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Kapitel 2
ОглавлениеDanny
Es fällt mir schwer die Augen aufzuhalten. Aber noch viel schwerer als krampfhaft meine Augen offen zu halten, ist es dem Matheunterricht zu folgen. Die ganze Zeit muss ich an Maja denken. Anstatt sich damit zu beschäftigen, wie man die Gleichung löst, die an der Tafel steht, sehe ich sie vor mir. Ich sehe sie, wie sie in den dunklen Jeans und dem karierten Hemd, das sie gestern getragen hat, vor mir steht. Ihre braunen Haare, die sie zu einem Zopf gebunden trug, ihre braunen Augen. Da ich mich sowieso nicht auf den Unterricht konzentrieren kann, ziehe ich mein Handy aus der Hosentasche und beginne eine SMS zu tippen. „Hey Maja“.
So viel steht schon mal, aber was schreibe ich jetzt?
„Können Sie die nächste Aufgabe vorlesen, Daniel?“, reißt mich die Lehrerin aus meinen Gedanken.
Sie steht direkt vor meinem Tisch und durchbohrt mich mit einem bösen Blick. Muss sie mich ausgerechnet jetzt stören? Die Mitschüler um mich herum kichern. Es ist wohl nicht das erste Mal, dass sie mich bittet die Aufgabe vorzulesen, denn ihre Stimme klang sehr ungeduldig. Ich sollte also schnell antworten, aber von welcher Aufgabe redet sie überhaupt? Nico, mein Tischnachbar, deutet auf die dritte Aufgabe in meinem Mathebuch. Puuh, Glück gehabt. Ich lese meine Lösung vor. Sie ist nicht richtig, aber immerhin habe ich es versucht. Wer braucht schon Mathe, wenn man Surfprofi werden will? Glücklicherweise nimmt Frau Pätzold jetzt jemand anderen dran, der die richtige Antwort nennen soll. Lisa kann die Frage beantworten und ich habe wieder meine Ruhe. Erneut nehme ich mein Handy in die Hand und tippe weiter.
„Hast du heute Abend Lust ins Kino zu gehen?“
Aus der Kontaktliste wähle ich Majas Nummer aus und schicke die Nachricht ab. Dann stecke ich das Handy zurück in den Rucksack. Wenn es auf dem Tisch liegen bleiben würde, würde ich es die ganze Zeit anstarren. Trotzdem kann ich es nicht lassen, einige Male darauf zu schauen, doch auch als die Pausenklingel läutet, habe ich noch keine Antwort bekommen. Naja, Maja sitzt sicher auch im Unterricht und hat noch gar nicht gemerkt, dass ich ihr geschrieben habe.
Nach der Schule fahre ich mit dem Fahrrad nach Hause. Also eigentlich ist es ja nicht mein Zuhause. Mein Zuhause ist in Australien. Ist es nicht komisch, wie schnell man einen fremden Ort Zuhause nennt? Besonders wundere ich mich darüber immer im Urlaub. Schon am zweiten Tag sagt man nach einem Ausflug so etwas wie: „Komm, wir gehen jetzt nach Hause.“ Auch das schmale Reihenhaus im Kölner Süden wurde schnell zu meinem Zuhause. Ich habe wirklich Glück gehabt mit meiner Gastfamilie. Vom ersten Tag an habe ich mich bei ihnen wohl gefühlt. Die ganze Familie hat mich damals vom Flughafen abgeholt. Zur Begrüßung hatte meine kleine Gastschwester Linnea ein riesiges Plakat gebastelt und ihr Kängurukuscheltier mitgebracht. Auf der Autofahrt zu ihrer Wohnung haben mich alle mit Fragen gelöchert. Aber es kam nicht so rüber, als ob sie es nur aus Höflichkeit taten, sie wirkten wirklich interessiert an mir. Zum Abendbrot hat Sabine ein echtes kölsches Abendessen gekocht und als wir alle um den Tisch herum saßen und uns unterhielten, war mir sofort klar, dass es mir hier gefallen wird.
Schwungvoll stelle ich mein Fahrrad in dem kleinen Vorgarten ab und schließe die Haustür auf. Linnea kommt mir schon entgegen gestürmt und fliegt mir in die Arme. Sie hält ihr Lieblingskuscheltier, einen weißen, plüschigen Hund mit dem Namen Oskar, in die Höhe und ich begrüße auch ihn.
