Читать книгу Hilf mir, Mathilda! : eine Geschichte vom Glück im Unglück - Annika Holm - Страница 5

2.

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Sie reden nicht über das komische Telefongespräch. Auch nicht über Sunnivas Herz. Nicht mal, als Marie drei Tage bei Mathilda wohnt, weil ihre Mama im Krankenhaus ist, nicht mal da reden sie über das, was Sunniva Mathilda an jenem stürmischen Abend erzählt hat.

Aber sie reden über anderes. Sie reden ununterbrochen miteinander, von der Sekunde an, wenn sie das Klassenzimmer verlassen, bis zu dem Augenblick, wenn der Schlaf sie übermannt. Oft reden sie über die Jungen in der Klasse, welcher der Netteste, Hübscheste, Mutigste, Hilfsbereiteste ist ...

Sie zeichnen ein Gitter von Karos auf zwei zusammengeklebte Bögen Zeichenpapier. An den linken Rand schreiben sie die Namen der Jungen, vor jedes Karo einen. An der Oberkante schreiben sie nebeneinander alle Eigenschaften auf, die ihnen einfallen.

Marie liegt auf dem Fußboden und schreibt, Mathilda sitzt auf ihrem Bett und macht Vorschläge. Albert bekommt an der Stelle ein Kreuz, wo sein Name das Wort »Hübsch« kreuzt. Achims Kreuz landet unter »Hilfsbereit«, Antes unter »Am nettesten«. Und Arne?

»Gut in der Schule«, beschließt Mathilda. Doch Marie richtet sich nachdenklich auf.

»Er ist aber auch hübsch, eigentlich hübscher als Albert.«

»Hübscher als Albert? Hmm. Vielleicht, aber nee, Albert ist süßer. Wollen wir auch eine Reihe ›Süß‹ machen? Aber dafür ist kein Platz mehr auf dem Papier, oder?«

»Nee, das nicht«, sagt Marie, »aber wir können einer Person ja mehrere Kreuze geben.«

Gute Idee. Ein Mensch ist ja nicht nur das eine, sondern hat mehrere Eigenschaften. Arne ist beides, gut in der Schule und hübsch.

»Auch mutig«, murmelt Marie, »und hilfsbereit. Und nett ist er. Und stark.«

»Jetzt hör aber auf!«, ruft Mathida. Im selben Augenblick sieht sie Maries rote Wangen.

Aha, das erklärt alles. Marie scheint es selbst zu merken und beugt das Gesicht übers Papier und bleibt eine ganze Weile so sitzen.

»Oder nein«, murmelt sie, »hast du einen Radiergummi? Eins radier ich weg. Nett oder stark? Was soll weg?«

»So was Besonderes ist er ja nun auch nicht«, sagt Mathilda, als sie in ihren Betten liegen. Sie schlafen noch nicht, obwohl es schon sehr spät ist. Daran hat Mama sie gerade erinnert.

»Ich meine, er ist doch nicht in allem der Beste, von allen.«

»Vielleicht nicht«, flüstert Marie. »Aber er ist süß, oder?«

Mathilda überlegt eine Weile. Im tiefsten Innern findet sie ja auch, dass was Besonderes ist an Arne. Vorhin ist Marie ganz rot geworden, kurz bevor Mama reinkam und sagte, sie würde es nun das letzte Mal sagen, dass sie schlafen sollen. Könnte es sein ...? Mathilda richtet sich heftig auf. Flüsternd spricht sie ihren Gedanken aus:

»Bist du verliebt in Arne?«

Aber von Marie kommt keine Antwort. Sie liegt mit ausgebreiteten Armen auf dem Rücken und schläft. Wie kann sie so schnell einschlafen? Eben hat sie doch noch geredet.

Mathilda kann nie so schnell einschlafen. Sie braucht Zeit zum Einschlafen und sie braucht Zeit zum Aufwachen.

Abends, wenn sie im Bett liegt, flattern ihre Gedanken um sie herum und geben keine Ruhe. Offenbar haben sich der vergangene Tag und der neue Tag in ihrem Kopf verabredet. Der vergangene Tag kaut noch einmal alles durch, der nächste Tag macht sich Sorgen. Sie unterbrechen einander, wirbeln herum, nörgeln, wiederholen sich.

Hoffentlich darf sie ... Wenn sie nun nicht darf ... Und wenn sie darf und sie blamiert sich ...?

Sie legt sich auf den Bauch, zieht ein Bein an und kneift die Augen fest zu.

Sie rückt ihr Kopfkissen zurecht.

Sie steckt eine Hand unters Kopfkissen, die andere unters Knie.

Sie atmet im Takt mit Marie, sie unterbricht den Takt.

Schlaf!, sagt sie streng zu sich selbst. Wenn du nicht schläfst, geht gar nichts. Da hat Papa ganz Recht. Mach, was er sagt! Schlaf!

