Читать книгу Kinderwunschkind - Annette Riemer - Страница 6

IV. Keiner weiß es, aber Karin

Оглавление

Keiner weiß es, aber Karin spürt etwas. Wenn sie nachts wachliegt und noch nicht einschlafen kann und sich fragt, was wohl das Baby in ihrem Bauch macht – dann ist es immer da: dieses Gefühl, das mit der befruchteten Eizelle in ihr irgendwas nicht stimmt.

Mit Stefan kann Karin nicht darüber reden, weil Stefan ein Mann ist und sie nicht versteht. Wie könnte er auch? Er freut sich, dass es gleich im zweiten Monat geklappt hat, er freut sich, weil sie jetzt ihre Tage nicht mehr hat. Neun Monate nonstop, denkt er, der Dumme (als ob Karin nur dafür da wäre). Er freut sich, weil alles nach Plan läuft: drei Kinder, und das ist ja auch Karins Plan.

Gerade Karins Plan.

Nur kann sie sich nicht so ganz freuen.

Denn immer, wenn sie es versucht, sind da diese komischen Ahnungen. Die hatte sie nicht, als sie damals mit Max schwanger war. Oder zumindest kann sich Karin nicht an so was erinnern. Manchmal versucht sie es, und dann fällt ihr ein, dass sie überhaupt ziemlich viel vergessen hat von all dem, was damals mit ihr und Max so alles war. Wie sie sich gefühlt hat. Wie sie sich gefürchtet hat. Wie fertig sie war. Und dann denkt Karin, dass es vielleicht nicht immer so richtig prickelnd ist, immer nach Plan und nach vorne zu schauen. Weil es dann eben manchmal echt schwer fällt, zurückzuschauen. Und jetzt ist Max schon wieder so groß und jeden Tag mehr – und Karin hat ihn doch gebaut und geboren und seitdem fast jeden Tag um sich – und weiß doch nicht mehr, ob sie diese düsteren Ahnungen schon damals mit ihm hatte. Und dieses Damals ist eigentlich nur ein paar Jahre her.

Werde ich alt und deshalb vorsichtig, überängstlich – ist es schon zu lange her seit Max, fragt sich Karin, obwohl sie es doch im Grunde besser weiß. Noch ist sie nicht in dem gefährlichen Alter, noch liegt sie in der Zeit. und im Plan. Und trotzdem fühlt sich diese Schwangerschaft anders an als die erste. Da ist sich Karin immer sicherer. Dieses Mal ist es anders als mit Max. Naja, tröstet sie sich, jedes Kind ist halt auch anders. Vielleicht wird es ja auch ein Mädchen. Das wäre dann halt eben auch nicht zu ändern.

Wie Stefan so seelenruhig schlafen kann, versteht Karin nicht. Er hat sie geschwängert und ist davon so erschöpft, dass er einfach nur noch schlafen will. Karin hat ihn aber auch gefordert. Jetzt, wo sie schwanger von ihm ist, hat sie keinen Bock mehr auf Stefan. Das sagt sie ihm aber nicht, weil es so ganz auch nicht stimmt. Sie liebt Stefan. Und sie liebt ihn, obwohl er herzkrank und vielleicht bald nicht mehr da ist. Das ist ihr Schicksal. Wo die Liebe hinfällt, bleibt sie liegen – daran glaubt Karin ganz fest. Außerdem liebt Karin Stefan, weil er ihr Kinder macht, Kinder, die Karin vergessen machen, dass Stefan irgendwann nicht mehr da ist. Dann hat sie seine Kinder und damit auch ihn und dadurch ist er nicht ganz so weg und sie nicht ganz so allein. Und wenn alles nach Plan geht, hält Stefan wenigstens bis 53 Jahre durch. So alt ist sein Vater geworden.

Und wenn Stefan früher stürbe, wäre Karin, da ist sie sich felsenfest sicher, zuerst enttäuscht darüber und dann erst traurig deswegen.

Schon wieder hat Karin an den Tod gedacht. Schon wieder liegt sie deswegen wach. Ob das mit der Schwangerschaft zusammenhängt, wegen Leben und Tod und beidem so nah beieinander – oder nur wegen dieser einen Schwangerschaft, bei der irgendwas, das Karin nicht benennen kann, anders wirkt, und bei der vielleicht sogar irgendwas nicht stimmt.