„Essen ist fertig“, ruft Sabine, meine Gastmutter, aus der Küche. Linnea rennt zurück in die Küche, wo sie beinahe über den Kater stolpert. Mit einem genervten Miauen huscht er aus der Küche. Wie immer herrscht hier Action, doch gerade das mag ich. In dieser Familie ist immer etwas los. Oft springen hier mehrere Kinder herum, da Linnea ständig Freundinnen aus ihrer Klasse mit bringt. Wenn sie zusammen spielen, hört es sich immer so an, als wäre ein ganzer Kindergarten in der Wohnung untergebracht.
„Wie war es in der Schule?“, fragt Sabine, während sie den Ofen öffnet. Es riecht nach ihrem berühmten Nudelauflauf.
„Ganz okay.“
„Hast du Hunger?“
„Und wie!“ Ich nehme mir eine große Portion und fange gleich an zu essen.
„Hast du heut noch was vor?“
„Ich wollte wahrscheinlich noch mit Jonas skaten gehen.“
„Linnea und ich sind heute Nachmittag bei einer Freundin von Linnea. Ist also gut, wenn du auch was vor hast.“
Nach dem Essen geh ich auf mein Zimmer. Ich krame mein Handy aus dem Rucksack. Es liegt ganz unten, unter allen Heften und Büchern und ich muss es erstmal von Kekskrümeln befreien, da die restlichen Kekse aus meiner Cookiespackung ausgekippt sind und sich in kleine Krümel verwandelt haben. Mist, eigentlich wollte ich einen davon zum Nachtisch essen. Immer noch keine SMS von Maja. Irgendwie enttäuscht es mich. Ich würde sie gerne wieder sehen. Aber eine andere Nachricht habe ich bekommen: von Jonas. Er fragt, ob das mit dem Skaten klappt. Ich sage zu. Skaten bringt mich schließlich immer auf andere Gedanken. Außerdem brauche ich nach dem Stillsitzen in der Schule dringend Bewegung. Sieben Stunden Schule sind einfach zu lang. Mein ganzer Körper verlangt nach Herausforderung. Ich ziehe mich um und mache mich mit meinem Board auf den Weg zur Domplatte.
Maja
Mit dem Rücken an die Wand gelehnt, sitze ich mit Leonie im Flur auf dem kalten, dreckigen Boden vor dem Musikraum und warte auf unseren Gitarrenlehrer. Wir sind viel zu früh dran und außer uns ist noch niemand da.
„Ich habe gestern Abend jemanden kennengelernt“, beginne ich.
„Gestern Abend? Bist du nach unserem Treffen nicht gleich nach Hause gefahren?“ Leonie schaut mich verwundert an. Dann wechselt ihr Ausdruck von verwundert zu neugierig.
„Wollte ich, aber ich habe drei Jungen an der Haltestelle getroffen, als die Bahn nicht kam.“ In Kurzform erzähle ich ihr, wie wir im strömenden Regen gewartet haben, ins Gespräch kamen und wir schließlich ein Bier miteinander getrunken haben.
„Einer von ihnen ist total süß! Er heißt Danny und hat so ein tolles Lächeln. Irgendwie habe ich gleich gespürt, dass er etwas Besonders ist.“
„Oh, was für eine schöne Geschichte!“, antwortet Leonie euphorisch. Ihre glitzernden Augen verraten, dass sie sich gerade alles in den buntesten Farben ausmalt.
„Leider kommt Danny aus Australien“, schließe ich die Erzählung ab.
Leonie schaut mich enttäuscht an. „Oh nein, ich dachte, dass ist so eine schöne Geschichte. Wie in einem Roman“, erwidert Leonie, ganz offensichtlich enttäuscht über das Ende meines Berichtes. „Seht ihr euch denn noch mal wieder?“
„Ich hoffe es! Ich habe ihm meine Handynummer gegeben, aber weil er schnell zum Bus musste, konnte er mir seine nicht mehr geben.“
Ich lehne den Kopf an die Wand und schaue zur Decke. In Gedanken betrachte ich die Stockflecken und Spinnenweben, die sich über die ganze Decke verteilen und zusammen ein Muster ergeben. Hoffentlich meldet Danny sich. Warum kann mein Handy nicht jetzt in diesem Moment klingeln? Wahrscheinlich habe ich mir noch nie so sehr gewünscht, den hässlichen schrillen Signalton meines Handys zu hören, wie in dieser Sekunde. Ich möchte nicht länger warten. Als ich Schritte neben mir höre, schrecke ich aus meinen Gedanken auf und blicke in die Richtung aus der die Schritte kommen. Es ist unser Gitarrenlehrer. Wir stehen auf und setzen uns ans Fenster des muffigen dunklen Musikraumes, um wenigstens ein bisschen Licht abzubekommen.
