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Drittes Kapitel

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Frau Luise Utten hatte ihre Arbeit abgeliefert. Sie strickte für ein elegantes Geschäft in der Goethestrasse Wollkleider und Jumper. Sie befand sich auf dem Nachhausewege. Eigentlich hatte sie noch eine alte Freundin besuchen wollen, aber sie hatte diese nicht angetroffen.

Die Zeil, die Hauptverkehrsstrasse Frankfurts, strahlte schon im hellsten Licht, die Laternen brannten, und aus allen Schaufenstern strömte neuer Beleuchtungszufluss. Als Frau Utten in eine schmale, aber sehr belebte Seitenstrasse einbog, wurde sie von dem Glanz und Leuchten noch ein Stück des Weges begleitet; allmählich aber drängten sich Schatten vor, und nur noch ab und zu schob sich ein strahlend erleuchtetes Schaufenster ein; in dieser Gegend blieb der Abend Sieger.

Frau Utten sah den Dom vor sich, seine gewaltigen Umrisse wuchsen wie eine starke Festung des Glaubens zum Himmel auf, wie ein wunderbar ergreifendes Abendlied aus Stein.

Sie verhielt den Schritt, das Herz lag ihr heute seltsam schwer in der Brust. Mehr noch als sonst hatte sie seit dem frühen Morgen an ihren Mann denken müssen, und ihr armes Hirn wurde wundgerieben von der immer wiederkehrenden Frage: Wohin hatte sich ihr Mann gewandt, damals, vor zwanzig Jahren?

Sie seufzte und schritt weiter, bog in die Gasse ein, in der sie wohnte. Sie musste an dem Hause „Zum Hühnchen“ vorbei, und wie immer grüsste sie es mit jenem nie müde werdenden Sehnen, das sich an ein Glück anklammern wollte, das doch längst und jäh zu Ende gegangen.

Plötzlich erschrak sie bis ins Innerste, es war, als ob ihr Herzschlag aussetzte, und sie fühlte einen wilden Schrei in sich aufsteigen. Über die Lippen wollte er sich zwängen, alle Menschen wollte er zusammenrufen.

Sie presste die Rechte auf den Mund. Still musste sie sein, ganz still! Sie drängte sich mit dem Rücken gegen eine nahe Mauerecke und starrte hinüber nach dem Hause, darin sie einmal daheim gewesen. Vor dem Hause ging ein Mann auf und ab, ihre brennenden Augen verfolgten jede seiner Bewegungen. Er schien auf jemand zu warten. Und sie kannte den Mann. Er war einmal ihr Liebstes auf der Welt gewesen.

Da drüben sah sie ihren Mann, der sie vor zwanzig Jahren verlassen. Er war barhaupt und trug den gleichen alten Hausanzug, den er getragen, als er abschiedlos fortgegangen war in ein Rätseldasein hinein.

Sein Name lag auf ihren Lippen, sie wollte rufen und schwieg doch. Kein Aufsehen erregen auf der Strasse, nur nicht! Sie war doch seine Frau, konnte einfach hinübergehen zu ihm und fragen: Wo bist du so lange gewesen und auf wen wartest du hier? Ich wohne ja schon lange nicht mehr in dem alten Hause!

Es gab nicht viel Verkehr hier; aber es gingen um diese Stunde gleichwohl ständig Leute durch die Gasse.

Ein Mann zog einen Handwagen in der Richtung Domplatz; ein paar Stühle, die, übereinandergestellt, sich darauf befanden, hemmten flüchtig ihren Blick und ihren Fuss, und als der Handwagen vorüber war, war der Mann vor dem Hause „Zum Hühnchen“ verschwunden.

Luise Utten schaute nach rechts und links, doch sie sah ihn nicht mehr.