Im Traum trainiert sie, dribbelt, gibt den Ball ab, schießt, nimmt den Ball an, dribbelt, stolpert, köpft, dribbelt, verfehlt.

Verfehlt!

Sie muss mehr trainieren.

Als der Wecker piepst, fängt sie an. Fünfundzwanzigmal auf und nieder mit leicht gebeugten Beinen. Sie spannt die Bauchmuskeln an und richtet den Oberkörper auf, aber sie selbst schläft noch.

»Du übertreibst!«, schnaubt Marie. Sie ist beim ersten Weckerpiepsen munter aus dem Bett gestiegen. Sie redet weiter auf dem Weg ins Bad, aber das versteht Mathilda nicht mehr.

Erst als sie sich am Küchentisch gegenüber sitzen, muss sie sich die Fortsetzung anhören.

»Fußballtraining ist die eine Sache, das ist ganz in Ordnung, sogar mehrere Male in der Woche. Aber was du da treibst, rund um die Uhr, sogar im Bett, das nenn ich übertrieben.«

Dabei ist es Marie, die übertreibt, wirklich. Mathilda trainiert gar nicht rund um die Uhr. Übrigens übt Marie jeden Tag auf ihrem Kontrabass, mindestens eine Stunde, vielleicht sogar länger. Aber das nennt sie nicht übertrieben.

»Selber übertrieben«, zischt Mathilda, ein wenig undeutlich, da sie den Mund voll Toastbrot hat.

Marie lacht nur, steckt sich das letzte Stück Brot in den Mund und steht auf.

»Jetzt mal ein bisschen Tempo, wir wollen doch noch von My ihr neues Band ausleihen.«

»Was ist das für ein Band?«, fragt Papa, der gerade in die Küche kommt. Er ist genau wie Mathilda morgens auch noch nicht richtig wach. Neugierig ist er aber immer. Mathilda seufzt laut und will ihn gerade bitten, sich nicht in Sachen einzumischen, die er sowieso nicht begreift. Aber da sagt Marie:

»Eins von den Beatles. Echt geil. Yellow submarine oder so ähnlich heißt das.«

Papa sieht ganz begeistert aus und fängt an zu summen. Peinlich. Aber Marie findet es nicht peinlich. Sie guckt ihn überrascht und entzückt an.

»Kennst du das?«

»Eins ihrer besten Stücke, finde ich. Von 1968, glaub ich. Erinnerst du dich, Karin? Wie wir Yellow submarine das erste Mal gehört haben?«, ruft er Mama zu.

»Klar erinnere ich mich. In London, in diesem Pub, als es so schrecklich geregnet hat.«

Papa nickt, gießt sich Kaffee ein, gibt Mathilda einen Kuss auf die Nase und redet, alles gleichzeitig.

»Schön, dass ihr den gleichen Musikgeschmack habt. Ich kann eine alte LP raussuchen, falls ihr Lust habt sie zu hören.«

Nein, dafür haben sie jetzt keine Zeit, aber vielleicht heute Abend.

»Dass die auch solche Musik mögen«, sagt Mathilda erstaunt, als sie auf dem Weg zur Schule sind.

»Obwohl sie schon so alt sind«, fügt Marie hinzu. »Wirklich komisch!«

Auf dem Schulhof steht My. Sie wundert sich überhaupt nicht, dass Mathildas Eltern die Beatles mögen.

»Das tun doch alle Alten«, erklärt sie. »Die Beatles waren auf Tournee in Stockholm, als mein Papa zwölf war. Da waren die total in.«

Es stellt sich heraus, dass Arne noch mehr über die Beatles weiß. Er sammelt ihre Lieder und schlägt vor, dass sie nach der Schule zu ihm nach Hause gehen und sich Beatles-Platten anhören.

»Prima«, sagt Marie, aber Mathilda schüttelt den Kopf.

»Ich hab Training.«

»Aber doch erst heute Abend«, sagt Marie.

»Vorher laufen wir, heute ist Donnerstag.«

»Musst du auch laufen?« Arne guckt Marie an.

Natürlich muss sie das nicht, natürlich kommt sie mit zu ihm und hört sich die Stücke an. Das Leben geht weiter, auch wenn manche allzu sehr mit Fußball beschäftigt sind. Natürlich.

Nein, das hat Marie so nicht gesagt. Aber Mathilda hat das Gefühl, als ob sie es sagte. Mathilda fühlt sich zurückgesetzt, obwohl sie es selber ist, die sich zurücksetzt.

Ist das Fußballspielen wirklich so verflixt wichtig?, fragt sie sich selbst zum hundertsten Mal, während sie hinter Arne und Marie hergeht. Selbst ihre Rücken scheinen Spaß zu haben. Während sie sich noch die Treppe runterschleppt, haben die beiden schon den halben Schulhof überquert, und man sieht ihnen immer mehr an, wie viel Spaß sie miteinander haben.

Hilf mir, Mathilda! : eine Geschichte vom Glück im Unglück

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