Irgendwie bin ich heute nicht richtig bei der Sache. Ich habe das Lied so oft zu Hause geübt, weil ich nicht schon wieder die einzige sein wollte, die die Akkorde nicht schnell genug wechseln kann. Gestern konnte ich es auch noch. Da waren meine Finger wie von selbst auf die richtigen Saiten gewandert, doch heute will es einfach nicht schnell genug klappen. Ich komme ständig aus dem Takt. Deswegen lege ich meine Gitarre genervt auf den Tisch und höre zu, wie die anderen Schüler „Sweet home Alabama“ spielen. Sie wiederholen es noch mehrere Male, doch ich habe keine Lust wieder einzusteigen. Ich komme ja sowieso nicht mit. Also nutze ich die Pause um mein Handy aus der Tasche meiner Jeansjacke zu ziehen. Ich klappe es auf, doch ich habe keine neue Nachricht. Enttäuscht lasse ich das Handy zurück in meine Jackentasche sinken. Leonie hat mich beobachtet und deutet meinen Blick genau richtig. Auch sie hört kurz auf zu spielen und sagt: „Jungen brauchen immer mindestens drei Tage bis sie sich melden. Es ist so zu sagen ein ungeschriebenes Gesetz einem Mädchen nicht vorher zu schreiben.“
„Warum? Das ist doch Quatsch.“ Ich kann mir nicht vorstellen, dass es stimmt. Alle Jungen sind doch anders.
„Doch! Wirklich! Frag Micke. Nach unserem ersten Treffen war es damals genauso. Ich dachte auch er schreibt nicht mehr.“
Vielleicht stimmt es doch, was Leonie sagt. Schließlich hat sie viel mehr Erfahrungen mit Jungen als ich. Vor Micke war sie mit Tobi zusammen und davor mit Nils und davor mit noch einem anderen Jungen, dessen Name mir gerade nicht einfällt. Ich muss mich wohl etwas gedulden. Leider gehört Geduld nicht gerade zu meinen Stärken. Aber mir bleibt nichts anderes übrig, schließlich habe ich seine Nummer ja nicht.
Danny
„Musst du immer auf dein Handy gucken?“ Linnea versucht mir mit ihren kleinen Händen das Smartphone aus der Hand zu nehmen, doch ich halte es fest. Wir sitzen am Küchentisch und spielen das Leiterspiel, momentan ihr Favorit. Ich lasse mein Handy wieder in der Hosentasche verschwinden. Linnea hat recht. Den ganzen Nachmittag habe ich es ständig herausgeholt, um zu schauen, ob ich eine Nachricht bekommen oder einen Anruf verpasst habe.
„Was ist daran so interessant?“
„Ich warte auf eine SMS!“
„Von wem?“
Ich seufze. Die Kleine ist ganz schön neugierig. Manchmal frage ich mich, ob ich als Kind auch so viele Fragen gestellt habe wie sie.
„Von Maja!“
„Biene Maja?“, fragt mich Linnea und ich muss lachen.
Sie guckt mich ein bisschen beleidigt an, so als ob ich sie auslachen würde, dabei tue ich das nicht.
„Nein, nicht die Biene Maja, sondern ein Mädchen, das Maja heißt.“
„Bist du in Maja verliebt?“, möchte meine kleine Gastschwester kichernd wissen.
„Ich habe sie erst einmal getroffen“, weiche ich aus.
„Du bist in sie verliebt!“ Linnea zieht das letzte Wort in die Länge.
