einem offenen Wagen zum Rathaus gefahren ist, ein Bombenanschlag auf sie verübt wurde. Einige Menschen wurden dabei verletzt. Trotzdem fuhren sie im offenen Wagen weiter. Weder das Thronfolgerpaar noch die Eskorte nahmen die Gefahr ernst. Erzherzog Franz Ferdinand trug einen weißen, kaiserlichen Mantel, schräg über seiner Brust eine rotweißrote Schleife und auf seiner Mütze vermutlich einen grünen Federbusch. Seine Ehefrau Sophie trug ein rohweißes Spitzenkostüm und darüber einen lila Seidenmantel, ebenfalls mit Spitze besetzt. Ihr weitkrempiger Hut war auf ihre Kleidung abgestimmt.“
„Wie schön muss sie gewesen sein!“, rufen die Mädchen wie aus einem Munde.
„Ach ihr Mädchen, ihr seid so romantisch!“, meint August. „Ich muss jetzt zu meinen Kollegen gehen, damit wir ausmachen können, um welche Zeit wir uns morgen stellen sollen.“ Mit diesen Worten verlässt der Bruder die Küche.
Die Mädchen sind wieder mit der Wirklichkeit konfrontiert, denn die bisherige Erzählung des Vaters kam ihnen wie ein Märchen vor.
„Und dann“, sagt der Vater, „ein Schuss aus einer Pistole, dann ein zweiter. Zuerst wird Sophie getroffen. Franz Ferdinand fleht sie noch an, am Leben zu bleiben, da trifft ihn der zweite Schuss in den Hals. Nur wenig später sind der Erzherzog und seine Frau tot. Der Mörder war ein Bosnier mit serbischen Wurzeln, der sich als Kämpfer für die Vereinigung aller Serben sah. Die österreichisch-ungarische Führung unter Kaiser Franz Joseph glaubte nicht an die Tat eines Einzelnen. Sie hegte den Verdacht, dass Serbien dahinterstünde. Darum hat nun Österreich vor vier Tagen, am 28. Juli, Serbien den Krieg erklärt.“
„Aber Papa, was hat das mit uns zu tun?“, fragt Marie. „Wir gehören doch nicht zu Österreich.“
„Wisst ihr, unser Kaiser Wilhelm ist mit dem österreichischen Kaiser verbündet. Das heißt, dass sie beide zusammenhalten. Der russische Zar Nikolaus sieht sich als Schutzherr Serbiens. Frankreich und Großbritannien stehen wiederum auf Russlands Seite. Weil Deutschland zu Österreich hält, hat unser Kaiser Wilhelm heute Russland den Krieg erklärt.
Jetzt ist es aber genug mit meinem Erzählen. Vielleicht könnt ihr nun begreifen, wie schnell Millionen von Menschen, ohne dass sie es wollen, in einen Krieg verwickelt werden.“
Am nächsten Tag, Sonntag, der 2. August, als die Menschen auf dem Weg zur Kirche sind, befestigt der Ortsvorsteher von Bamenohl am schwarzen Brett den Befehl des Kaisers, in dem es heißt, dass alle wehrfähigen Männer im Alter von 17 bis 45 Jahren einberufen werden.
So viele Tränen sind bei einem Sonntagsgottesdienst schon lange nicht mehr geflossen. Vielerorts herrscht aber auch Begeisterung. Ein nationaler Überschwang, ja ein regelrechtes Glücksgefühl erfasst sehr viele Menschen im August bei Kriegsbeginn in Deutschland. Es wird als August-Erlebnis in die Geschichte eingehen.