Sie dachte, er muss in das Haus hineingegangen sein, und drückte die Klinke der Eingangstür nieder. Ein enger Flur nahm sie auf, es roch muffig und staubig hier. Trübseliges Licht liess alle Ecken stockdunkel. Sie rief: „Hannes!“ Rief es einmal, rief es noch einmal. Eine nahe Tür öffnete sich, sie blickte in ein unfreundliches Männergesicht.

„Was wolle Sie denn, Frau“, fragte eine rauhe Stimme, „in dem Haus gibbt’s kaa Hannes!“ Sie antwortete nicht, rief nur noch lauter: „Hannes! Lieber Hannes!“

„Pscht, mache Sie net so e Gekreisch, sonst falle die armselig Mauere zusamme. Morge werd’ des letzt’ Gelump ausgeräumt wegen Baufälligkeit. Im Haus is deswege schon kaa Mensch mehr ausser mir, ich bin der Wächter!“

Luise Utten kannte die meisten Leute dieser Gasse und fast alle kannten sie; aber der Wächter war ein Fremder, der kannte sie nicht, und nicht die Geschichte ihres Leides und ihrer Not, der wusste nichts von Hannes Utten, ihrem Manne.

Sie erklärte: „Mein Mann ging vorhin vor dem ‚Hühnchen‘ auf und ab, er muss dann hier hineingegangen sein!“

„Was soll er denn in dem Spukkommodche, Frauche? Im Hühnche kann zeitlebens kaaner mehr e Schöppche petze.“

„Mein Mann muss hier im Hause sein“, wehrte sie ab und rief wieder, so laut sie nur konnte, „Hannes, Hannes!“

Der Wächter wurde sehr ärgerlich.

„Da soll doch gleich des Gewitter dreischlage, Sie saan narrisch, Frau!“ Sein Kopf verschwand, und eine Sekunde später trat der derbe grosse Wächter, mit einer Laterne bewaffnet, auf den Flur hinaus, dessen Steine zahlreiche Vertiefungen zeigten, die Spuren von den Tritten vieler Menschen seit drei Jahrhunderten.

Trotz seines brummigen Tones war der Wächter willig, er sagte: „Wanns net anners geht, wolle mer als mal de alt Barack durchstöbere, ob sich aaner eigeschliche hot.“

Er ging mit ihr von Raum zu Raum durch das ganze Haus, dessen Zimmer Luise Utten wohlbekannt waren. Tapetenfetzen hingen von den Wänden nieder, und ein paar kärgliche Möbelreste der letzten Bewohner standen noch umher; aber niemand hauste mehr in den Mauern, die einst ihr Glück umschlossen hatten.

Weder im unteren noch im oberen Stock fand man den Gesuchten, auch nicht im Hof oder in dem windschiefen Stalle.

Der immer wieder aufklingende Ruf „Hannes!“ verhallte überall ins Leere, nur ein paar Mäuse geisterten umher, und im Hofe zeigte sich ein auf Abenteuer ausgehender Kater.

Schliesslich stand man wieder im Eingangsflur, und der Wächter lachte verstimmt: „Unnütze Arbeit habbe Sie mir gemacht, Frau. Gehe Sie haam und warte Sie do uff Ihne Ihrn Mann, er werd schon komme!“

Sie schüttelte verwirrt und verzweifelt den Kopf.

„Ich warte doch schon so lange auf ihn, und nun habe ich ihn endlich gesehen und —“

Der Rest erstarb in Schluchzen.

Mitleidlos war der Wächter nicht, vor Frauentränen hatte er Angst.

Er klopfte Luise Utten auf die Schulter.

„Wer werd denn gleich flenne. Ihne Ihr Mann hot sicher noch ebbes zu schaffe. Vielleicht is er schon dahaam un wart’t uff Sie. Also los, Frauche, laafe Sie haam!“

Luise Uttens Schluchzen versiegte jäh. Die Worte leuchteten ihr ein.

Ihr Mann suchte sie!

