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Ellen. Eine Leiche. Und sie.

Berenike schloss die Augen.

Das ist jetzt bitte nicht wahr! Alles nur eine Sinnestäuschung, Schimäre, weiter nichts – bitte! Nicht heute, nicht nach allem, was …

Dieser Tag war doch viel zu schön für Grausamkeiten. Der Fasching war verbrannt, die närrische Zeit würdig verabschiedet. Die leeren Geldtascheln waren ›gewaschen‹, die letzten Feste gefeiert, der Frühling konnte kommen.

Berenike ließ sich für einen Augenblick von der unschuldigen Sonne das Gesicht wärmen, ließ sich ablenken von den lärmenden Vögeln, der nach Frühling duftenden Erde. Und wenn sie einfach weiterginge? Wenn sie täte, als ob wirklich nur ein Baumstamm im Wasser triebe – und nicht eine Person, der Berenike nie mehr zu begegnen gehofft hatte?

Immerhin war Sonntag, sie hatte doch auch ein Recht auf einen freien Tag, auf Erholung, um dem Rücken mal gut zu tun.

Und da war schließlich noch Ellen, der sie sich in Ruhe hatte widmen wollen. Endlich war es Berenike gelungen, ihrer Freundin am Wolfgangsee einen Besuch abzustatten. Ellen hatte Berenike ihre neue Wohnung gezeigt, ihr Bildhauerinnen-Atelier. Von dem Mordfall in Hallstatt, bei dem ihre gemeinsame Tanzlehrerin getötet worden war, sprachen sie hingegen nicht. Dann schon lieber von den künstlerischen Andenken, und wie Ellen diese noch besser an Touristen verscherbeln könnte, Kitsch hin oder her.

Ellen hatte ihre neueste Steinskulptur vorgeführt. »Sie ist der toten Göttin im See gewidmet, hab ich dir von ihr erzählt?«

»Nein.« Neugierig hatte Berenike auf Ellens Erläuterungen gewartet, während die schwarzen Haare das Gesicht der Freundin halb verdeckten.

»Vor Strobl liegt tief im klaren Wasser eine Steinformation, die ich für mich die ›Göttin im See‹ getauft habe. Man sieht sie nur, wenn man rausschwimmt, nicht vom Ufer aus. Vielleicht war sie wirklich einmal ein heidnisches Standbild.«

»Wer weiß!« Berenike liebte solche Geschichten, liebte es, sich vorzustellen, wie das Leben zu einer früheren Zeit gewesen sein mochte. Solche Träumereien waren viel besser als düstere Leichen und die Ergründung ihrer Todesursachen. Noch dazu in ihrer momentanen Situation. Sie fühlte sich immer noch ein wenig angeschlagen.

In Ellens Garten hatten sie dick eingemummt Earl Grey getrunken, waren schließlich gemeinsam losgezogen und genüsslich am Ufer entlangflaniert. Endlich war Berenike die Ablenkung von allem, was hinter ihr lag, gelungen. Sie hatte nach dem viel besungenen Wolfgangsee Ausschau gehalten, von dessen flaschengrünem Wasser man nicht viel zu sehen bekam. Alles war verbaut, wie oft in Österreich. Umso teurer ließen sich dafür Hotels oder Gasthöfe ihren Seeblick bezahlen.

Und mit der Ablenkung kehrte die Vorfreude auf Jonas zurück. Ihr Liebster würde sie morgen endlich wieder besuchen. Mehr als zwei Wochen hatte sie ihn nicht zu Gesicht bekommen, fast drei. Seine Absagen hatten sich fast wie Ausflüchte angehört, sie hatte schon gedacht, dass sie ihn mit ihrem Freiheitsdrang vertrieben hatte. Doch er hatte als Abteilungsinspektor der steirischen Kriminalpolizei eben viel zu tun. Ständig wurde Personal eingespart, Planstellen wurden nicht nachbesetzt. Und die Fahrt von Graz ins Salzkammergut dauerte ihre Zeit.