Obwohl Deutschland nicht angegriffen wurde, sehen viele Menschen den Krieg als gerecht, als einen Verteidigungskrieg an. Es wehen Fahnen, in den Gottesdiensten wird um den Beistand Gottes gebetet, die Menschen jubeln auf den Straßen ihren Soldaten zu, die lachend und winkend vorbeiziehen und in Bahnwaggons Richtung Front fahren. Auf den Waggons steht mit Kreide „Auf zum Preisschießen nach Paris“. Lange Zeit wurde von der Politik die Überzeugung genährt, dass man den Gegnern überlegen sei. Die Aufrüstung und der Aufbau der Marine erreichten ein gigantisches Ausmaß. Nationalismus und Militarismus werden hochgejubelt. Doch nicht nur Deutschland, auch fast alle anderen Staaten Europas hatten sich schon lange auf einen Krieg vorbereitet. Innerhalb von sechs Wochen ist Europa in einen Weltkrieg gestürzt.
„August, ich habe dir deine Wäsche eingemerkt. Auf den Kleidungsstücken stehen mit rotem Kreuzstich die Anfangsbuchstaben deines Namens drauf.“ Amalia blickt ihren Sohn mit Tränen in den Augen an.
„Mama, sei nicht traurig. Der Krieg ist bis Weihnachten sicher vorbei. Stell dir vor, ich werde bei der Marine genommen. Ich fahre wirklich in das weite Meer hinaus. Danke, dass du mir alles so schön gerichtet hast.“
Schnell drückt August seiner Mutter noch einen Kuss auf die Wange und läuft aus der Küche, damit sie seine Tränen nicht sieht.
„August, komm am Abend pünktlich zurück. Wir kochen dir heute noch dein Lieblingsessen!“, ruft ihm die Mama noch nach.
Gertrud und Amalia sind bereits in der Küche und sprechen über den beginnenden Krieg. Ein bisschen haben sie sich von Augusts hoffnungsvollem Optimismus, dass der Krieg bald vorbei sei, anstecken lassen. Doch die Traurigkeit liegt wie ein Schleier über der Küche.
„Kommt zur Arbeit, Mädchen“, sagt die Mama etwas zu burschikos. Sie will sich ihre Trauer nicht anmerken lassen. Marie jedoch spürt sofort ihren Schmerz und sagt:
„Mama, wir kochen und weinen jetzt zusammen. Dann wird uns allen leichter ums Herz.“
Der Mama huscht ein Lächeln über die Lippen und sie streicht Marie sanft über ihre Haare. Dann geht es an die Arbeit. Heute soll es ein Festessen werden: Grießnockerlsuppe, sauerländischer Sauerbraten, eingebranntes Weißkraut und die typischen Kartoffelklöße aus dieser Gegend. Für den Nachtisch schickt die Mama Amalia und Marie in den Garten, um alle Beeren, die sie finden, zu pflücken. Vor allem die Brombeeren sind nun reif.
Als die Mädchen allein im Garten sind, fragt Amalia ihre Schwester Marie:
„Hast du auch um August Angst?“
„Ich vertraue darauf, dass die Muttergottes ihn beschützt. Weißt du, wir beten einfach jeden Tag vor dem Schlafengehen in unserer Kammer noch einen Rosenkranz für ihn. Gertrude macht sicher auch mit.“
Während sich die Mädchen beim Pflücken auch ab und zu eine süße Beere in den Mund stecken, werden sie ruhiger.
In der Küche dampft es inzwischen aus allen Töpfen. Der Tisch wird gedeckt. Amalia holt noch schnell die ersten blühenden Dahlien vom Garten. Die Mama hat vom Sonntag noch ein wenig Rahm übrig. Marie schlägt nun in einem Kupferkessel den Rahm zu Sahne, füllt neun kleine Schüsseln mit den abgezupften Beeren und gibt einen Löffel geschlagene Sahne darüber. Die Mama spendiert sogar ein wenig Zucker, sodass es ein perfekter Nachtisch wird.
Die älteste Schwester Elisabeth kommt von der Arbeit. Ihr bleibt der Mund offen, als sie den schön gedeckten Tisch sieht, und sagt:
„Ja, was ist denn heute bei uns los?“
„Du weißt doch, heute gibt es das Abschiedsessen für August“, sagt Marie.