Das Kind in ihr treibt Karin um und macht Karin zu schaffen. Morgens ist ihr übel, da verkraftet sie das Aufstehen nicht. Dreimal die Treppe rauf und runter und Karin tun schon die Füße weh. Es zieht im Rücken und dann presst sich ein unbeschreiblicher Druck durch ihre Innereien, bis er am Magen angekommen ist. Dann ist Karin wieder übel. Aber das hatte sie alles auch bei Max, das hat sie vorher gewusst und von daher macht sich Karin deswegen keinen Kopf. Karin, so viel steht fest, ist vorbereitet, die Schwangerschaft war ja geplant. Stimmungsschwankungen verkneift sie sich mit Rücksicht auf Stefan. Sie ruht sich viel aus, macht zwischendurch immer mal eine Pause, sie lässt Stefan ihre Füße massieren – im Gegenzug für ihre Rücksichtnahme, von der er nichts weiß, weil sie ihm das nicht sagt, weil er es eh nicht verstehen und zu würdigen wüsste. Er ist halt so. Karin kennt ihn, Karin kannte ihn schon immer – deshalb passt er ja so gut zu ihr und in ihren Plan. Nur mit dem Herzproblem, denkt sich Karin, nur damit hat er sie hintergangen.

Karin trinkt jetzt viel Tee statt Kaffee und ist noch öfter im Garten als sonst eh schon. An der frischen Luft eben. In der Natur, die hier aus hundertfünfzig Quadratmetern besteht (vor dem Haus sind noch mal ein paar Quadratmeter Steingarten und Vorgarten und Hecke, aber die zählen nicht ganz, weil gleich dahinter die Straße ist mit ihrem Asphalt und dem Lärm morgens und nachmittags und weil dort Karin jeder sieht).

Manchmal fragt sie sich, ob sie jetzt schon mit dem Bauch reden sollte, wenn sie ihn einölt wegen der Schwangerschaftsstreifen und damit die Haut nicht reißt. Oder ob sie Musik dabei spielen sollte, irgendwas Klassisches. Oder ob sie es ihren Eltern schon sagen sollte, damit es endgültig und unumstößlich echt und real wäre. Oder ob es vielleicht auch schon reichen würde, wenn Stefan seine Hand auf ihren Bauch legte. Aber daran zweifelt Karin dann doch: weil da ein komisches Gefühl in ihr ist, wenn sie nach dem Baby in ihr forscht. Mit all ihren ganzen Sehnen und Muskeln und dem Blut forscht sie und weiß bald: Lieber nichts den Eltern sagen, lieber nicht Stefan so genau danach fühlen lassen. Denn diesmal ist nicht nur irgendwas, sondern gleich alles komplett anders: Diesmal stimmt da irgendwas aber so was von nicht.

Die Frauenärztin spritzt Karin immer wieder das kalte Gel aus der Tube auf den Bauch, den man noch gar nicht richtig sehen kann. „Nee“, sagt sie und fährt mit dem Ultraschallgerät über die glänzende Haut, „sieht ganz gut aus, alles dran, was dran sein muss. Freuen Sie sich ruhig, das wird ein ganz prächti ...“ Mehr will Karin nicht wissen, wegen der Spannung. Sie wedelt mit den Händen, damit die Frauenärztin schweigt. Stefan, der zwar nicht hier ist, aber Karin vielleicht dann doch etwas anmerken könnte, wenn sie es schon weiß, Stefan soll im Kreissaal dabei sein und es erst dort und auch als erster erfahren. So war das schon bei Max und schön gewesen und so war das genau richtig für sie beide. Junge oder Mädchen, das soll nebensächlich bleiben – und gleichzeitig auch eine Riesenüberraschung. Hauptsache gesund, denkt sich Karin und bekommt eine Gänsehaut dabei. Nicht nur wegen dem kalten Kontrastgel auf ihrem Bauch.

„Sie müssen sich schonen, auch von innen. Sie müssen jetzt entspannen“, rät die Ärztin, die es schließlich wissen muss. „Stress und innere Blockaden stören das Kind. Stellen Sie sich vor: Das kriegt jede Regung von Ihnen mit, auch die im Geist.“ Und weil Karin nur das Beste für ihr Kind will, plant sie jetzt noch mehr Entspannungspausen ein und legt sich nachmittags häufiger aufs Sofa und pausiert auch von Max und hört eben jetzt doch klassische Musik. Und weil sie die nur ganz kurz ertragen kann, dann schnell wieder Smooth Jazz und Kuschelrock.