Im selben Moment kommt Linneas Mutter mit zwei großen Einkaufstüten in die Küche. Sie hat wohl nur noch das letzte Wort gehört, denn sie fragt: „Wer ist verliebt?“
„Danny“, ruft Linnea und springt auf, um die Einkäufe zu inspizieren. „Mama, hast du mir ein Überraschungsei mitgebracht?“
Sabine nickt und sucht in den beiden bis oben hin gefüllten Tüten danach. Als sie es schließlich findet und ihrer Tochter gibt, strahlt diese überglücklich, setzt sich auf die Küchenbank und packt das Ei aus. Einen kurzen Moment sieht Linnea enttäuscht aus, weil keine Figur darin ist, doch dann freut sie sich über den bunten Kreisel, den sie gleich auf dem Küchenboden ausprobiert. Mein Handy piept und ich ziehe es hektisch aus der Tasche. Linnea kommt angerannt und ruft: „Ist es Maja?“
Schnell öffne ich die SMS und stelle fest, dass sie von Jonas ist. Enttäuschung steigt in mir auf. Ich muss damit aufhören, jedes Mal wenn mein Handy klingelt, einen halben Herzinfarkt zu bekommen. Die Frage ist nur wie? Denn jedes Mal hoffe ich, dass die Nachricht von Maja ist und jedes Mal bin ich traurig, wenn ich feststellen muss, dass es nicht sie ist, die mir geschrieben hat.
„Nein, Jonas. Er will nach dem Essen eine Fahrradtour mit mir machen.“
Ich tippe schnell eine Antwort und freue mich auf den Abend, auch wenn es mir ehrlich gesagt lieber gewesen wäre, die SMS wäre von einem anderen Absender gewesen.
Wie immer treffe ich mich mit Jonas an der Haltestelle vor der Universität. Das ist die Haltestelle, die ziemlich genau in der Mitte unserer Wohnungen liegt.
Jonas verzichtet auf eine Begrüßung und fragt gleich: „Wo geht es heute hin?“
Ich muss nicht lange überlegen. „Sollen wir zum Rhein fahren?“
Jonas nickt. Er fährt vor und ich folge ihm. Diesen Weg sind wir schon oft zusammen gefahren. Wir folgen dem Fahrradweg vom Zülpicher Platz zum Chlodwigplatz. Von dort dauert es nur noch etwa drei Minuten bis wir ans Wasser kommen. Jonas biegt nach rechts ab. Das ist die Richtung, die aus der Stadt herausführt. Biegt man links ab, kommt man schnell zum Schokoladenmuseum und danach zum Dom, doch wir fahren meistens in die entgegengesetzte Richtung. Je länger wir unterwegs sind, desto weniger Fußgänger und Radfahrer kommen uns entgegen. Erst liegen zu unserer Rechten noch einige Häuser, doch nach einer Weile biegen wir in einen Wald ein. Der Weg schlängelt sich zwischen den Bäumen hindurch. Das Blätterdach ist so dicht, dass der Rhein nur noch ab und zu in seiner matten blauen Farbe hindurch schimmert. Es ist uns schon lange niemand mehr entgegen gekommen. Ich beschleunige ein bisschen, um neben Jonas herfahren zu können. Dass ich mit Jonas in eine Klasse gehe, war ein echter Glückstreffer. Es gibt nicht viele Menschen, die genau so einen Bewegungsdrang haben wie ich, doch Jonas gehört ohne Zweifel dazu. Gleich am ersten Schultag hat er mich in der Pause gefragt, ob ich mit Basketball spielen möchte. Nach der Schule sind wir zusammen nach Hause geradelt. Wir wohnen nicht weit auseinander und haben somit fast denselben Weg. Rasend schnell ist zwischen uns eine Freundschaft entstanden. Bereits nach wenigen Tagen hatte ich das Gefühl, dass wir uns schon ewig kennen. Jonas kann manchmal genauso verrückte Ideen haben wie ich und er ist für wirklich jeden Spaß zu haben.
„Ich habe nächstes Wochenende sturmfrei“, sagt Jonas. „Ich mache eine kleine Party, nicht mit vielen. Nur ein paar aus unserer Klasse. Kommst du auch?“
„Klar!“, antworte ich und freue mich schon auf den Abend bei Jonas.
„Du kannst auch noch jemanden mitbringen.“
„Ich wüsste nicht wen“, erwidere ich.
„Macht nichts! Es kommen auch ein paar hübsche Mädchen“, erklärt Jonas. Dabei grinst er zu mir herüber.