„Ach ja“, seufzt Elisabeth, „das habe ich bei der ganzen Arbeit beinahe vergessen.“
Alle hören schwere Schritte und ein Räuspern, mit dem Vater August seine Rührung verbirgt, als er in die Küche kommt. Dann stürmen noch Wilhelm und Franz mit ihrem großen Bruder August herein. Dieser hat noch einmal mit seinen kleinen Brüdern so richtig gerauft und sich dabei auch den Schleier auf seiner Seele vertrieben. Alle setzen sich um den Tisch. Heute beginnt der Vater mit dem Tischgebet: „Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name …“ Beim „dein Reich komme“ kämpft er mit den Tränen, denn Krieg ist immer das Gegenteil von Gottes Reich. Alle stimmen in das Gebet ein und Marie fährt mit dem „Ave Maria“ fort. Alle lächeln, denn sie wissen, was für Marie „die Himmelmama“ bedeutet.
Marie schiebt noch schnell ihre Marienmedaille, die sie zur Erstkommunion erhielt, zu ihrem Bruder hin und sagt:
„Alle Mütter wollen, dass ihre Kinder am Leben bleiben, auch die Muttergottes.“
Verlegen sieht August die Medaille an und kämpft mit den Tränen. Er nickt liebevoll zu Marie hin. Beide wissen auch ohne Worte, dass diese Medaille an seiner Brust Platz haben wird.
Das Essen schmeckt ausgezeichnet. Es wird gelacht und geschwatzt. Wilhelm und Franz sind ganz aufgeregt und fragen:
„August, wirst du wirklich auf ein Schiff kommen? Gegen wen musst du dann kämpfen? Werden dich die Feinde nicht abschießen?!“
„Fragt nicht so viel auf einmal“, sagt die Mama, „und schluckt zuerst euren Bissen hinunter.“
„Vermutlich muss ich gegen England kämpfen, aber seid ohne Sorge. Ich bin in einem Unterseeboot. Das sieht man nicht auf dem Meer.“
„Ja, aber wenn die Feinde auch unter Wasser sind, können die Boote zusammenstoßen“, sagt Wilhelm etwas altklug.
„Das stimmt. Deswegen muss man ganz gut aufpassen und genau die Seekarte lesen können, damit man weiß, wo man sich befindet. Aber wisst ihr, dass ich nur ein ganz einfacher Marinesoldat bin. Der Kommandant, der Kapitän und viele Offiziere kennen sich viel besser aus als ich.“
Die Buben geben sich zufrieden. Sie sind sehr stolz auf ihren großen Bruder.
Nach dem Essen sagt Marie:
„Kommt, wir beten noch einmal gemeinsam den Rosenkranz. Die Küche räumen wir später auf.“
Das gleichmäßige Gebet sinkt in ihre Seelen und beruhigt das Gemüt. Zum Schluss greifen alle in den Weihwasserkessel und segnen August. Dabei stoßen sich Wilhelm und Franz gegenseitig an und sie können das Lachen nicht mehr verbeißen, denn noch nie haben sie ihrem großen Bruder ein Kreuz auf die Stirn gemacht. Die ganze Familie stimmt in ihr Lachen ein und die Traurigkeit ist für kurze Zeit verflogen.
Am nächsten Morgen läutet es schon früh an der Haustüre. Einige Kollegen holen August ab. Es geht alles sehr schnell. So bleibt beim Abschiednehmen keine Zeit für Traurigkeit. Die Eltern und alle sechs Geschwister winken August nach. Bevor der Weg eine Biegung macht, dreht er sich noch einmal um und winkt zurück.
Die Menschen in Bamenohl können noch gar nicht begreifen, was da über sie hereingebrochen ist. Plötzlich sind keine jungen Männer mehr da. Die Schulen werden aus Mangel an Lehrern vorübergehend geschlossen. Sogar die Fabrik im nahen Finnentrop, in der viele Bamenohler Männer Arbeit fanden, wird vorläufig geschlossen. Lebensmittelknappheit und Preissteigerungen sind die Folge. Auch wenn vor dem Krieg viele Menschen einfach lebten, schlittern sie jetzt in die Armut.
