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Heilige dicke Riesentitten Von Gabrielle Cody
Оглавление»Man kann einen Gebärmutterhals nicht entmystifizieren.«
Annie Sprinkle
»Als Performance-Künstlerinnen haben Prostituierte nicht nur die Grenzen der akademischen und nicht-akademischen Öffentlichkeit gesprengt, indem sie das Pornografische und das Karnevaleske in diese Bereiche trugen, sondern sie haben damit auch eine neue soziale Identität hervorgebracht – die Prostituierte als sexuelle Heilerin, Göttin, Lehrerin, politische Aktivistin und Feministin – eine soziale Identität, deren Genealogie bis zur heiligen Prostituierten aus alter Zeit zurückverfolgt werden kann.«
Shannon Bell
Als kleines Mädchen lebte ich mit meinen Eltern im MaraisViertel in Paris. Die Straße, in der wir wohnten, die Rue des Rosiers, war berühmt. Eine Art inoffizielles Mahnmal für tausende von Juden, die während der Besatzung deportiert wurden, die man mitten in der Nacht, verraten von ihren nicht-jüdischen Nachbarn, ihrem Zuhause entriß. Inzwischen aber – abgesehen von den Goldenbergs an der Ecke und dem Tempel an der Rue Malar – säumten pikant duftende türkische Bäckereien und kleine, von Algeriern geführte Obstläden die Straßen des Viertels. Zufällig war die Rue des Rosiers auch eine beliebte Durchgangsstraße für die Damen der Nacht, die in den frühen Morgenstunden mit einem oder zwei Baguettes unter dem Arm von der Arbeit nach Hause gingen.
In meiner dunkelblauen Uniform, mit meinen blonden Zöpfen, die unter einem dicken Mantelkragen hervorlugten, und meiner vollgestopften Schultasche auf dem Rücken wurde ich auf meinem täglichen Weg zur Metrostation St. Antoine zu einem unauffälligen Teil des morgendlichen Treibens. Das kleine katholische Mädchen hatte nun, besonders an grauen Wintermorgen, die Aufgabe, möglichst unsichtbar, dafür aber schnurstracks auf die sicheren, warmen, rauchigen Treppenstufen der Metrostation zuzugehen und die Sticheleien der aus dem gesamten Maghreb nach Frankreich ausgewanderten Straßenkehrer zu ignorieren. Wenn sie nicht gerade die Rinnsteine der Stadt sauber hielten, lebten diese Männer, die seit Jahren von ihren Familien getrennt waren, dicht gedrängt wie die Sardinen unter den Wellblechdächern der Bidonvilles, den Elendsquartieren rund um Paris.
An einem solchen Morgen hörte einer dieser Männer auf zu fegen. Er sah mich durchdringend an und grabschte mir unbeholfen an die noch ungeformten, uniformierten Brüste. Genau in dem Augenblick mischte sich eine Frau ein. Sie sprach sehr ruhig. Sie erklärte dem Mann, daß sie für so etwas zuständig sei. Araber oder nicht, Jude oder nicht, arm oder nicht, sie sei dafür zuständig, und er solle das Mädchen in Ruhe lassen. War denn nichts heilig? Sie nahm meine Hand und brachte mich zur Metrostation. Das war meine erste Begegnung mit der Ethik der Prostitution. Für mich, die ich auf dem Weg in die Klosterschule war.
Jahre später hörte ich an einer amerikanischen Universität etwas über eine Aktivistin und Sex-Arbeiterin, die Performancekünstlerin geworden war, Leute aufforderte, mit einer Taschenlampe ihren Gebärmutterhals zu betrachten und die »Post-Porno«-Spaßpostkarten verkaufte. Ich gestehe, daß ich mich sofort an die Frau erinnerte, die sich für mich eingesetzt und den armen Straßenkehrer halb zu Tode erschreckt hatte.
Aber irgendwie schämte ich mich auch dafür, daß ich so viele Jahre lang das Klischee der »Nutte mit dem goldenen Herzen« als liebste Kindheitserinnerung mit mir herumgetragen hatte. Bis ich Annie Sprinkle traf.
Annie hat mir, unter anderem, beigebracht, daß Autobiografien nicht nur kreativ, sondern auch metaphorisch und transformativ sind. Die Antwort auf Klischees sind nicht keine Klischees, sondern bessere Klischees, dekonstruierte Klischees, rekonstruierte Klischees, performative Klischees. Kurz gesagt, Klischees, die sich nicht vor der eigenen Vergangenheit fürchten. Die französische Definition von Klischee ist anders als viele entlehnte Worte, die sich rasch in unzeitgemäßes Material verwandeln – malaise, soupcon, frisson –, kaum negativ besetzt: »Erfahrung, Bild, Negativ, Film, Prototyp.«1 Annie arbeitet mit und durch die verworfenen Verheißungen ihrer Lebenserfahrung im dialektischen Raum ihres Wandels von der Hure und Porno-Königin zum ehemaligen Mainstream-Pornostar, zur Post-Pin-Up-Fotografin, zur Aktivistin für die Rechte von Sex-Arbeiterinnen, transmedialen Künstlerin und lesbisch-feministischen Meerjungfrau. Durch diesen Prozeß zeigt sie auch, daß es nicht nur eine Klasse von Frauen gibt. Zu den Herausforderungen und dem Vergnügen, die Annies Arbeiten bereiten, gehört auch, daß sie theoretisch anspruchsvoll ist, ohne aber den Anschein zu erwecken. Sie verkörpert Theorie.