Als ich nicht antworte, fragt er: „Hat sich Maja nicht bei dir gemeldet?“
„Nein. Aber cool, dass du ne Party machst! Wo sind deine Eltern?“, füge ich schnell hinzu, um das Thema zu wechseln.
„Bei meinen Großeltern in Bayern.“
Die Landschaft um uns herum wird zunehmend einsamer. Wir kommen an großen Wiesen und Feldern vorbei. Nur zwischendurch taucht zwischen ihnen ein Haus auf. Ich atme durch. Es fühlt sich gut an, ein bisschen Natur um mich herum zu spüren. Ich habe mich immer noch nicht daran gewöhnen können in einer so großen asphaltierten Stadt mit nur sehr wenigen Grünflächen zu leben. Ich vermisse oft die gigantische Natur Australiens. Es fehlt mir einfach aus dem Haus zu gehen und schnell einen Platz zu finden, an dem ich ganz alleine bin. In Köln sind immer so viele Menschen unterwegs, durch die ich mich irgendwie eingeengt fühle. „Wie hältst du das eigentlich aus, immer in der Stadt zu wohnen?“ Für einen Sommer ist es okay, aber immer könnte ich mir das überhaupt nicht vorstellen.
„Ich kenne es ja nicht anders. Ich bin hier geboren. Ich könnte nie auf dem Land leben. Hier ist immer so viel Action, darauf könnte ich nicht verzichten.“
Das kann ich verstehen. Ich genieße es auch, dass in Köln immer etwas los ist. Doch auf Dauer wäre das nichts für mich. Ich brauche die Weite der Natur. Wahrscheinlich stimmt es, was Jonas sagt. Man braucht das, woran man gewöhnt ist.
Maja
Lustlos drehe ich ein paar Runden durch die Turnhalle, um mich aufzuwärmen. Selbst das Einradtraining kann mich diesmal nicht ablenken. Normalerweise warte ich immer die ganze Woche sehnsüchtig darauf, dass es endlich wieder Donnerstag wird, aber heute kann mich das Fahren auf einem Rad ausnahmsweise mal nicht begeistern. Ich denke die ganze Zeit an Danny und frage mich, ob er sich noch bei mir melden wird. Wie immer riecht es stark nach einer Mischung aus Schweiß und Turnmatten. Irgendwie nehme ich den Geruch heute noch intensiver wahr als sonst. Beinahe stoße ich mit Martha zusammen, die in letzter Sekunde von ihrem Einrad springt und laut schreit. Es ist ziemlich eng in der Halle, wenn alle kreuz und quer fahren, weshalb man immer gut aufpassen muss, um niemanden umzufahren. Deswegen versuche ich mich zusammenzureißen und fahre zusätzlich so nah am Rand, wie es geht, denn dort herrscht weniger Verkehr als in der Hallenmitte. Nach ungefähr einer Viertelstunde ruft uns Julia, unsere Trainerin, woraufhin wir uns im Mittelkreis der Turnhalle versammeln. Nach einer kurzen Begrüßung beginnt sie mit uns über die Vereinsfeier zu sprechen, die in zwei Wochen stattfinden wird. Alle Abteilungen nehmen daran teil und meine Einradgruppe soll eine kleine Kür vorführen. Ich höre noch, wie sie erklärt, dass wir zu Beginn alle hintereinander einen Kreis fahren sollen, doch dann schweifen meine Gedanken ab. Ich höre nicht mehr, wie Julia den weiteren Ablauf der Kür erläutert. Ich schaue sie zwar an – sie sitzt schräg gegenüber von mir – und sehe, wie sich ihr Mund bewegt und sie das Erklärte mit wilden Handbewegungen untermalt, doch ich bekomme nicht mit, was sie sagt. Stattdessen höre ich Dannys Stimme in meinem Kopf. Seinen australischen Akzent, den man trotz seiner guten Deutschkenntnisse in jedem Satz hören konnte. Ich wünsche mir so, dass er sich endlich bei mir meldet. Als alle aufstehen, erhebe ich mich mechanisch und schaue mich um, weil ich sehen will, was die anderen machen. Schließlich habe ich keine Ahnung, welche Anweisungen Julia uns gegeben hat. Alle Mädchen bilden eine Reihe und ich stelle mich als Letzte hinten an. Während ich darauf warte, was als nächstes passiert, kommt Julia zu mir. „Ich habe doch gesagt, dass wir uns der Größe nach aufreihen. Du musst viel weiter nach vorne.“