Das entspannt auch.

Sonst.

Immer.

Aber leider jetzt nicht, weil es trotz der Musik so ruhig im Wohnzimmer ist. Beängstigend ruhig beinahe schon. Das lässt Karin nachdenklich werden und sie stellt sich vor, dass dem Kind vielleicht die eine Niere nicht richtig wächst. Im Fernsehen hat sie mal gesehen, dass man das heute schon operieren kann, wenn das Kind noch im Bauch der Mutter und noch gar nicht richtig da ist. Das ist enorm riskant, aber möglich. Möglich auch, dass sich das Kind trotzdem ganz normal entwickelt und normal geboren wird und dann normal ist. Auch geistig. So was gibt’s, Karin hat es gesehen.

Aber was ist mit den Krankheiten, die man nicht sehen kann, weil vielleicht die Geräte der Frauenärztin dafür nicht ausreichen? Oder ihr Sehvermögen? Das sind doch eh nur alles schwarze Schatten auf dem Bildschirm, da kann man schnell etwas übersehen. Aber dieses Etwas ist vielleicht gerade wichtig. Und dann wird es nicht operiert und wächst sich aus und dann kommt das Baby zwar normal auf die Welt und alles war ganz okay, aber ist dann eben nicht normal und hat was. Zum Beispiel eine kaputte Niere.

Karin wird kalt bei diesem Gedanken. Lässt es sich eigentlich noch gut mit nur einer Niere leben? Und was wächst da, wo die zweite Niere sein müsste? Nervös geht sie ins Kinderzimmer und spielt mit Max, der seine Eisenbahn endlos auf den Schienen kreisen lässt. Immer im Kreis lang, immer die rote Lokomotive vor den gelben Anhängern. Max sitzt in der Mitte von dem Gleiskreis und lässt die Lok kreisen. Er lacht nicht, es ist ihm ernst, er ist konzentriert und hat keinen Blick für Karin, die in letzter Zeit oft keinen Blick für Max hat, und so kann Karin nur zugucken. Ihre halbherzigen Fragen stören. Max hat keine Lust, mit Karin zu reden, wenn die Lok kreist. Und Karin hat eigentlich auch ziemlich schnell keine Lust mehr, mit Max zu spielen, und dann ist ihr langweilig dabei, aber sie versucht trotzdem, die magnetischen Anhänger so zusammenzustecken, wie Max es von ihr verlangt. Wenn er es nicht gleich selbst macht. Aber Karin will doch dabei sein! Als ob die Nähe von dem baldigen Bruder dem anderen Kind guttun würde. Und ihr auch ein bisschen.

Aber dann fährt Max wieder zu schnell mit der Lok, wieder springt ein Wagen ab – und Karin darf nicht mehr den einen an die anderen stecken. Max will lieber alleine spielen. Vielleicht spürt er ja, dass Karin eine Mogelpackung mit sich rumschleppt, denkt Karin ängstlich. Vielleicht spürt er auch, dass ich nur halb dabei bin und nicht direkt wegen ihm.

Abends, als Stefan zu ihr rüberkommt, lässt Karin Stefan machen. Ohne Gummi, obwohl sie das nicht mag. Wegen der Laken und dem ganzen Dreck dann in ihr. Weil sie dann noch mal aufstehen und ins Bad muss und wieder kalte Füße bekommt, während er dann immer schon schläft, wenn sie zurückkommt und nicht einschlafen kann wegen der kalten Füße und dem nassen Fleck im Bett, neben dem sie sich wegschlängelt. Aber jetzt doch ohne. Als ob das zusätzliche Sperma dem Kind guttun würde. Nachträglich noch ein paar Gene mehr. Vielleicht sind bessere dabei. Vielleicht fühlt sich Karin irgendwann besser damit. Vielleicht fühlt sie sich dann unter Stefan einmal so geborgen, dass sie dem Kind in ihr dasselbe Gefühl vermitteln kann. Und dann hört das vielleicht auf, sich so seltsam in ihr anzufühlen.

Karin weint leise vor sich hin.

Stefan ist überrascht. „Was hast du denn?“, fragt er.

„Nix“, sagt Karin und wischt die Träne weg und versucht, so zu lächeln, dass es kaum anstrengt und trotzdem Stefan beruhigt, damit er Ruhe gibt.