Vielleicht war es gut, dass sie letzte Nacht allein gewesen war. Dann konnte er keine Fragen stellen. Berenike schüttelte den Kopf über sich selbst. Als stünde sie neben sich, würde jemand anderem zusehen, der tat, was sie getan hatte. Komisches Gefühl, sich dermaßen hinreißen zu lassen. Sie durfte sich jetzt nur nichts anmerken lassen …

Ihre Gedanken wanderten zu Jonas, wie er in der Tür stehen würde, wie sie den Arm nach ihm ausstrecken würde. Sie spürte fast seine Haut unter ihren Fingern, seine raue Wange an ihrer Wange, und wie sie ihn küssen würde. So ganz oder gar nicht. Es war dieses perfekte kleine Glück – dieser eine Moment, ehe alles zerbrach. Wenn sie später daran zurück dachte, fragte sich Berenike, ob sie etwas geahnt hatte. Und ob sie es hätte festhalten können, das Glück. Und wie.

Während sie mit immer noch geschlossenen Augen diesem Faden ihrer Verbindung nachspürte, erklärte Ellen etwas über ein nahe gelegenes Gut, das in der Nazi-Zeit arisiert worden und später in den Besitz der Republik übergegangen war. Ohne dass je wer darüber geredet hätte, ob hier Unrecht geschehen sei, ob der Kauf unter Zwang zustande gekommen oder der Preis vielleicht zu gering ausgefallen war. Berenike hörte nur mit halbem Ohr hin, sie kannte solche Geschichten.

Ellen räusperte sich. »Trotzdem bin ich froh, dass ich hierher gezogen bin. Weißt du, Berenike, ich musste mein Leben umkrempeln.« Ihre Stimme war klarer, härter. Ganz anders als früher, als sie noch mit Sven zusammen gewesen war. Sven – der war eine Nummer gewesen. »Wenn du das miterlebt hättest, wie mich in Hallstatt alle angeschaut haben! Als wäre ich der Mörder, nicht er.«

»Ist die Scheidung durch?«

»Ja, alles glattgegangen, mithilfe meiner Rechtsberaterin. Erst wollte ich noch … na ja … ihm eine Chance geben, du weißt schon.«

Berenike nickte. So etwas hörte man oft von Frauen, deren Partner gewalttätig geworden war. Die Trennung von einem, in den man mal schwer verliebt gewesen war, entschied frau eben nicht so schnell.

»Dann war mir klar, ich kann mit ihm nie wieder zusammen leben, auch nicht nach seinem Gefängnisaufenthalt. Es war schon lange nicht mehr richtig zwischen uns. Du kennst ja die Geschichte. Hier habe ich von vorne angefangen. Kaum jemand kennt mich, die wenigsten hier wissen etwas über mein früheres Leben.«

»Ich versteh das«, sagte Berenike. »Ich versteh das gut.« Neues Leben, das kam ihr bekannt vor. Genau das hatte sie sich im Salzkammergut aufgebaut. Nach ihrem wilden Leben in Wien als Eventmanagerin. Heute fragte sie sich, wie sie den Wahnsinn je ausgehalten hatte. Sie würde alles tun, um nicht noch einmal flüchten zu müssen …

Sie öffnete die Augen und blinzelte gegen das grelle Sonnenlicht an. Der Körper im Wasser schaukelte noch immer an derselben Stelle. Sie konnte nicht einfach weitergehen, als ob nichts wäre. Das kam für sie nicht infrage, auch wenn sie noch so viel Interesse daran haben mochte, nicht mit der Leiche in Verbindung gebracht zu werden. Sie konnte nicht so tun, als ob da gar keine Leiche in der Ischl triebe. Berenike ahnte, ahnte es, wie sie es immer ahnte, dass dieses unförmige, sich mit der Strömung bewegende Etwas nicht nur ein Baumstamm war. Sondern ein Mensch. Ein toter Mensch.

Tot.

Das Wort sackte in ihr Herz. Verdunkelte die Umgebung. Sie sah auf, bemerkte eine kleine Wolke, die sich vor die Sonne geschoben hatte. Strobl war die kleinste der Gemeinden am See, weniger bekannt als Sankt Wolfgang mit seinem Weißen Rössl oder Sankt Gilgen, der ehemalige Wohnort von Mozarts Familie.

