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Zweites Kapitel

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Inhaltsverzeichnis

Bis jetzt war Mariclées Reise ein fortwährendes Fiasko gewesen, und zwar gleich von der Überfahrt an. Sie hatte sich nicht vorgesehen, und alle Einzelkabinen besetzt gefunden. Im Ankleideraum aber boten — wie auf Order hier eingeschifft — die häßlichsten Damen des Kontinents ein wahrhaft tückisches Bild. Und die Abscheulichste, mit hornharten, zielsicheren Augen, seifte und striegelte ihre Arme, die Sünderin, als wären sie schön. Mariclée wich vor ihrem Anblick erschrocken zurück und floh an Deck. Denn lieber als mit den häßlichen Frauen verbrachte sie die kalte Nacht (das schöne Wetter setzte erst am folgenden Tage ein) ohne Mantel auf einer harten Bank. Dort hatten sie gegen Morgen recht trübselige Träume heimgesucht . . . .

Am Montag zog die Sonne wieder am wolkenlosen, gelb umdunsteten Himmel, wie inmitten eines Strahlenkranzes, auf und drückte wie eine feurige Krone auf London hernieder. Auf den Simsen der Fenster lag überall ein feiner Ruß, doch standen am Vormittag ihre Zimmer im angenehmsten Licht, und ganz erfüllt von Londons penetrantem und rauchigem, jedoch so stimulierendem Geruch. Freilich durfte man jetzt nicht denken: ein paar Stunden von hier, da frohlockt eine beschauliche Luft, da summen Bienen, da atmen Wälder und das glückliche Meer — — — und wie sie eben dennoch daran dachte, pfiff und klingelte es wieder in ihrer Wohnung, und ein kleiner Telegraphenjunge stand mit einer Depesche vor ihrer Tür. Jene Freundin, auf die sie sich nicht hatte besinnen wollen, von der sie sich vergessen glaubte, und der sie dann doch geschrieben hatte, lud sie dringend bis zum Samstag zu sich ein. Mariclées Herz stockte vor Freude. Vor Sonntag hatte sie keine Aussicht das Exemplar in London zu sehen. Wie sich das traf! Auch zauderte sie keinen Augenblick, schrieb eine Zusage und reichte sie dem Boten. Erst als er mit ihrer Antwort abgezogen war, fiel ihr das dickunterstrichene „ganz unmöglich“ aus ihrem Briefe ein.

Den Abend verbrachte sie mit dem Botschaftsrat. „Eigentlich wollte ich morgen nach Glenford,“ teilte sie ihm mit.

„Wie amüsant!“ sagte er.

„O nein!“ seufzte Mariclée. „Wenn viele Gäste dort sind, setzen sie des Abends ihre Tiaren auf, und meine Situation ist dann unhaltbar. Fürs erste wäre ich natürlich die einzige, die nicht ihre eigene Jungfer brächte. Wie stehe ich dann da?“

„Ich versichere Sie, wegen Ihrer Pretiosen ladet Sie niemand ein.“

„Wie herzlos Sie oft reden!“ sagte sie. Aber er ließ sich nicht aus seiner Ruhe bringen.

„Ich bin auf Ihre Eindrücke gespannt,“ gab er zurück.

„Aber ich kenne den Schauplatz, und weiß, was ich riskiere.“

„Ich meine, daß Sie es dennoch riskieren sollten,“ sagte er.

Und sie sprachen von etwas anderem.

Von allen gedankenlosen Aussprüchen ist der gedankenloseste: „Les extrêmes se touchent“. Zum mindesten bei Individuen. Wo Kontraste sich berühren, geschieht es immer durch irgendwelche geheime Ähnlichkeiten. So bestand zwischen den Beiden infolge ihrer Kontraste eine Kluft, aber die Gleichheit ihrer Interessen war ein starkes Band.

Mariclée war vorhin einem sehr komischen Herrn begegnet, der mit fliegenden Frackschößen seiner Mahlzeit entgegeneilte. Von ihm erzählte sie nun. Er schien so ohne jeglichen Vorbehalt und auf so groteske Weise mit dem Leben einverstanden und eine so froschhafte Befriedigung machte sich auf seinem alten Gesichte breit, daß zu ihm gehalten selbst der dümmste Deutsche denkerisch veranlagt schien. Und sie vertieften sich wieder in ihr übliches Gespräch. Er meinte, selbst die gescheiten Engländer dächten sehr oft nicht. „Aber,“ rief sie, „wie haben es dafür die paar Nachdenklichen hier schön! Und wie früh gelangen sie zur Macht. Sie haben nicht wie bei uns wider die überhitzte Intellektualität jener Legion von Halbgescheiten anzukämpfen.“

Von draußen wogte und brauste die mächtige Stadt wie von der Ferne herein. Mariclée hatte sich behaglich in eine Sofaecke zusammengerollt und starrte vor sich hin. „Ich habe eine große Entdeckung gemacht,“ hub sie an, „aber es ist so hart, daß ich für meine Entdeckungen nie etwas bekomme!“

„Was denn für eine Entdeckung?“ forschte er.

„Ich entdeckte etwas, indem ich etwas wissen wollte,“ sagte sie. „Ich wollte wissen warum die deutsche Dummheit sich so gar nicht zur englischen Borniertheit verhält, da der englische und der deutsche Geist einander doch so zugänglich, so verwandt, ja in mancher Hinsicht fast identisch sind. Während der französische und der deutsche Geist solche Not haben einander zu durchdringen, und zwar am fühlbarsten wohl in der Politik, wo Ihr beim besten Willen vor Reibereien zwischen der Gloriole Française und dem deutschen Starrsinn nicht vom Flecke kommt. Dies Kompliment muß ich Euch en passant schon machen.“

„Aber die Entdeckung?“

„Ferner wollte ich wissen,“ fuhr sie fort, „warum dagegen bei so großer Divergenz des Geistes die Sottise française und die Bêtise allemande so stammverwandt sind, und so ausgezeichnet harmonieren, daß sie die reine Terz abgeben! Dies ist meine Entdeckung. Was geben Sie mir dafür?“ und sie streckte lachend die Hand aus. Denn Mariclée wurde stets sehr aufgeräumt, wenn man auf ihre Worte achtete. Vor leidlich klugen Leuten konnte sie nicht bestehen. Es bedurfte wirklichen Scharfsinns, denn sie war allzu elektrisch: wer nicht fest auf die Klinge drückte, vernahm keinen Ton.

Als sie nach Hause kam, lag schon ein Brief ihrer Freundin vor, der genaue Angaben betreffs ihres Zuges enthielt, und ebensowenig wie das Telegramm auf das bewußte „ganz unmöglich“ einging. Sie las ihn noch unten in der Halle. „Es wird, wie’s wird,“ dachte sie, „zum Absagen ist es zu spät.“ Und sie betrat den Fahrstuhl, vor dessen Tür ein Junge wartete. Den Dienst besorgten zwei Liftboys, von welchen der eine häßlich war und untersetzt, der andere einen eleganten Kopf auf einem hochgewachsenen Körper trug. O Macht der Schönheit! Immer zog sich ihr Herz zusammen, wenn sie der Häßliche hinaufzog.

Das Exemplar

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