Ihre Souvenir-Postkarte mit Selbstporträt und dem Titel »Anatomie eines Pin-Ups« ist ein ausgezeichnetes Beispiel. Das Bild zeigt Sprinkle als Call-Girl im schwarzen Korsett mit Strapsen und hohen Absätzen, das mit angehaltenem Atem darauf wartet, ihrem Kunden zu Diensten sein zu dürfen. Aber der Witz geht auf Kosten des Betrachters. Das selbst-inszenierte Bild von Sprinkles verschwenderischem Dekolleté und ihrer anzüglichen Sexiness ist umgeben von graffiti-artigen, handschriftlichen Dementi wie »Brüste sind echt, aber sie hängen. BHs heben Brüste« oder »Eingeschnürte Lungen, ich kriege keine Luft« oder auch, »Meine Füße bringen mich um«. Wie Shannon Bell erklärt, zeigt »Annie (…) die Verbindung zwischen allen Frauen und weiblichen Pornostars und der Präsenz jeder einzelnen im selben Körper …«2 Ihre Dekonstruktion der Maskerade von Weiblichkeit und der Inszenierung von Verführung zeigt, daß es im Warenkapitalismus keine privaten Frauen gibt.3
Annie weist Herrschaft auf vielerlei Weise zurück. Mit ihren Auftritten imitiert sie die direkte, teilweise improvisierte Art, das Publikum anzusprechen, wie sie sie selbst in den Varietétheatern praktiziert hat. Gleichzeitig verweist sie aber auch auf die Hyper-Intimität der kommerziellen Verführung. Wir werden ständig an unsere Position als Konsumenten erinnert. Wir werden sogar als solche erst konstruiert. Annies para-theatralische Einwürfe lassen an Jahrmarktstände beim Karneval denken. Für ihre Fans sind es Gelegenheiten – im Sinne des »carne-vale« – Annies Körper aufzuwerten, indem sie ein »Titten auf dem Kopf«-Polaroid von sich machen lassen, ihre Köpfe eingerahmt von Annies kokosnußgroßen Brüsten, oder indem sie eines der vielen Sprinkle-Souvenirs in Form einer Pornogebetskerze, Gebärmutterhalsknöpfe, Postkarten, Pornovideos, Bücher oder Tittenbilder erstehen. Stets zwinkert uns Annie zwischen diesen selbst hergestellten Totems zu. Mit Ironie, Pastiche und einer ungerührten politischen Zweideutigkeit verkörpert Annie die Grundlagen der Postmoderne. Ihre zahlreichen öffentlichen Rollen stehen beispielhaft für das »gespaltene« Subjekt der Postmoderne und dieser Standpunkt zeigt sich nirgendwo ausgeprägter als in Annies kategorischer Weigerung, sich von Feministinnen aus der Anti-Pornografie-Bewegung in die stereotype Rolle des Opfers pressen zu lassen. Mit ihren Auftritten und ihrem radikalen Sex-Aktivismus zelebriert sie den experimentellen, psychisch riskanten, aber unweigerlich instabilen Charakter der Identität. Ihr Verständnis der anderen ist ebenfalls von dieser Vorstellung durchdrungen. Sie behauptet trocken: »Ich finde, Andrea Dworkin ist eine hervorragende Performance-Künstlerin.«4
Der Titel ihrer Autobiografie Post-Porn Modernist: My 25 Years as a Multimedia Whore sagt bereits alles über ihre Selbstwahrnehmung als dialektisches Bild – als Ware und Verkäuferin – und ihre Anerkennung der Durchlässigkeit der Grenzen zwischen Kunst und Pornografie, zwischen Selbstermächtigung und Objektwerdung, sowie der disneyartigen Performativität des marktförmigen Konsums. Wir alle sind Huren, scheint der Titel anzudeuten, aber ein paar von uns haben mehr Spaß dabei. In wahrhaft postmoderner Manier zeigt sich Annie auf dem grellbunten Umschlag in einem limettengrünen Tutu und mit Häschenohren, in denen sie wie Lily Tomlin als böse Prom Queen auf dem Abschlußball wirkt. Sie winkt mit einem Zauberstab in der einen Hand und kneift sich verspielt mit der anderen in die linke Brustwarze. Wie bei ihren Live-Auftritten scheint sie die fleischlichen Exzesse und die künstliche Ästhetik eines John Waters-Films zu übernehmen, präsentiert sich auf dem Cover als magische Hure in üppiger Verpackung, obwohl sie mit einem Großteil des Textes die Sakralität tantrischer New-Age-Praktiken heraufbeschwört. Und genau darum geht es. Das Zitat von Frank Zappa über dem Buchtitel läßt mit ironischer Eloquenz den Eindruck entstehen, daß »Amerika durch ihre Bemühungen ein besseres Land geworden ist«. Und tatsächlich, Annie ist ein nationales Gegenkulturgut, deren »Bemühungen« die der avantgardistischen Kunst selbst sind. Der Performancekünstler Frank Moore macht dies deutlich: »Avantgardistische Kunst ist die Art, wie eine Gesellschaft träumt, es ist die Art, in der eine Gesellschaft ihre Freiheit erweitert und gefahrlos das Verbotene erkundet, um gelassener zu werden. Die Gesellschaft braucht ihre Traumkunst, so wie jeder Einzelne träumen muß, damit er nicht verrückt wird.« 5