„Entschuldigung“, murmele ich und ordne mich schnell zwischen zwei Mädchen ein, die ungefähr genauso groß sind wie ich. Wir setzen uns in Bewegung und ich konzentriere mich darauf, das Tempo zu halten, um nicht in Lena vor mir hineinzufahren, aber auch den Abstand zwischen uns nicht zu groß werden zu lassen. Das ist gar nicht so einfach und verlangt meine volle Aufmerksamkeit. Nach einer Runde durch die Halle bleiben die Mädchen vor mir plötzlich stehen und mir gelingt es noch in letzter Sekunde anzuhalten. Beim Abspringen berühre ich Lena leicht mit dem Knie, woraufhin sie sich umdreht und mir einen genervten Blick zuwirft. Als nächstes ist der Stern an der Reihe. Das ist eine unserer schwierigsten Übungen. Ich muss mich also konzentrieren! Die ersten Runden geht es gut, doch während wir immer und immer wieder im Kreis fahren, spüre ich, wie meine Gedanken immer weiter weg wandern, sich immer weniger hier in der Turnhalle befinden. Ich fahre zu langsam und bringe damit das Tempo der ganzen Truppe durcheinander. Wir müssen anhalten und ich kann spüren, wie alle Blicke auf mich gerichtet sind. Das Gelingen dieser Übungen ist von jedem Einzelnen abhängig. Macht einer einen Fehler, bringt er die ganze Kür durcheinander. Ich ärgere mich selbst auch immer, wenn jemand unkonzentriert ist und man ständig wieder von vorne beginnen muss. Doch so sehr ich mich auch anstrenge, das war nicht der letzte Fehler, der mir unterläuft.
*
Auch am vierten Tag − obwohl Leonies magische Grenze von drei Tagen überschritten ist − hat Danny sich noch nicht bei mir gemeldet. Mittlerweile kommt es mir fast so vor, als hätte es diesen Abend überhaupt nicht gegeben. Es ist sowieso das Beste, wenn ich so tue als hätte ich ihn nie getroffen und ihn aus meinem Gedächtnis streiche, denn wenn ich an Danny denke, werde ich nur traurig. Dann muss ich die ganze Zeit darüber nachgrübeln, warum er mir nicht geschrieben hat. Und das Ergebnis meiner Überlegungen ist immer dasselbe: Für Danny hatte unsere Begegnung und der Kuss nicht dieselbe Bedeutung wie für mich. Aber wie kann es sein, dass diese Verbindung, die ich zwischen uns sofort gespürt habe, nur einseitig war? Es fühlte sich so an, als ob es ihm genauso gegangen wäre, aber da habe ich mich ganz offensichtlich getäuscht. Ich war mir so sicher, dass ich einen ganz besonderen Jungen getroffen hatte. Doch auch wenn man sich hundertprozentig sicher ist, kann man sich offensichtlich irren! Danny wollte anscheinend nur ein bisschen Spaß haben und hat es voll ausgenutzt, dass ich ihn auf Anhieb mochte. Ich breche noch ein großes Stück von meiner Lieblingsschokolade − Trauben Nuss − ab und schalte durch das Fernsehprogramm. Eigentlich wollte ich mich noch mit Leonie treffen. Doch irgendwie ist mir nicht danach. Ich möchte den Nachmittag lieber vor dem Fernseher unter meiner warmen Decke verbringen. Ich habe gerade überhaupt keine Lust auf Gesellschaft. Mit meiner Laune würde Leonie sowieso keinen Spaß mit mir haben, versuche ich mein schlechtes Gewissen zu beruhigen, als ich eine SMS tippe, um Leonie abzusagen. Ich weiß, wie sehr sie sich darauf gefreut hat mit mir shoppen zu gehen, weil sie sich mit ihrem beim Zeitung austragen verdienten Geld endlich die Hose kaufen wollte, die sie sich schon seit Wochen wünscht. Jedes Mal, wenn wir in der Stadt waren, ist sie vor dem Schaufenster stehengeblieben und hat die türkisblaue Hose bewundert. Aber ich möchte das Haus nicht mehrverlassen. Auch wenn draußen so schönes Wetter ist und obwohl meine Mutter heute Nachmittag nicht arbeiten ist und mir sicher auf die Nerven gehen wird. Aber ich habe keine Kraft und keine Motivation aufzustehen. Leonie antwortet nicht auf meine SMS. Wahrscheinlich ist sie sauer und auch sonst gibt mein Handy den ganzen restlichen Tag keinen einzigen Laut von sich.
