Читать книгу Das Problem mit Afrika - Annette Riemer - Страница 4
Hanna muss weg
Оглавление„Heute ist Freitag …“
Es war die Art, wie Martin das so scheinbar gleichgültig vor sich hinsagte, die Jule aufschrecken ließ. „Das machst du“, sagte sie prompt.
Wieder versank sie über der Zeitung, aber fand nicht mehr richtig in den Artikel rein, den sie gerade noch gelesen hatte. Unruhig rührte sie in ihrem Kaffee. „Ich meine es ernst, Martin, heute kannst du das machen“, sagte sie, ohne ihn anzusehen. „Das ist immerhin deine Mutter.“
„Ja, aber als sie hierher kommen wollte …“
Fing er wieder damit an! Immer dieselbe Leier. Natürlich war auch sie dafür gewesen, das Hanna bei ihnen einzog. Wie hätte sie denn auch der alten, kranken Frau ihr Haus verweigern können! „Nur für ein paar Wochen“, hatte seine Mutter ihr damals versichert, „nur, bis ich wieder auf den Beinen bin.“ Die Grippe ging, aber Hanna blieb. Jule wusste nur zu genau, warum: Die Alte hatte Gefallen daran gefunden, sich um nichts mehr sorgen zu müssen. Sie genoss es, sich vor den vollen Teller setzen, in das gemachte Bett legen zu können. Aber das war es ja nicht einmal, was Jule so sehr auf die Nerven fiel.
„Ich weiß“, fauchte sie nun Martin an. „Aber ich dachte damals, wir nehmen deine Mutter zu uns und nicht so ein …“
„Ja, sie kann manchmal etwas schwierig sein“, warf Martin besänftigend ein.
„… Schwein“, brach es dennoch aus Jule hervor.
Martin starrte sie überrascht an. Seit einem Jahr nun schon haderte er mit seiner Mutter – und Jule hatte längst erkannt, dass er Hanna mit ihrer neuen, an allem desinteressierten Art nicht wiedererkannte. Das war doch nicht mehr seine Mutter! Er mühte sich ab, sie zu den kleinsten Spaziergängen zu überreden, er drängte ihr die Tischgespräche geradezu auf – und war am Ende immer wieder enttäuscht, wenn sie ohne ein weiteres Wort hoch in ihre Zimmer schlurfte.
Aber trotzdem hatte er sich heimlich sein ideales und naives Bild von der Mutter bewahrt, hatte sie oft gegen Jules Vorwürfe verteidigt und Nachsicht gefordert, und dass sie jetzt dabei war, ihm dieses letzte bisschen Glauben an Hanna zu nehmen, erstaunte sogar Jule ein wenig.
„Sie ist ein Schwein, wirklich“, beharrte sie ruhig. „Sie verdreckt immer mehr und hat überhaupt keinen Antrieb, was dagegen zu machen.“
„Sie ist halt alt“, meinte Martin zögernd. „Das Schmatzen hört sie ja selber nicht. Und dass sie das Geschirr laufend anstößt, das kommt von der Feinmotorik …“
„Ach, hör doch auf!“, unterbrach ihn Jule. „Als ob es mir um das Schlürfen und Rülpsen ginge! Darüber könnte ich ja noch weghören. Aber deine Mutter – wäscht sich nicht. Und ihre Unterwäsche trägt sie wochenweise auf. Da kann ich sagen, was ich will: Sie hört nicht, stellt nur auf stur. Und das weißt du auch.“
Wenn Martin so ein verblüfftes Gesicht machte wie in diesem Moment, hasste Jule ihn geradezu. Sie kam sich dann jedes Mal für dumm verkauft vor.