Ellen lehnte mit dem Rücken am Geländer der Brücke. Sie hatte tatsächlich noch nichts mitbekommen. Beneidenswert. Noch konnte man sich umdrehen und gehen, einfach gehen …

Schmelzwasser gluckerte und glitzerte in der aufs Neue hervorkommenden Sonne. Am Kirchturm begannen die Glocken zu läuten. Zwölf Uhr Mittag.

»Schön hier, nicht wahr?« Ellen rekelte sich wohlig, als würde sie gleich losschnurren. Ihre hellviolette Jacke passte wunderbar zu ihren schwarzen Haaren.

»Ein herrlicher Tag«, sagte Berenike und beobachtete, wie die Wolke die Sonne komplett freigab.

»Grüß dich!«, tönte eine forsche Männerstimme hinter ihnen. Ein großer Blonder in knallrotem Anorak und fast ebenso roten Backen war stehen geblieben.

»Servus, Johnny!«, grüßte Ellen zurück. »Du hier? Du kennst doch Johnny Fellerer, Berenike?« Ellen sah von einem zum anderen.

»Natürlich, wie auch nicht?« Den Mann mit seiner ungewöhnlich hellen Haut und den wässrig grünen Augen konnte man schwerlich vergessen. Sie fragte sich nur, wie man sich in den Alpen Johnny nennen konnte? Nur weil man nicht zum Hansi werden wollte?!

»Man kann eben nirgends inkognito hingehen.« Johnny zwinkerte Berenike zu. »So ist das, wenn man für die Medien schafft.«

Ihr blieb auch nichts erspart – da ging es Berenike wie Kaiser Franz Josef selig. Sie atmete tief durch und setzte ein neutrales Gesicht auf. Dann starrte sie auf das Etwas im Wasser. Vielleicht doch angeschwemmtes Holz?, hoffte sie wider alle Vernunft.

Johnny beugte sich neben ihr über die hölzerne Brüstung. »Was ist denn da?«

»Ich dachte, du bist heute privat unterwegs, Johnny! Und du, Berenike, was schaust du so schief?«

»Ich schaue immer schief, schon vergessen? Das ist mein Markenzeichen. Ich bin zur Transzendenz geboren.«

»Hör auf!« Ellen machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich will nicht wissen, was dir irgendein Verrückter mal geweissagt hat. Du hast was, mach mir nichts vor.«

»Soll ich bei einer Leiche vielleicht nicht mein inneres Gleichgewicht verlieren?«

»Eine Leiche?« Ellen wurde blass. »Wovon sprichst du?«

»Ah, da!«, rief der Reporter und schob den Oberkörper über die Brüstung.

»Das da vorne im Wasser. Kein Baumstamm, oder?«

Der Journalist setzte einen Fuß auf die Sprosse des Brückengeländers, stemmte sich mit beiden Armen hoch. Ein Balken knirschte. Er achtete nicht darauf, fasste den Fund im Wasser ins Auge.

Ellen kniff die Brauen zusammen. »Ich kann nicht wirklich was erkennen gegen das Sonnenlicht.«

Die Kirchenglocken dröhnten überlaut. Es roch nach Knoblauch und Schweinsbraten, typisch Sonntag. Irgendwo läutete quäkend ein Handy. Berenike verspürte Übelkeit, die sich zu ihrer Verspannung gesellte. Jetzt bloß nicht noch eine Kopfschmerzattacke!

»Grüß dich, Ellen.« Ein Dicker im schwarzen Lodenjanker stand bei Ellen.

Ellen fuhr herum. »Oh, servus, Anton.«

»Was schaut ihr denn?«, fragte der Dicke und beugte sich ebenfalls übers Geländer, auf dem Johnny bereits halb balancierte.

»Dieses Unglück letzte Nacht«, murmelte Ellen und kletterte die nasse Böschung neben der Brücke hinunter. »Das wird doch nicht …«

»Was für ein Unglück?« Berenike sah Ellen nicht an, hielt eine Hand vor Augen. Johnny stieg zurück über das Brückengeländer und sprang auf die Straße, knickte mit dem Knöchel um, stieß einen Schmerzensschrei aus, humpelte Ellen hinterher, außen herum den Abhang hinunter.