Stefan sagt wieder: „Was hast du denn, es läuft doch alles nach Plan.“ Aber genau das bezweifelt Karin ja heimlich, nur für sich, und fragt kaum hörbar: „Und was, wenn nicht?“ Aber das flüstert sie so leise vor sich hin, ins Dunkel vom Schlafzimmer rein, und Stefan, der schon gekommen und deshalb schon ziemlich müde ist und eigentlich nur noch schlafen will, streichelt ihr den Hals und das Haar hinters Ohr und sagt nur: „Ach du nun wieder...“ oder „Sch, sch, sch“, als wäre das eine Antwort.

Aber weil Karin eben ganz dringend eine Antwort auf ihre Frage braucht – nicht für das Kind, sondern für sich –, geht sie noch einmal zum Arzt. Zu einem anderen, für weiterführende Untersuchungen. Weil sie noch nicht im kritischen Alter ist und auch keine genetischen Belastungen in der Familie hat und Stefans vererbtes Herzproblem außer Karin noch keinem bekannt ist, muss sie das ganze Fummeln und Piksen und Auswerten selbst bezahlen. Ein Heidengeld, aber wenn’s hilft! Und es hilft ja schließlich irgendwie auch dem Kind, wenn Karin wieder gut schlafen kann, ohne Sorgen. Und das wiederum hilft dann auch Stefan, der gar nicht weiß, dass er sich Karins Ruhe neuerdings kaufen muss und könnte. Das macht Karin für ihn.

Ruhe ist wichtig, überlebenswichtig, das hat ja auch die Ärztin gesagt, und insofern ist diese enorme Zusatzausgabe doch gerechtfertigt und damit eigentlich auch gar nicht so enorm, oder? Stefan muss es ja nun wirklich nicht unbedingt wissen. Und es ist ja nicht so, als ob Stefan es nicht hätte – sie es nicht hätten. Und man lebt ja auch nur einmal. Und es geht ja ums Leben!

Nun vergehen die Tage noch länger. Karin weiß nicht, ob sie sich und das Kind nach diesem Eingriff noch mehr als bisher sowieso schon ausruhen soll oder ob sie so weitermachen soll wie bisher, damit sie nicht so viel über sich und das Kind nachdenken muss, ob sie sich endlich weniger Sorgen machen soll oder ob sie nicht vielleicht übers Wochenende zu ihrer Mutter fahren soll, was immer etwas nervtötend, aber immerhin eine Abwechslung ist. Was soll sie nur tun? Ein Schluck Fruchtwasser fehlt jetzt in ihrem Bauch – vielleicht hat sie jetzt genau deshalb endlich einen Grund für das komische Gefühl in ihrem Bauch. Vielleicht fehlt dem Kind jetzt genau dieser Schluck. Karin fehlt für so eine Situation der Plan. Sie ist zum ersten Mal in ihrem Leben völlig planlos.

Und die blöden Ärzte trödeln mit der Untersuchung, die doch nun wirklich nicht so lange dauern kann. Karin denkt sich einen gleichgültigen, übernächtigten und kaum erfahrenen, weil gerade von der Uni kommenden Laborant in der Spätschicht, der ihr so kostbares, geradezu lebenspendendes Fruchtwasser in einem Reagenzglas nachlässig durchschüttelt. Da fällt ihm das Glas plötzlich aus der Hand, es fliegt durch die Luft und zerbricht auf dem blankgescheuerten Fliesenboden. Der Laborant ist spontan in Panik. Er ist doch erst seit ein paar Monaten von der Uni runter und der Laborchef hat ihn eh schon auf dem Kieker. Und damit niemand etwas merkt von diesem kleinen Malheur, das sich bloß nicht zu einer großen Sache auswachsen darf, pinkelt der Laborant heimlich in ein anderes Reagenzglas und fälscht die Tests. Und sagt am Ende: „Alles ist gut, Ihrem Kind geht es super. Und das Fruchtwasser kann jetzt auch wieder zurück in Ihren Bauch ...“

Karin schreckt schweißgebadet aus dem Traum auf. Wieder dieser Traum von dem dämlichen Laboranten, der ihr Fruchtwasser gar nicht wirklich untersucht, wieder dieser selbe Traum in Endlosschleife, an dessen Ende sie mitten in der Nacht heulend auf dem Badewannenrand sitzt. So fertig macht sie dieser Albtraum. So fertig macht sie diese Schwangerschaft, diese Unsicherheit.