„Oder warum kommst du mir so mit Freitag? Du weißt doch ganz genau, dass das der einzige Abend ist, an dem wir deine Mutter gerade so in die Wanne kriegen. Und wer darf sich dann über das Häufchen Dreck beugen?“
„Aber du musst doch einsehen, dass es für sie angenehmer ist, wenn du als Frau …“
„Du kannst das auch mal machen!“, rief sie nur und schlug die Zeitung zusammen. Ärgerlich verließ sie die Küche – wieder hatte Hanna ihnen einen schöner gedachten Nachmittag versaut.
Erst im Waschhaus bekam sich Jule wieder unter Kontrolle. Hier unten war sie ganz für sich, hierhin verfolgte sie Hanna nicht und auch Martin kam nicht mit irgendwelchen Wünschen für seine Mutter an. Wie er sich doch verändert hatte, wie er doch wieder unter Hannas Fittiche gerutscht war und nie ein ernstes Gespräch mit ihr suchte. Alles ließ er ihr durchgehen, alles musste Jule allein auskämpfen.
Wenn sie daran dachte, wie alt Hannas Mutter geworden war, wurde Jule regelmäßig schlecht. Dann würden ihr noch mehr als zehn Jahre bevorstehen, zehn Jahre mit dieser furzenden, stinkenden Frau und ihrem ausdruckslosen Gesicht, an dem jeder Vorwurf einfach so ungehört abprallte. Früher hatte sich Jule gerade wegen dieser teilnahmslosen Miene manchmal gefragt, ob ihre Schwiegermutter vielleicht nicht mehr ganz auf der Höhe war, geistig. Aber dann hatte sie herausgefunden, dass Hanna im Oberstübchen durchaus noch ganz gut beisammen war. Noch mehr: Sie hatte sogar noch die Geistesgegenwart, auf ihre alten Tage heimtückisch zu werden: Sie holte Essen aus der Küche und versteckte es in ihrem Zimmer. Sie log über ihre Medikamente, log vor Gästen über ihr Befinden, log über alles, was sie zerschlagen, verlegt oder beschmutzt hatte. Und war nicht einmal peinlich berührt, als sie einmal neben die Toilette gemacht hatte und Jule den Dreck wegmachen musste. Ob eine andere, die nicht schon als Krankenschwester einiges gewohnt war, so etwas mitmachen würde, ging es Jule durch den Kopf.
Wie gern hätte sie sich jetzt eine Zigarette angesteckt. Einfach zum Garten hinausschauen, einen tiefen Zug nehmen und innerlich in aller Ruhe durchzählen. Bis dieses Herzklopfen wegginge. Aber sie durfte doch jetzt nicht mehr und so blieb die Wut in ihrem Bauch. Martin war einfach viel zu naiv, viel zu gutmütig – zu weich. Mit zittrigen Händen strich sie über einen Stapel frischer Handtücher, zupfte sie nervös glatt. Nein, heute würde sie es ihm sagen, dachte sie entschlossen, heute müsste er es endlich erfahren.
Als sie in die Küche kam, saß Martin immer noch an seinem Kaffee. Vorsichtig versuchte er zu lächeln. „Na, Schatz …“, setzte er stockend an. „Sag jetzt nichts“, fiel ihm Jule, der das Herz bis zum Halse schlug, ins Wort. Und dann: „Ich bin schwanger.“
Martin war noch nie der Schnellste gewesen und auch jetzt brauchte er eine gewisse Zeit, bis die Nachricht wirklich bei ihm ankam. Dann aber trat ein Lächeln auf sein Gesicht, er ging auf sie zu, umarmte sie und beinah fühlte sie sich glücklich dabei. „Wir werden Eltern!“, rief er aufgeregt. „Und ich – ich werde Papa. Und du die Mama! Komm her!“ Er bedeckte sie wieder und wieder mit Küssen, schien sich geradezu in Euphorie zu steigern, sodass Jule dann doch leicht auflachen musste über seine Begeisterung.