»Beim Schützenfest drüben in Sankt Gilgen.« Ellen rutschte auf dem feuchten Matsch und fuchtelte mit beiden Armen, um das Gleichgewicht zu halten. »Hab ich dich nicht ebenfalls da gesehen, Berenike?« Ellen sah zu ihr hoch. Sie lehnte an der Brücke, ihre Ledersohlen waren zu dünn und rutschig für den Matsch.

Sie musste vorsichtig herausfinden, wie viel Ellen wusste. »Ich war dort, das schon …«

Der Dicke glotzte, er roch ein wenig streng, wie er so neben Berenike stand. Johnny war fast bei Ellen angekommen.

»Du warst bei der Demo, oder?«, fragte Ellen.

»Das ist nicht verboten.« Zeit schinden, Berenike! »Was hat das mit der Leiche zu tun?«

»Die Demo, jaja.« Wenn dieser Johnny nur mit dem Zwinkern aufhören würde!

»Hast du nicht mitbekommen, was am Rande davon passiert ist, Berenike?« Ellen hielt auf halber Höhe der Böschung inne.

»Was meinst du?«

»Eine Schlägerei, habe ich gehört«, fing Ellen an, wurde aber durch einen Aufschrei unterbrochen.

Johnny in seiner roten Jacke war rücklings im Matsch gelandet. Hübsches Bild, farblich gut abgestimmt. »Oh, shit!«

»Hast du dir wehgetan?« Ellen machte ein paar tapsige Schritte zurück zu ihm, streckte einen Arm nach Johnny aus.

»Lass nur«, wehrte der ab und hievte sich auf, indem er sich mit den Händen auf der nassen Erde abstützte. »Wenn nur dem Fotoapparat nichts passiert ist.« Er tastete die Brusttasche seines Anoraks ab, atmete auf.

Der Dicke grinste verhohlen, sah dann ernst drein, als Berenike ihn anblickte.

»Jaja, so wirklich friedlich war diese Demonstration nicht«, feixte Johnny und versuchte, sich die Hände sauber zu reiben. »Muss der Frühling sein. Der Föhnwind steigt manchem zu Kopf.« Kopfschüttelnd klopfte er auf seine Hose, als könne er auf diese Weise den Schlamm abbeuteln. Was natürlich sinnlos war.

»Ich hab nicht viel sehen können, ich bin nur vorbeigegangen, war mit Freundinnen unterwegs«, erklärte Ellen und tastete sich auf dem rutschigen Untergrund in Richtung Ufer vor. »Ich hab nur bemerkt, dass die Monika vom Narzissenfest-Büro irgendwie involviert war.«

»Die PR-Tante?«

Ellen nickte.

»Wie furchtbar«, murmelte Berenike und sah ihre Fußspitzen an. »Auch wenn sie eine Nazisse ist, wie’s im Buche steht. Zum Kotzen.«

»Eine Nazi-Frau? Du übertreibst, Berenike. Sie macht viel für die Region.«

»Jaja. Sicher.«

Ellen war endlich beim Ufer angekommen. »Eine schlimme Sache, das Ganze.«

»Trotzdem sollte man alte Nazis nicht als Ehrengäste zu einem solchen Fest einladen.« Berenike sah von einem zum anderen, blickte ihnen bewusst ins Gesicht.

»Hoffentlich hat das nichts mit dem Unglück nachher zu tun. Als die Monika später mit anderen aufs Eis raus ist. Hast du’s nicht gehört, Berenike?«

»Ich? Nein, ich bin früh heimgefahren, nachdem … die Demo zu Ende war. Was ist überhaupt passiert?«

Ellen zuckte die Achseln. »Weiß nicht genau. Eine bsoffene Gschicht. Ihr Glück war wohl nicht von Dauer.«

»Wieso?«

»Bei der Rückkehr wurde sie vermisst, die Monika Leitner.«

»Wie bitte?« Berenike erschrak. Davon zumindest hatte sie tatsächlich nichts mitbekommen.