So kann das nicht weitergehen, sagt sich Karin schließlich und ruft ihre Ärztin an. Und die ruft ihren Kollegen an: „Machen Sie mal hin, meine Patientin dreht hier langsam am Rad. Jaja, Sie wissen ja, die Schwangeren spinnen doch alle.“ So oder so ähnlich stellt sich Karin die Anfrage vor, aber das ist ihr schon egal. Und es stimmt ja auch ein bisschen: Sie spinnt wirklich langsam.

Und dann endlich ruft der Arzt Karin zurück. Dieser teure Facharzt, denkt sich Karin halb sauer, halb erlöst, hat es endlich geschafft, für das viele Geld, das Karin ihm in den Rachen geworfen hat, eine Schwester Karins Nummer wählen zu lassen: „Jaja, wir haben die Ergebnisse. Ja, die Daten liegen mir vor auf dem Tisch. Am besten, Sie kommen mal zu mir in die Sprechstunde – Heute ist Mittwoch, da nur bis zwölf. Aber Morgen wieder bis achtzehn Uhr, ja?“

Karin wartet natürlich nicht bis Donnerstag. Das wäre ja noch ein ganzer Tag. Und eine Nacht mit diesem dämlichen Traum von diesem dämlichen Laboranten. Nein, sie schnappt sich kurzerhand den verdutzten Max und flitzt los, trotz des üblen Gefühls im Magen und der Rückenschmerzen, die sofort losstechen, wenn sie Max nur hochnimmt. Der Wagen heult auf, als sie den Motor anlässt. Wie im Film, denkt sich Karin kurz, und dann: Warum hat er’s mir nicht direkt am Telefon gesagt?

Aber dann muss sie schon nach hinten gucken, weil der Wagen gerade aus der Einfahrt auf die Straße rollt.

Kurz vor zwölf meldet sie sich bei der Schwester. Die latscht ganz gemächlich über den Gang von der Klinik, weil sie nicht weiß, wie eilig es Karin hat. Ihr Bauch wurde durchleuchtet und abfotografiert, zwei Ärzte, drei Schwestern und ein Arzt im Praktikum haben ihr die Schnecke aufgehebelt und in ihr Innerstes geglotzt (was nicht mal Stefan von außen darf: so dermaßen unanständig einfach nur glotzen), ihr Fruchtwasser wurde rausgesogen und untersucht – und diese Schwester hier ist die Ruhe selbst, diese blöde Kuh (denkt sich Karin und bereut es auch gleich wieder, weil doch auch so eine blöde Sprechstundenhilfe kurz vor Feierabend mal latschen darf).

Karin muss warten. Im Wartezimmer sitzen ein Haufen blöde Leute, die dumpf vor sich hingucken. Eine blöde Frau, die dauernd hustet, füllt das blöde Rätsel in der blöden Frauenzeitschrift aus. Karin hält alle, die solche Zeitschriften lesen, für blöd. Generell und heute, gerade, im Moment und unter diesen Umständen – Entschuldigung! – ganz besonders. Und greift schließlich auch zu einer von denen, die da rumliegen, weil ihr so schnell so langweilig ist. Im Königshaus von Schweden, bei der letzten Gala in Berlin, das Ehegeheimnis von einem Moderator, den Karin nicht kennt ... Sie kann sich nicht auf die Texte konzentrieren, aber auf den Anblick des Stilllebens über der hustenden Frau oder einfach nur den Gang zum Arztzimmer auch nicht!

Dann ist sie dran.

Endlich!

Der Arzt überfliegt die Papiere, nickt kurz, weil er sie ja schon kennt, und nimmt dann die Brille ab. „Ich möchte nicht lange um den heißen Brei herum reden“, sagt er und redet trotzdem irgendwie drum herum. Zumindest denkt sich das Karin, die endlich Gewissheit haben will, die endlich hören will: Es ist alles gut. Damit endlich alles gut sein kann und auch ganz bestimmt wird. Also warum sagt er nicht gleich und sofort, dass alles gut ist? „Aber verraten Sie das Geschlecht nicht“, platzt es aus ihr mit zittriger Stimme heraus. „Das soll mein Mann als erstes erfahren.“ Nervös fummelt sie an Max’ Ärmel, den er nicht ausleiern soll. Max auf ihrem Schoß hat nur Augen für die ganzen bunten Büromittelwerbegeschenke, die wie eine Mauer auf dem Schreibtisch zwischen ihm und Karin auf der einen und dem Arzt auf der anderen Seite stehen.