„Wie weit bist du schon?“
„In der siebten Woche.“
„Oh, und damit kommst du mir erst jetzt?“, rügte er scherzhaft. „Wenn das Mutter erfährt!“, rief er dann ausgelassen und mit einem Mal war Jules heitere Stimmung verflogen.
„Genau darüber wollte ich mit dir reden“, hielt sie ihn zurück. „Wenn das Kind da ist – ich glaube nicht, dass wir dann noch mit Hanna zusammenwohnen können.“
Wieder dieses erstaunte Gesicht, in das Jule am liebsten hineinhauen würde. „Du meinst … aber wir können das Baby doch erst mal mit zu uns ins Schlafzimmer nehmen. Ich meine, wir müssen doch dann eh jede Nacht raus, oder?“
„Es geht um was anderes“, meinte Jule mit Nachdruck. „Ich kann mir einfach nicht vorstellen, mit einem Baby ein Bad zu teilen, in dem deine Mutter fuhrwerkt.“
„Kein Problem, wir sagen ihr, dass sie das Gästebad benutzen soll.“
„Darum geht es nicht“, beharrte sie und Tränen schossen ihr in die Augen. „Es geht darum, dass ich mich mit deiner Mutter in einem Haus unwohl fühle. Weil sie verlottert, und alles, was sie anfasst, wo sie draufsitzt oder liegt oder sonstwie berührt, würde ich am liebsten verbrennen. Verstehst du? Ich ekle mich vor deiner Mutter und ich will mein Kind nicht in ihrer Nähe haben.“
„Sie soll ausziehen?“, fragte er wie vor den Kopf gestoßen.
„Sie soll einfach nur weg“, sagte sie hart, härter als sie gedacht hatte. Aber sie blieb dabei. „Sie soll einfach nur weg“, wiederholte sie murmelnd und wischte sich die Tränen fort.
Später tat es ihr leid, so ruppig zu ihm gewesen zu sein. Und gleichzeitig war sie wütend über ihr Mitleid, weil er es ja anders nicht verstand als auf diese unverblümte Art. Am Abend, als sie auf der Terrasse saßen, zog sie ihn in seine Arme.
„Ich kann sie doch nicht einfach rausschmeißen“, meinte er hilflos. „In so ein Altersheim geht sie doch nie. Und wir sind doch ihre Familie, die einzigen, die sie noch hat.“
„Wir finden schon irgendeine Lösung“, beruhigte sie ihn und ärgerte sich, dass sie ihm damit ein klein wenig entgegengekommen war.
Die Tür ging auf und Hanna kam langsam auf die Terrasse heraus. „Abend, Mutter“, grüßte Martin sofort. Die alte Frau nickte nur beiläufig. „Ihr seid wohl draußen?“, fragte sie tonlos.
„Ja, wir dachten, wir grillen heute. Setz dich doch zu uns. Soll ich dir eine Decke holen?“
Hanna schüttelte den Kopf, zog an Martin vorbei und setzte sich auf einen der Gartenstühle.
„Wie war dein Tag, Mutter?“, fragte Martin noch, bekam aber kaum mehr als ein vages Wiegen ihres Kopfes zur Antwort. Die Alte starrte viel lieber auf den Grill, ließ die Würste darauf nicht aus den Augen und machte sich, als es an das Essen ging, eilig und schmatzend über sie her.
Jule versuchte, nicht darauf zu achten, dass Hanna so gierig – fraß, dass das Fett der Wurst weit über ihren Tellerrand spritzte. Sie hielt den Blick ganz auf ihren eigenen Teller gerichtet und verbiss sich jeden Kommentar.
„Und, schmecken dir die Würste?“, fragte Martin aufopfernd. Wieder wog Hanna den Kopf abschätzig. „Wie bei uns zu Hause sind sie nicht.“
„Was hattet ihr denn früher auf dem Grill?“, versuchte er es wieder. Aber diesmal bekam er nur ein fahles „Ach“ zur Antwort, Hanna winkte belanglos ab und griff sich eine zweite Wurst.