„Wie gut, dass du noch Arbeit hast“, sagt Amalia eines Abends zu ihrem Mann.
„Ja, und wir haben eine Kuh, Hühner und ein Schwein“, sagt Marie. „Wir können dem lieben Gott danken.“
„Marie, du bist ein so gutes Mädchen“, sagt der Vater und streicht ihr über die Haare.
„Deswegen können wir ja von unsrem Gemüse und den Kartoffeln etwas hergeben“, wirft Marie noch einmal ein. „Kann ich Frau Luzia ein paar Kartoffeln, Eier und Äpfel bringen? Sie hat keinen Garten und ihr Mann ist im Krieg. Sie hat ein paar kleine Kinder.“
„Wo du nur alles herhast, Marie“, sagt lächelnd die Mama und beginnt einen Korb mit Lebensmitteln zusammenzupacken. Marie zieht sich die Schuhe an und nimmt den Korb.
Draußen ist es noch hell. Es ist ja erst Anfang September. Wie schnell sich doch in einem Monat das Leben in Bamenohl verändert hat, denkt sich Marie und läuft die Straße hinunter.
Die Eltern schauen ihr beim Küchenfenster nach, fassen sich bei den Händen und sagen gleichzeitig: „Unser liebes Mariechen hat ein so weites Herz.“
Diese kleinen Momente des Glücks können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Krieg alles verändert hat. Wie ein dünner Trauerflor liegt die Sorge um August über der Familie. Niemand möchte die anderen mit der eigenen Sorge belasten.
Doch als Marie wieder einmal die Mama weinend beim Herd stehen sieht, sagt sie:
„Mama, machst du dir Sorgen um August?“
Die Mama nickt.
„Weißt du“, sagt Marie, „ich bin auch traurig, aber ich laufe oft in meine Kammer zum Marienbild und bete zu ihr.“
„Wir haben schon einige Wochen nichts von August gehört. Jetzt ist schon November. Weißt du noch, wie er gesagt hat, dass bis Weihnachten der Krieg zu Ende sein wird?“
Es klopft. Marie läuft zur Tür. Der Postbote bringt einen Brief. Marie erkennt gleich das Marinezeichen. Die Mama öffnet den Brief mit zittrigen Fingern. Im Brief schreibt August mit wackeliger Schrift, dass sich die Eltern und Geschwister keine Sorgen um ihn machen müssen. Er sei bei der Dritten Marineflotte eingesetzt, die vor allem das Auskundschaften des Feindes im Westen zum Auftrag hat. Auch hoffe er, dass er zu Weihnachten für ein paar Tage Heimaturlaub bekommen werde. Die Mama und Marie fallen sich um den Hals. Der sauerländische Bohneneintopf, den die Mama und Marie gemeinsam vorbereiten, schmeckt heute der ganzen Familie besonders gut. Für ein paar Tage löst sich der Trauerflor im Haus in Luft auf.
Ein paar Wochen später, am Heiligen Abend, liegt die Traurigkeit nicht nur über der Familie Autsch, sondern über ganz Bamenohl, denn es ist weder der Krieg vorbei, noch kamen die jungen Männer auf Urlaub heim. Die geduckte Haltung, mit der sich viele Menschen zur Mette aufmachen, rührt nicht nur vom kalten Wind. In vielen Fenstern brennt für Familienangehörige an der Front ein Kerzenlicht.