„Als ich die Aussackungen im Halsbereich gesehen habe“, sagt der Arzt nun, „da war mir das eigentlich schon klar. Ich wollte nur noch mal auf Nummer sicher gehen. Und die Werte hier bestätigen meinen Verdacht. Wollen Sie mal schauen?“

Er hält ein Bild hoch, auf dem Karin nur schwarze Flecken erkennt, und deutet mit einem Kugelschreiber auf einige davon. Karin wird ganz schwarz vor Augen. Was soll das jetzt bitte heißen?

Max fällt sein Holzauto runter und Karin muss sich instinktiv danach bücken. Mit Max auf dem Schoss und dem Blick noch halb auf der Kugelschreiberspitze und den schwarzen Flecken. Gleich literweise schießt ihr das Blut in den Kopf und gluckert in ihren Ohren. Für einen Moment ist sie wie taub und muss den Arzt fragend anschauen, als sie wieder hoch kommt und ihn endlich wieder ganz anblicken kann. Weil er die Röntgenaufnahme wieder weggelegt hat und Karin wieder oben auf ist. Und dann schüttelt sie schnell den Kopf und das Blut zurück in den Bauch und senkt die Augenbrauen. „Ich verstehe kein Wort“, gesteht sie.

Der Arzt, der nicht drum herum reden wollte, sagt nun ziemlich ausschweifend: „Früher nannten sie das Mongoloid, aber das klingt eigentlich härter, als es ist. Und so schlimm ist das eigentlich auch nicht ... Letztendlich kann das bei jedem Kind anders sein. Und man kann auch heutzutage ziemlich viel korrigieren, allein mit Ergotherapie schon – reinste Wunder im Vergleich zu früher. Ich meine, zu viel Hoffnungen – nicht wahr? Aber trotzdem: Bei manchen merkt man es fast gar nicht. Nur halt bei den anderen ...“

Karin versteht noch immer nicht. Irgendwas muss der Arzt gesagt haben, als sie sich nach dem Auto bückte. Oder ging es durch sie durch, haben ihre Ohren auf eigene Verantwortung irgendwas nicht weitergeleitet. weil es vielleicht so besser wäre?

Der Arzt seufzt tief und Karin spürt, dass er gedanklich zum Tiefschlag, zum absoluten Knockout ansetzt. „Haben Sie schon mal was von Trisomie gehört?“, fragt er dann, „Trisomie einundzwanzig? Vielleicht kennen Sie es auch als Down-Syndrom? Sie wissen schon ... Die Chromosomen.“

Karin weiß gar nichts. Ihr Biologieunterricht ist lange her. Und ihr Fruchtwasser, denkt sie sofort, das kann doch nicht schlecht gewesen sein. Ihre Eizelle kann doch nicht schlecht gewesen sein, Stefans Sperma kann doch nicht – Max ist doch auch völlig gesund. Da muss ein Fehler unterlaufen sein, ja so war es. Das erklärt ja alles! Karin denkt an den schlampigen Laboranten aus ihrem Traum und an seine Pisse. Das muss eine Vorahnung gewesen sein! Die Untersuchungen müssen wiederholt werden, von einem anderen Laboranten – vielleicht sogar in einem ganz anderen Labor. Heißt es denn nicht immer, es sollten zwei Meinungen eingeholt werden? Irren ist menschlich. Und sind Ärzte nicht auch Menschen? Aber der Arzt schüttelt nur den Kopf, egal was Karin sagt. „An dem Befund gibt es keinen Zweifel. Das ist mehr als eindeutig. Und das war kein Urin da im Test.“

„Aber wir wollen doch ein Kind!“, kommt es aus Karin hervor. „Und noch eins!“

Der Arzt nickt. „Und Sie können es doch auch kriegen. Da spricht nichts dagegen.“

„Ja, aber“, sagte Karin und weiß nicht, wie sie es so richtig sagen soll, als es schon ganz entsetzt einfach so aus ihr herausschreit: „Aber doch nicht so eins! Wir wollten doch ein richtiges Kind. Und dann noch eins – Das Kinderzimmer ist schon gemalert, ich bin schon beim zweiten Socken ...“