»Ich hab davon gehört«, rief Johnny und nahm den Abhang erneut in Augenschein. »Ich muss das sofort festhalten.« Er schien hin- und hergerissen, blickte zu einem Parkplatz vor dem Wirtshaus, wo er wahrscheinlich seinen Wagen abgestellt hatte. »Zumindest ein Foto machen. Und dann die Fernseh-Kamera holen.« Er rutschte wieder los.

»Die halbe Nacht hat man nach ihr gesucht. Polizei, Wasserwehr, alles dabei. Sogar Suchhunde.« Ellen war bei dem unförmigen Hindernis im Wasser angekommen. Es hatte sich in Wurzeln und Zweigen am Ufer verfangen, lag im Schatten. »Heute Morgen haben sie den Polizeihubschrauber angefordert. Alles erfolglos. Ich fürchte, du hast recht, Berenike.«

»Womit?« Berenike fühlte, wie ihr Herz flatterte.

»Ja, womit denn, Ellen?«, wollte Johnny wissen.

»Was ist da nun wirklich?«, fragte der Dicke und beugte sich vor. Es roch nach altem Schweiß und fettigen Haaren.

Ellen suchte nach einem Ast, tupfte damit das Etwas an. »Das da ist ein … ein Bein. In brauner Strumpfhose.« Johnny rannte nun über den Schlamm, so gut es ging, sank neben Ellen auf die Knie, ließ seine Kamera klicken.

»Wir brauchen einen Arzt«, tönte der Dicke und rückte näher an Berenike heran.

»Kannst du rufen, Anton«, rief Ellen und schluckte krampfhaft. »Allerdings wird der nichts mehr ausrichten. Hier ist eine Tote. Kopf unter Wasser. Und es ist eine, die wir kennen, fürcht ich.« Sie sah Berenike lange an. »Wir brauchen die Polizei.«

*

Blaulicht, Folgetonhorn. Zumindest waren die Kirchenglocken zur Ruhe gekommen. Ein junger Priester mit blassem Gesicht sperrte die große Tür des Gotteshauses hinter sich ab und ging seiner Wege. Immer mehr Menschen beobachteten vom Ufer aus das Geschehen, schwatzten und riefen durcheinander, viele in Tracht. Eine junge Frau in einem kurzen schwarzen Dirndl mit ungewöhnlich tiefem Ausschnitt stand etwas abseits. Immerhin trug sie bei dem kühlen Wetter über dem Dirndl eine ebenfalls schwarze Strickweste. Sie lehnte sich weit über das Brückengeländer und beobachtete das Geschehen still. Ihre hellrot gefärbten Haare stachen aus der Menge hervor, ein lustiger kurzer, etwas struppiger Schnitt. Johnny war offenbar zu seinem Auto gelaufen und kam nun mit einer Fernsehkamera zurück. Nur die lebensgroße Skulptur eines in der Wiese liegenden Liebespaares beeindruckte das Geschehen gar nicht.

Berenike ließ sich hinter die anderen Schaulustigen zurückfallen. Sollte doch Ellen das diesmal alles durchexerzieren, mit der Polizei und der Zeugenaussage. Da war schon Inspektor Kain, ihr alter Bekannter. Sein Bauch wurde immer dicker. Markig warf er die Tür des Streifenwagens hinter sich zu, ein weiterer Uniformierter stapfte hinter ihm drein. Berenike atmete tief ein und aus. Gut, Kain zu sehen – jetzt würde alles seinen Gang gehen, selbst wenn der Mann nur Dorfpolizist war. Vorsichtig, halb hinter einem älteren Ehepaar versteckt und mit hoffentlich neutralem Gesichtsausdruck beobachtete sie, was er tat.

Langsam kämpfte Kain sich den rutschigen Abhang zum Flussufer hinunter. Tatsächlich kam er heil unten an, obwohl er ein paar Mal stolperte. Er ging halb um den Fund herum, begutachtete ihn von allen Seiten. Berührte den Körper leicht, seufzte. Beriet sich mit seinem Kollegen, ohne dass Berenike die Worte verstand. Griff zum Funkgerät, sagte irgendwas. Gemeinsam sperrten die Uniformierten den Bereich rund um die Fundstelle ab, scheuchten allzu eifrige Schaulustige weg. Das Stimmengewirr wurde noch lauter, Unmut war zu spüren.