Nach dem Essen lehnte sich Hanna in ihrem Stuhl zurück, schloss die Augen und schob ihr Gebiss im Mund herum. Hin und wieder hustete sie und Jule wusste nicht, ob sich die Alte an den Resten, die sie aus ihren künstlichen Zähnen fischte, verschluckte oder eine beginnende Erkältung ausbrütete. Das würde Martin wieder umtreiben! Seit der letzten Grippe, die ihm gezeigt hatte, wie schwach und lebensbedrohlich anfällig seine Mutter doch war, umsorgte er sie schon beim ersten Huster mit nahezu grotesker Fürsorglichkeit. Aber diesmal hörte er nicht hin, war vielleicht in Gedanken bei ihrem Kind, noch auf Arbeit …
Jule versuchte, die so demonstrativ abwesende Frau zu ignorieren und stattdessen Martin zuzuhören, der nun über irgendetwas aus dem Büro sprach – halblaut, um seine Mutter nicht zu stören! Und gerade diese kriecherische Rücksicht brachte Jule vollends aus der Fassung. Entnervt ließ sie Martins Hand fallen und zog sich in das Haus zurück.
Er klopfte an die Badtür. Das tat er sonst nie, schoss es Jule durch den Kopf.
„Alles klar bei dir?“, fragte er und steckte den Kopf rein. Sie nickt gelangweilt, er aber konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, wie er sie so im Schaumbad liegen sah. „Meine kleine Mama“, freute er sich und Jule bereute schon beinah, es ihm ausgerechnet heute gesagt zu haben. Aber es lag ja nicht an ihm, dachte sie dann, er versuchte ja nur, es den beiden Frauen recht zu machen. Er hatte es ja auch nicht gerade leicht.
„Willst du mit reinkommen?“, fragte sie, schon wesentlich milder gestimmt.
Martins Blick verriet Interesse. „Ich muss nur noch kurz … nach Mutter sehen“, sagte er vorsichtig. Jule wendete den Blick von ihm ab. So würde es immer sein, dachte sie deprimiert, nie würde er sich entscheiden können, nie klare Position beziehen. Dieses Ekel, Hanna, würde immer von ihm geduldet werden.
„Ist sie noch nicht auf ihrem Zimmer?“, fragte Jule bissig.
„Ich weck sie später, sie ist unten eingeschlafen“, meinte er wie entschuldigend. „Ich bring ihr nur schnell eine Decke, es zieht ja doch schon ganz schön an. Und wegen ihrem Husten …“
Nun hatte er es also doch gehört, dieses erste Anzeichen einer vielleicht ernsten Erkrankung. Was hatte der Arzt gesagt? „Noch so eine Grippe macht Ihre Frau Mutter nicht mehr mit.“
Er war schon halb zur Tür raus, da rief sie plötzlich nach ihm. „Komm noch mal her“, sagte sie gedehnt und hob ein Bein aus dem Wasser, um es ihm entgegen auf den Wannenrand zu legen. Sie wusste genau, wie sie ihn schwach machen konnte. Und tatsächlich trat da ein vieldeutiges Grinsen auf sein Gesicht, er kam bereitwillig auf sie zu, stieg aus seinen Klamotten und zu ihr in die Wanne. Jetzt war er ganz bei ihr, und als er sich auf sie legte, fühlte sie eine ungewohnte Erregung in sich aufsteigen, eine wütende Lust beinah, und sie musste ihn schlagen und kratzen und immer wieder eng an sich pressen, um sich mit aller Macht von diesem beklemmenden und doch berauschenden Gefühl zu befreien.
„Du weinst ja“, meinte er hinterher überrascht.
„Ach wo“, erwiderte sie und wischte sich doch ein paar Tränen aus dem Gesicht. „Nur vor Freude“, flüsterte sie und hielt ihn fest in ihren Armen.