Eines Tages kommt der Vater mit einer guten Nachricht nach Hause: „Ich habe von einem Arbeitskollegen gehört, dass die Familie Brögger für ihre Kinder ein Kindermädchen sucht. Marie, möchtest du diese Arbeit annehmen?“
Marie schaut von ihrer Stickarbeit auf und sagt:
„Papa, das ist ja wunderbar. Da verdiene ich auch Geld und kann euch unterstützen. Irgendwann kaufe ich mir dann ein Fahrrad.“
Der Vater schüttelt über so viel Schwung seiner Tochter den Kopf und sagt:
„Ja, Marie, das machst du. Jetzt wird bald Frühling. Da kannst du auch die zwei Kilometer gut zu Fuß nach Finnentrop gehen.“
Marie blickt zu ihrer Mama. Es gibt ihr einen Stich, denn sie sieht zum ersten Mal ganz bewusst, wie mager und abgezehrt die Mama aussieht.
„Mama, wirst du den Haushalt ohne mich schaffen?“
Die Mama wischt sich mit der Kochschürze den Schweiß von der Stirn und sagt:
„Ach, Marie, du bist so aufmerksam. Manches Mal wird mir wirklich alles zu viel und jetzt im Frühjahr plagt mich wieder vermehrt das Rheuma.“
„Vielleicht solltest du doch zu einem Arzt gehen, Amalia“, sagt der Vater.
„Das kostet doch Geld und du weißt, August, dass wir so schon schwer über die Runden kommen.“
„Mama, dann verschiebe ich das Fahrrad auf später und du kannst zum Arzt gehen.“
„Ja, Marie, doch zuerst bewirbst du dich für diese Stelle. Gertrude und Amalia können mir auch noch helfen und Elisabeth hat ebenfalls ab und zu frei. Die kleinen Lausbuben sind außerdem aus dem Ärgsten draußen.“
Zwei Tage später geht Marie zum ersten Mal in ihrer besten Kleidung und mit ihren einzigen guten Schuhen zu Fuß von Bamenohl nach Finnentrop. Das Herz klopft laut, als sie das große Haus und daneben die Auslage mit den schönen Kleidern sieht. Sie läutet bei der Hausglocke. Ein Mann macht ihr die Türe auf und sagt:
„Grüß Sie Gott, Sie sind sicher Fräulein Maria Cäcilia Autsch?“
„Ja, Sie können Marie zu mir sagen.“
„Kommen Sie, gehen wir hoch, meine Frau erwartet Sie bereits.“
Sie gehen die breite Treppe mit dem schmiedeeisernen Geländer hinauf und Herr Brögger ruft:
„Ludmilla, Fräulein Autsch ist da!“
In der Wohnungstür hängen zwei kleine Buben am Rockzipfel ihrer Mutter. Dahinter steht ein vielleicht achtjähriges Mädchen mit kurz geschnittenen Haaren. Marie muss lächeln, denn in Bamenohl tragen die Mädchen normalerweise lange Haare, die sie zu Zöpfen flechten.
Marie verbeugt sich vor der Hausfrau. Diese reicht ihr die Hand und sagt:
„Kommen Sie herein, Fräulein Autsch. Fühlen Sie sich wie daheim. Ich bin sehr froh, dass Sie mir bei den Kindern helfen werden. Wie Sie sehen, hat sich das nächste Kind bereits angemeldet.“
Marie lächelt und sagt:
„So gut ich kann, werde ich Sie unterstützen. Mit Kindern umzugehen, ist mir nicht neu. Ich habe noch zwei kleinere Brüder zuhause.“
Die achtjährige Tochter nimmt Marie bei der Hand und zeigt ihr das große Kinderzimmer. Marie ist über das schöne Zimmer erstaunt und fragt:
„Schläfst du hier ganz alleine?“
„Ja, mein kleiner Bruder und meine kleine Schwester schlafen im Zimmer neben den Eltern, weil sie nachts öfters aufwachen. Wenn das Baby kommt, wird meine kleine Schwester Rosalinde sicher bei mir schlafen. Und wie heißt du eigentlich?“
„Ich bin Marie, du darfst du zu mir sagen.“
„Ich heiße Theresia, nach der heiligen Thérèse von Lisieux. Kennst du die Geschichte von der heiligen Thérèse?“
Marie sieht Theresia erstaunt an und sagt:
„Ja, unser Vater hat uns Kindern am Abend oft Heiligengeschichten erzählt oder vorgelesen. Die Geschichte von der heiligen Thérèse von Lisieux gefällt mir besonders gut. Es ist noch nicht lange her, seit sie gelebt hat. Drei Jahre nachdem sie starb, bin ich geboren.“
„Marie, bleibst du sicher bei uns? Erzählst du mir die Geschichte von Thérèse und noch viele andere?“
Marie ist gerührt, schließt Theresia in ihre Arme, der Bann ist gebrochen. Die Eltern sind erstaunt, wie schnell sich Marie mit Theresia vertraut machen konnte, denn ansonsten ist sie Fremden gegenüber sehr zurückhaltend.