»Geh, Franz, was soll das, lass mich doch schauen!«, schimpfte Johnny, der nun seine Filmkamera geholt hatte und sie auf die Tote und den Inspektor hielt. Er wollte sich an den Herumstehenden vorbeidrängen und unter der Absperrung durchtauchen.

»Nichts da!«, beschied Kain, »wenn ich sage, hier geht keiner weiter, dann geht keiner weiter! Und ›keiner‹ ist auch die Presse!« Damit funkelte er den jungen Journalisten böse an. Der trippelte nervös vor dem Absperrband auf der Stelle. Schon hielt er seine Kamera hoch – die Dinger waren heute ja ziemlich klein –, vor deren Auge prompt Kain mit der Hand wedelte. »Abschalten! Dalli!«

Murrend nahm Johnny die Kamera runter. »Jetzt sei doch nicht so, Inspektor! Das ist meine Chance, Mann! Ich bin nur freier Mitarbeiter, ich brauch das Geld! Mit einer G’schicht wie dieser könnt ich endlich punkten!«

»Mir egal, Johnny. Hier wird nicht gefilmt.«

Schmollend wartete Johnny auf eine andere Gelegenheit.

Bald darauf neuerliches Blaulicht und Sirenengeheul – die Feuerwehrtaucher. Vorsichtig stiegen sie ins Wasser und hievten den Körper ans Ufer. Sanft, als könnte man ihr noch wehtun, legten sie die Tote auf den Rücken. Berenike versuchte, zwischen Schultern und Köpfen der anderen etwas zu erkennen, ohne sich selbst zu zeigen, zumindest Kain gegenüber.

Tatsächlich. Es war wie befürchtet. Berenike biss sich auf die Lippen. Die Tote trug Dirndl, der Leib war dunkelgrün, der Rock rosa. Ein Stück der lila Schürze hatte sich um den Hals gewickelt. Die Farben der Ausseer Tracht also. Alles hatte sich vollgesogen mit Wasser, Algen hingen am Stoff, in den Haaren. Die blonden Locken trieften und klebten schwer von Feuchtigkeit um das schmale Gesicht. Etwas am Hals blitzte silbrig auf. Berenike kannte den Anhänger. Und die Frau. Leider.

»Jössas – die Monika«, rief Kain und sah auf, ihr scheinbar in die Augen – schnell duckte sich Berenike.

»Oh du meine Güte!«, entfuhr es Ellen.

»Als ich sie gesehen hab, war sie noch quietschfidel«, rief Berenike – und hätte sich gleich darauf auf die Lippen beißen können. Wie dumm von ihr, das zu sagen.

»Die lustige Moni!«, jammerte der Dicke, der irgendwie wieder neben Berenike zu stehen gekommen war. Dabei nestelte er an seiner Lodenjacke. »Sie war eine wirklich Lebenslustige!«

»Sie war mit dem Bernd zusammen, nicht wahr?«, fragte das Mädchen im schwarzen Dirndl.

Der Dicke zuckte die Achseln. »Bei der Moni weiß man das nie genau.«

»Und jetzt ist sie tot …«

»Also ist sie es tatsächlich«, flüsterte Ellen. »Ich hab es befürchtet.«

»Wer denn sonst? Eine Alte, die den Weg nicht gefunden hat?«, schrie jemand in der Menge mit heller Stimme und lachte. Keiner fiel in das Lachen ein.

Oh Göttin, hilf!, dachte Berenike. Sie musste sich irgendwas einfallen lassen, sonst würden es alle erfahren. Wenn man Johnny befragte, überhaupt. Wo war der eigentlich hin? Vorne an der Absperrung stand er nicht mehr. Dafür war die Frau im schwarzen Dirndl näher gerückt und machte große Augen.