Mit einem Mal kommt ihr eine Idee. Eine hässliche Idee, die sie zittern macht, aber sie zittert ja eh schon, seit der Arzt ihr diesen Mist, diesen elenden Mist erzählt hat. Karin hält Max, der sich darüber doch wundern muss, sicherheitshalber die Ohren zu und fragt: „Und wenn ich es wegmachen lasse und wir es nochmal versuchen? Das geht doch, oder? Das da“ – sie nickt zu ihrem Bauch runter – „das ist doch nur eine Ausnahme, oder? Die zählt doch nicht so wirklich richtig.“

Der Arzt sieht sie erst lange an, dann schüttelt kategorisch und unerbittlich den Kopf. „Die Wahrscheinlichkeit wäre dann trotzdem enorm hoch, dass es wieder Down-Syndrom hätte. Ihr Kind da“ – er nickt zu Max und lächelt ihn dabei scheinheilig an – „ist die Ausnahme bei Ihnen, nicht das Kind in Ihrem Bauch.“

Karin hält noch immer Maxens Ohren zu, was der Junge jetzt lustig findet, weil er es für ein Spiel hält. „Und wenn wir es trotzdem wegmachen?“

Der Arzt aber schüttelt wieder den Kopf. „Sie sind schon im dritten Monat. Das geht nicht mehr.“

„Auch nicht bei so was?“ Karin ist entsetzt. Als hätte ihr jemand ganz unvermittelt das Bein weggeschossen. So fühlt es sich zumindest an.

Der Arzt seufzt. „Sie sollten sich das wirklich noch mal überlegen. Kommen Sie doch in der nächsten Woche noch mal wieder rein, ja? Passen Sie auf, ich weiß, das ist hart. Aber besprechen Sie das doch erst mal in aller Ruhe mit Ihrem Mann und dann kommen Sie noch mal her. Und dann sehen wir weiter, ja?“

Karin sitzt im Auto und hat Max neben sich im Kindersitz und kann trotzdem noch nicht losfahren. Sie muss sich erst sammeln und fassen. Sie muss es erst fassen. Sie ist noch immer fassungslos. Max ist gesund. Nummer eins. Das Baby in ihrem Bauch ist nicht gesund. Nummer zwei. Jedes weitere Kind wird ganz sicher nicht gesund. Nummer drei. Und sie wollte doch immer schon drei Kinder haben.

Jetzt rechnet sie noch einmal nach: Max ist schon da. Mit ihm lag sie voll in ihrem Plan. Das nächste Kind ist unterwegs und schon fest eingeplant. Und auch wieder nicht. Es steht noch nicht fest, ob es kommen darf, so völlig neben dem Plan. Aber eins ist sicher: Eine Nummer drei wird es nicht geben. Das geht doch nicht, denkt sich Karin, und man müsste doch verrückt sein! So was darf man doch nicht provozieren und mit Absicht machen, so ein – denkt Karin und denkt nicht weiter, weil sie nicht weiß, wie sie von dem Kind in ihrem Bauch denken soll, ohne es zu beschönigen und ohne es zu beleidigen, weil es ja trotzdem in ihr drin und schließlich auch ein Teil von ihr ist. Und sie muss automatisch weinen. Das kann man doch nicht machen, noch – eben so ein Kind. Zweimal eine Niete. Und geht das überhaupt auch nur einmal?

Sie weint noch, als sie den Motor anlässt, der jetzt nicht mehr so dynamisch und großartig wie im Film aufheult. Egal wie, sie wird sich nach diesem Kind definitiv die Gebärmutter rausnehmen und die Eierstöcke kappen lassen, beschließt sie, als sie über den Parkplatz zieht, und weint noch mehr. Sperrzone, verseuchtes Gebiet, unfruchtbare Steppe. Da wächst nichts Gutes, nur Krüppelkiefern. Und so was darf man nicht noch riskieren, so was will sie auch nicht noch einmal in ihrem Bauch haben, auf keinen Fall.

Weil sie so zögerlich fährt und überhaupt noch ganz bei ihren kaputten und furchtbaren Eierstöcken, die so was auf ihren Bauch loslassen, ist, nimmt ihr so ein dreckiger Saftsack die Vorfahrt. Karin merkt es kaum, so verheult guckt sie in die Landschaft.

Jemand hupt hinter ihr, weil sie wie ein Blindfisch durch den Kreisverkehr kreuzt, aber Karin achtet nicht darauf.

Ihr schöner Plan, ihr Lebensplan, wurde gerade durchkreuzt.

Und das ist viel schlimmer.

Kinderwunschkind

Подняться наверх