Am Abend, als Marie zu Fuß nach Hause geht, ist sie sehr glücklich. Sie kommt bei der Haustüre herein und ruft:
„Mama, ich habe die Stelle bei den Bröggers bekommen. Morgen kann ich bei ihnen anfangen zu arbeiten. Sie haben drei Kinder und das vierte ist unterwegs. Herr und Frau Brögger sind sehr nett.“
Mit einem weinenden und einem lachenden Auge schließt die Mama Marie in die Arme und sagt:
„Du wirst mir zwar abgehen, doch du wirst deinen Weg gehen.“
Marie wird es schwer ums Herz. Sie läuft in ihre Kammer und kniet sich vor ihren Hausaltar. Es würgt sie und die Tränen rinnen über ihre Wangen. Plötzlich weiß sie, warum, und sagt ganz leise:
„Ja, ich habe dir bei der Erstkommunion versprochen, dass ich ins Kloster gehe, aber weißt du, noch ist die Zeit dazu nicht reif. Jetzt braucht mich diese Familie, vor allem die kleine Theresia und meine Familie braucht das Geld, das ich verdiene.“
Der Vater kommt von der Arbeit und sieht Marie erwartungsvoll an.
Sie sagt: „Ja, ich fange morgen zu arbeiten an. Nun habt ihr es auch leichter.“
„Aber Marie, bist du dann nicht mehr daheim, so wie August?“, fragen sie fast gleichzeitig ihre Brüder Wilhelm und Franz.
„Nein, ich komme jeden Abend heim. August kommt erst wieder, wenn der Krieg zu Ende ist.“
Für Marie beginnt eine spannende Zeit. Sie gewinnt durch ihre fröhliche Art bald das Vertrauen der zwei kleineren Kinder. Theresia fällt es sichtlich schwer, am Morgen, wenn Marie gerade gekommen ist, die Schultasche zu packen und in die Schule zu gehen. Doch Marie tröstet sie und sagt:
„Weißt du, ich kann dir nicht Lesen, Schreiben und Rechnen beibringen. Das lernst du alles in der Schule. Doch ich erzähle dir, wenn du magst, gerne von Jesus.“
Bevor Theresia die Wohnung verlässt, sagt sie noch zu Marie:
„Versprich mir, dass du mir heute am Abend, bevor du nach Hause gehst, die Geschichte von der heiligen Thérèse erzählst.“
„Versprochen!“
Lachend läuft Theresia die Stiege hinunter und Frau Brögger sagt zu Marie:
„Wie schaffst du es bloß, Theresia immer wieder zu motivieren, in die Schule zu gehen?“
Marie lächelt und sagt, dass sie später ein Versprechen, das sie Theresia gegeben hat, einhalten muss. Abends, als die zwei kleinen Kinder bereits schlafen, geht Marie in Theresias Zimmer. Sie freut sich sehr und sagt:
„Toll! Hast du noch Zeit für die Geschichte von Thérèse?“
„Ja, natürlich. Komm, leg dich ins Bett, ich setze mich neben dich.“
„Die kleine Thérèse von Lisieux ist 1873 in Frankreich geboren. Meine Mama ist nur sieben Jahre älter als sie und deine Mama ist nur ein paar jünger, als Thérèse heute wäre. Sie war die Jüngste und hatte vier ältere Schwestern, außerdem vier ältere Brüder, die alle als kleine Buben gestorben sind. Als Therese vier Jahre alt war, starb auch ihre Mama. Der Papa zog mit seinen fünf Töchtern nach Lisieux. Bereits als kleines Mädchen hatte Thérèse Jesus sehr lieb. Sie glaubte fest daran, dass ihre Mama und ihre vier Brüder im Himmel sind und gut auf sie aufpassen. Als sie 14 Jahre alt war, betete sie für einen Mann, der einen anderen Mann getötet hatte und zum Tode verurteilt wurde, dass er doch noch vor seinem Tod an Gott glauben möge. Dieser Mann hat wirklich vor seinem Tod Gott um Verzeihung gebeten und zu einem Priester gesagt, dass es ihm leidtut, was er alles falsch gemacht hat.