Berenike wartete auf eine Reaktion von Inspektor Kain, dass er sie ebenfalls verscheuchen würde, doch der grüßte sie stattdessen. »Servus, Franzi! Bleib besser, wo du bist.« Für seine Verhältnisse hörte er sich direkt freundlich an. »Das ist kein schöner Anblick.«

Die Schwarzgekleidete nickte folgsam, doch ihre wachen Augen beobachteten alles. Der Inspektor beugte sich über die Tote, soweit das sein Bauch zuließ. Auf einmal war Johnny zurück – er hatte sich von der anderen Seite angeschlichen und hielt seine Kamera über den Kopf des Inspektors hinweg auf das Objekt seiner Begierde. »Stop!«, rief Kain. »Ich habe dir gesagt, hier wird nicht gefilmt.«

»Die Menschen haben ein Recht auf Information«, hielt Johnny dagegen. »Die Pressefreiheit …« Seine Kehrseite zierte der mittlerweile halb getrocknete Schlamm. Sah nicht wirklich gut aus.

»Hier gibt’s nichts zu informieren, merk dir das!«, zischte Kain streng, während er die Tote von Kopf bis Fuß maß: den schlanken Körper, der an den richtigen Stellen wohlgerundet war, bis zu den Füßen. Die Schuhe fehlten. Was hatte Monika für Schuhwerk getragen? Berenike erinnerte sich nicht.

»Hier liegt sicher ein, wenn auch bedauerlicher, Unfall vor«, sagte Kain schließlich.

Ein Unfall? Berenike zwang sich, in Deckung zu bleiben.

»Ein Unfall?«, rief Johnny, hielt die Kamera auf Kain, bis der nickte. Endlich packte Johnny sein Gerät ein.

»Sie wissen doch, die Vermisstensache letzte Nacht«, ergänzte Kain brummend.

»Aha, na schön«, murmelte Johnny und verschwand. Wenige Augenblicke später flüsterte es hinter Berenike. »Gehst du mit mir aus?« Johnny! »Ich wüsste was Interessantes zu bereden.« Der Mann hatte Nerven. Im Gegensatz zu ihr. Ganz im Gegensatz … Aber wenn Ausgehen mit Johnny der Preis war, damit alles unter Verschluss blieb …

»Ich hab keine Zeit«, zischte Berenike und stieß Johnny leicht, aber bestimmt zur Seite. Der sah sie aus grünen Augen komisch an und blieb einen Schritt weiter stehen.

Sie wedelte mit der Hand, um ihn zu verscheuchen. »Man sieht sich«, flüsterte er und zwinkerte schon wieder. Endlich war der Journalist weg, in der Menge untergetaucht trotz der roten Jacke.

Puh! Berenike sah die Tote an. Ein Unfall? Dass sie nicht lachte! Wie konnte sich Kain dessen nach kurzer, oberflächlicher Begutachtung überhaupt sicher sein? Der Inspektor kratzte sich gerade das bartstoppelige Kinn und blickte demonstrativ auf seine Armbanduhr. Es roch intensiv nach Schweinsbraten. Berenike spürte, wie ihr Magen rumorte. Sie aß seit Jahren kein Fleisch mehr, gleichzeitig spürte sie Hunger aufkommen.

»Wir müssen dann wohl die Angehörigen informieren.« Etwas entnervt sah Kain seinen Kollegen an. »Du weißt, die haben wir in der Nacht heimgeschickt.« Der zweite Streifenpolizist nickte und rieb sich ebenfalls das Kinn. Ohne Bartstoppel.

Immer mehr Menschen scharten sich um das Geschehen am Ufer, wogten gegen das Absperrband. Ein Auto hupte. Eine japanische Reisegruppe hielt Fotoapparate hoch, rund 20 Leute knipsten über das rot-weiße Band hinweg.

»Bitte, geht nach Hause«, forderte Kain. »Es gibt nichts zu sehen. Bitte. Griaß enk.«

»Aber …«, sagte jemand, während Berenike versuchte, an Kain vorbei auf die Tote zu linsen, auf ihren Hals, die Schürze. Sie sah zu wenig, weil sich Kain davorschob.

»Nichts aber. Der Amtsarzt ist schon da.« Kain zwinkerte einem Grauhaarigen mit Arzttasche zu, der sich bestimmt, fast hätte man sagen können rüpelhaft, einen Weg durch die schaulustige Menge bahnte. »Alles geht seinen Gang.«

»Das ist ja mein Zahnarzt!«, stieß Ellen überrascht hervor.