*
„Vergiss ihn. Ehrlich, er ist ein richtiger Trottel, wenn er sich nicht bei dir meldet“, flüstert Leonie mir zu. Wir sitzen im Deutschunterricht und weder sie noch ich interessieren uns gerade für das Gedicht, das wir interpretieren sollen.
„Das versuche ich ja, aber es klappt nicht“, gebe ich verzweifelt zurück. Leider ist es nicht so einfach, wie Leonie es sich vorstellt. Schließlich kann ich meine Gedanken ja nicht steuern.
„Maja, ihr habt euch gerade mal einen einzigen Abend gesehen, wegen einer Stunde darfst du dir doch nicht so einen Kopf machen. Es war ein schöner Abend und fertig! Vergiss ihn.“
Ich antworte nicht mehr. Erstens weiß ich nicht, was ich dazu sagen soll und zweitens schaut unsere Lehrerin gerade direkt zu uns herüber. Frau Meinert hat ihren Vortrag des Gedichtes unterbrochen und starrt uns mit strengem Gesichtsausdruck an. So schweige ich lieber und Frau Meinert trägt das Gedicht weiter vor, wobei sie die Betonung völlig übertreibt. Ich versuche meine Aufmerksamkeit auf den Zettel vor mir zu richten. Mit mäßigem Erfolg. Hat Leonie recht und es ist falsch, sich wegen eines einzigen, noch dazu sehr kurzen Aufeinandertreffens, solche Gedanken zu machen? Tag und Nacht darüber nachzudenken, warum er nicht schreibt. Ich kann ja nichts dagegen tun, dass es für mich alles andere als unbedeutend war. Ich habe so etwas noch nie zuvor erlebt und weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Aber Leonie scheint mich ausnahmsweise einmal nicht zu verstehen. Für sie ist das Thema abgeschlossen. Ihre Stimme hörte sich an, als ob sie nichts mehr davon hören will. Aber für mich hat es sich leider noch nicht erledigt. In mir ist noch ein kleines bisschen Hoffnung, dass Danny sich irgendwann doch noch meldet.
*
Ich liege im Bett. Es ist nicht richtig dunkel, weil der Mond hell durch mein Fenster scheint. Eigentlich müsste ich hundemüde sein, schließlich habe ich die letzten Nächte kaum geschlafen. Doch auch jetzt drehe ich mich wieder unruhig von einer Seite auf die andere. Ich weiß, dass ich dringend schlafen müsste. Ich schreibe morgen Englisch und würde auch ohne Schlafmangel schon genügend Probleme damit haben. Aber mir immer wieder zu sagen, dass ich schlafen muss, nützt mir auch nichts. Genau genommen macht es das Einschlafen nur noch schwieriger. Doch noch mehr als die bevorstehende Klassenarbeit ist es Danny, der mich davon abhält einzuschlafen. Ich frage mich immer noch, warum er sich nicht bei mir gemeldet hat. Irgendetwas war zwischen uns. Das muss er doch auch gemerkt haben. Verdammt! Ich muss ihn vergessen. Am besten sofort! Es war ein schöner Abend, oder eigentlich nur eine schöne Stunde, mehr nicht. Ganz offensichtlich habe ich mich getäuscht und mir nur eingebildet, dass da etwas zwischen uns war. Irgendwie muss ich damit klar kommen. Ich werde morgen etwas mit Leonie unternehmen, vielleicht können wir unsere Shoppingtour nachholen und danach ein riesiges Eis essen. Zeit mit Leonie zu verbringen ist schließlich die beste Ablenkung. Ich drehe mich noch einmal um und versuche meine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Im Kopf erstelle ich eine Liste mit Sachen, die ich gerne kaufen würde, wenn ich mit Leonie in der Stadt bin.