Mit 15 Jahren wollte Thérèse in Lisieux ins Kloster gehen, doch der Bischof sagte, dass dies noch zu früh sei.“
Während Marie dies erzählt, muss sie mit den Tränen kämpfen und Theresia fragt sie:
„Warum weinst du, Marie?“
Marie streicht ihr über den Kopf und sagt leise:
„Weißt du, ich habe bei meiner Erstkommunion Jesus auch versprochen, dass ich ins Kloster gehe.“
„Aber Marie, du bleibst doch bei uns, oder?“
„Ja, Schätzchen, jetzt bleibe ich bei euch. Deine Mama braucht mich, denn bald kommt das Baby.“
„Erzähl weiter, Marie, was mit Thérèse passiert ist.“
„Als sie mit 16 Jahren mit einer Pilgerfahrt nach Rom fuhr, fragte Thérèse sogar den Papst, er hieß Leo, ob sie ins Kloster gehen darf. Doch dieser sagte zu ihr, dass der Bischof von Lisieux damit einverstanden sein muss. Als Thérèse von Rom heimkam, erlaubte ihr der Bischof, ins Kloster zu gehen. Thérèse betete oft für andere Menschen und viele wurden durch ihr Gebet gesund. Ihre Oberin sagte sogar, dass sie alles, was sie bisher erlebt hat, aufschreiben müsse. Thérèse wurde selber sehr krank. Sie fragte nie, warum sie so früh sterben müsse, oder ob sie Gott etwa gar strafen wolle, was viele Menschen damals noch glaubten. Sie war überzeugt, dass Gott alle Menschen gerne mag, auch wenn sie nicht immer gut gelebt haben. Die Menschen brauchen nur auf Gott zu vertrauen und zu versuchen, mit jedem Menschen gut zu sein, ganz gleich, woher er oder sie kommt. Thérèse von Lisieux wurde nur 23 Jahre alt.“
Bei ihren letzten Worten blickt Marie Theresia an und sieht, dass sie eingeschlafen ist. Sie streicht ihr noch einmal über den Kopf und macht ihr das Kreuz auf die Stirn.
Noch weiß Marie nicht, wie oft sie im KZ in Auschwitz vielen Sterbenden die Geschichte der kleinen Thérèse von Lisieux erzählen wird und diese Menschen Trost darin finden.
Thérèse Erkenntnis, dass alles ein Geschenk, also Gnade ist und auch die Gerechtigkeit Gottes mit Liebe „umkleidet“ ist, wird für viele in der Hölle von Auschwitz ein Trost sein. Thérèse von Lisieux wird als Karmeliterin mit braunem Kleid, weißem Mantel und schwarzem Schleier abgebildet. Sie hält einen Strauß Rosen in den Armen. Vor ihrem Tod versprach sie, den Mitschwestern vom Himmel Rosen auf die Erde zu streuen.