Er hatte doch schon von aussen sehen können, dass in dem Hause „Zum Hühnchen“ niemand mehr wohnte. Er hatte inzwischen wahrscheinlich in der Nachbarschaft Erkundigungen nach ihr eingezogen und sass jetzt wohl längst im Hause zu den Lilien, erwartete sie voll Sehnsucht, während sie unnütz die Zeit verstreichen liess.

Sie machte kurz kehrt und eilte überhastig und ohne Dank davon.

Der Zurückgebliebene schüttelte den Kopf.

„Bei der scheint’s im Oberstübche net ganz in der Reih zu saan, mächt die e Gedäts von ihrem Hannes!“ brummte er ärgerlich, weil er kein Wort des Dankes erhalten, das er doch verdient.

Luise Utten eilte heim, das Haus zu den Lilien war ja nur wenige Schritte entfernt.

Sie ging über den Hof, und es war ihr, als sähe sie Licht hinter den Fensterläden ihrer Wohnung; aber als sie den Flur betrat, fand sie alles dunkel. Sie schaltete das Licht ein und blickte sich um wie ein Mensch, der Tagereisen hinter sich hat und nun ein Plätzchen sucht, wo er sich hinfallen lassen kann, um endlich auszuruhen.

Sie stöhnte laut auf und ihr Herz krampfte sich zusammen, ihr armer Kopf sass ihr ganz schwer auf den Schultern. Fassungslos stand sie dem Erlebten gegenüber. Sie hatte ihren Mann gesehen, war nur ein paar Meter von ihm entfernt gewesen, und nun schien doch alles zu sein wie vorher.

Sie sank auf einen Küchenstuhl nieder und atmete bedrückt. Ihre Gedanken arbeiteten ängstlich, und zugleich lauschte sie angestrengt hinaus, ob nicht ein Schritt auf den Hof käme. Sie wollte die Hoffnung nicht aufgeben. Ihr Mann konnte beim Nachfragen aufgehalten worden sein, viele in der Gasse hatten ihn doch gekannt. Man würde ihn anstaunen, mit Fragen bedrängen. Trotzdem musste er bald hier sein, bald, bald.

So sass Luise Utten und wartete auf ihren Mann; aber anders als in den vielen Jahren wartete sie heute. Es stand eine nahe Gewissheit hinter ihrem Warten, sie hatte ihn ja schon gesehen.

Sie wartete und wartete. Zuweilen lächelte sie ein wehmütiges und doch hoffnungsvolles Lächeln. Es war das Lächeln einer Frau, deren Liebe niemals sterben kann.

Plötzlich beengte sie die Stille, sie ertrug das tiefe Schweigen um sich her nicht länger, es war, als habe man viele dicke Decken über sie geworfen.

Sie erhob sich, sie wollte zu Ulla, die sich gewiss wieder im Vorderhause bei Mathias Jost befand. Da war sie in den Abendstunden von jeher mehr daheim als hier.

Sie drehte das Licht aus und schlich die Treppen hinunter, das Knacken der alten Stufen störte sie. Ihre schon seit langem streikenden Nerven befanden sich in böser Verfassung! sie fühlte, wie sie zitterte, als sie über den Hof ging, und das Zittern verstärkte sich noch, als sie wieder auf die Gasse hinaustrat. Schräg gegenüber lag das Haus „Zum Hühnchen“, aber niemand stand davor. Sie hatte im Unterbewusstsein fast gehofft, ihren Mann wieder dort zu erblicken, wo sie ihn vorhin gesehen.

Ihr Denken ging unter in einem tollen Durcheinander, und wie eine, die sich auf der Flucht befindet, lief sie ein paar Schritte, riss die Tür des Uhrmacherlädchens auf und stürmte hinein. Sie musste anderen Menschen erzählen, was sie erlebt, musste fragen, was andere von dem merkwürdigen Betragen ihres plötzlich zurückgekehrten Mannes hielten.

Sie brauchte Verständnis, Trost, Rat und Hilfe, sie wurde nicht mehr allein fertig mit dem Übergrossen, was geschehen war.

Ulla mischt sich ein

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