»Er ist Amtsarzt und kennt sich aus«, murrte Kain. »Er wird nichts anderes sagen als ich. Es war ein Unfall. Was für eine Schnapsidee, im Frühjahr aufs Eis zu gehen.«

»Waren halt gut drauf«, sagte ein Alter am Ufer. »Meine Güte. Haben wir auch gemacht, als wir jung waren, solche Albernheiten.«

»Aufs Eis gehen bei Tauwetter?«

Der Alte wiegte den Kopf. »Wer nicht wagt …«

»Wird eben Streit gegeben haben«, meinte ein Jüngerer in grauem Loden. »Vor dem Festzelt war ein ziemlicher Wirbel.«

Berenike verdrehte die Augen.

»Mei, das wird normal sein bei einem Schützenfest. Da geht’s hoch her.« Der Alte verzog die Lippen zu einem dürren Grinsen. »Wenn ich denk, in meiner Jugend, was es da Prügel gesetzt hat manchmal. Ach, was für ein armes Mensch …«

Am besten wäre, jetzt zu gehen. Doch die Angelegenheit ließ Berenike keine Ruhe. Kain durfte so etwas nicht als Unfall abtun!

»Hatte die Monika nicht einen neuen Freund?«

Der Alte zuckte die Achseln, der Gamsbart an seinem Hut wackelte, während er nachdenklich seinen Kopf hin- und herwiegte. »Ist sie nicht mit dem Kurt zusammen?«

»Nein, der ist passé.«

»Bitte geht jetzt«, übertönte Kain die Stimmen der Schaulustigen und breitete abwehrend beide Arme aus.

»Ellen?« Sie stupste ihre Freundin an. »Wir müssen irgendwas tun. Das schaut doch nicht nach Unfall aus, oder? Frag ihn, ob du eine Aussage machen musst.«

»Ich? Wieso ich?«

»Frag einfach!« Berenike warf Ellen einen auffordernden Blick zu.

»Na schön«, murrte diese leise und ließ Berenike stehen. »Müssen wir nicht – eine Aussage machen?«, fragte sie und trat mutig an Kain heran.

»Ach so, ja.« Kain sah in Berenikes Richtung. »Schon, aber das hat Zeit, Ellen. Kommst halt morgen auf die Wache. Und jetzt, bitte, geh aus dem Weg. Na komm schon, bittschön.«

Ellen tauchte in der Menge unter. Die Japaner knipsten immer noch, diesmal den Inspektor, wie er sich die Böschung hinaufarbeitete, wobei er immer wieder abrutschte. Irgendwo bellte ein Hund. Johnny packte seine Kamera ins Auto.

Dann war Ellen neben Berenike. »Du hast seine Antwort gehört, nicht wahr?«

»Ja, hab ich.« Sie sah Ellen irritiert an. »Und ich frag mich, was er hat? Kain ist doch sonst nicht vorschnell in seinen Ermittlungen, oder?«

»Nein, eigentlich nicht, auch wenn er es sich manchmal zu einfach macht. Vielleicht, weil er die Tote kennt?«, meinte Ellen.

»Alle kennen die Tote, oder?«

»Stimmt.«

»Jonas!«, zischte Berenike. Wenn sie schon mit einem Kriminalpolizisten liiert war, konnte sie ihn genauso gut gleich anrufen. Und ihm von der Toten mit der um den Hals geschlungenen Dirndlschürze erzählen. Musste halt aufpassen, was sie sagte. Vielleicht war er gar schon unterwegs.

Berenike trat von den Schaulustigen weg und wählte seine Handynummer. Sie schilderte die Umstände, deutete Kains Verhalten an. »Bin ich übersensibel«, fragte sie, »dass mich das irritiert?«

»Nein«, sagte er. »Das ist schon gut, dass du mich angerufen hast.« Er versprach, so schnell wie möglich nach Strobl zu kommen. »Ich hab hier im Büro alle Hände voll zu tun. Immer noch der Fall der entführten Kinder, bisher keine Spur zum Täter. Mal sehen, was der Hofrat will, ob ich den abgeben soll. Na egal. Bis später!«

Göttinnensturz

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