Sie war ein großes Vorbild für Marie, die spätere Schwester Angela.
Marie steht auf und verlässt so leise wie möglich Theresias Zimmer. Im Gang begegnet ihr Frau Brögger und sagt:
„Marie, seit du bei uns bist, ist Theresia wie ausgewechselt. Ich bin sehr froh darüber. Die Kleinen haben dich ebenfalls liebgewonnen. Das ist für mich sehr beruhigend, denn in sechs Wochen soll ja das Baby kommen.“
„Danke, Frau Brögger, ich bin sehr gerne bei Ihnen und auch ich mag die Kinder gerne. Jetzt mache ich mich auf den Nachhauseweg, damit ich, bevor die Dunkelheit hereinbricht, heimkomme.“
Schneller als sie glaubt wird es Nacht. Wie froh ist Marie, als endlich die ersten Lichter von Bamenohl zu sehen sind. Die Eltern sitzen noch beim Küchentisch.
„Marie, du bist heute spät dran. Wir haben uns schon Sorgen gemacht.“
„Wisst ihr, ich hatte Theresia versprochen, vor dem Schlafengehen die Geschichte der heiligen Thérèse von Lisieux zu erzählen.“
Der Vater muss lächeln. Wie oft hatte er den eigenen Kindern Heiligengeschichten vorgelesen, deshalb sagt er:
„Marie, du hast dir sicher diese Geschichten am besten von deinen Geschwistern gemerkt.“
Marie lächelt. Sie blickt ihre Mama an. Ihr Lächeln erstarrt. Seit sie bei den Bröggers ist, hat sie ihre Mutter nie mehr so genau betrachtet. Sie sieht, dass diese stark an Gewicht verloren hat.
„Mama, geht es dir nicht gut?“
Amalia versucht zu lächeln, doch es gelingt ihr nicht so recht.
„Marie, ich glaube, dass mir etwas am Herzen fehlt. Ich fühle mich sehr erschöpft.“
„Mama, vielleicht kommt die Müdigkeit auch vom Rheuma? Und wir sind sieben Kinder, du sorgst so gut für uns! Meine Chefin bekommt erst das vierte Kind. Sie ist auch oft müde, obwohl sie eine Putzfrau und mich für die Kinder hat.“
Der Mama rinnen die Tränen über ihre Wangen, sie schluchzt und sagt:
„Aber Marie, ich bin noch nicht einmal 50 Jahre alt und fühle mich schon so verbraucht.“
„Amalia, du hast so viel geleistet und machst immer noch viel. Ich werde mit Gertrude reden, damit sie noch ein bis zwei Jahre daheim bleibt, um dir zu helfen“, meint August. Dankbar sieht Amalia ihren Mann an.
Auch Marie versucht, ihre Mutter zu trösten: „Ich werde am Abend auch wieder pünktlicher heimkommen. Heute hat mich Herr Brögger gefragt, ob ich, wenn mit dem Baby alles gut geht, bei ihm im Geschäft eine Lehre als Verkäuferin anfange. Sie nehmen dann ein anderes Kindermädchen.“
Die Eltern freuen sich darüber und die Mama sagt:
„Marie, du bist begabt und liebenswert. Einen Lehrberuf zu erlernen ist für ein Mädchen schon etwas Besonderes. Doch nun sagen wir Gott danke für alles und gehen schlafen.“
Am 15. April 1915 beginnt Marie ihre Lehre. Vorher muss sie Theresia versprechen, dass sie in der Mittagszeit immer in die Wohnung kommt. Frau Brögger drückt ihr auch noch schnell das Baby in den Arm und sagt:
„Ja, Marie, du isst bei uns zu Mittag, die Kinder mögen dich so gerne und das Baby soll dich ja auch kennenlernen.“
Marie bedankt sich, läuft die Treppe hinunter und betritt zum ersten Mal die Firma Bischoff/Brögger.