Читать книгу Die aus dem Hause Villalta - Anny von Panhuys - Страница 6

3. Kapitel.

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Der Professor stand vor dem Bilde seiner Frau, und seine Blicke hingen entzückt an dem zarten Köpfchen, das seine Künstlerhand vor vielen, vielen Jahren gemalt. Damals sass ihm Maria gegenüber, und ihr radebrechendes Deutsch hatte ihn immer wieder zum Lachen gereizt. Wie drollig sie ihm dann mit dem Finger drohte, er meinte es förmlich vor sich zu sehen, nur die Hand brauchte er auszustrecken und ihre niedlichen Fingerchen, die er so oft bewundert, waren in seiner Gewalt.

Seine Hand glitt suchend vorwärts — und griff ins Leere. Zerronnen war das holde Schemen, die Wirklichkeit grinste ihn an, kühl und grau.

Er war allein, ganz allein, und schon fünfundzwanzigmal hatten die Linden draussen vor der Tür so schwer und düftereich geblüht, seit Maria von ihm gegangen.

Wie die Zeit verrann.

Eine tiefe Traurigkeit nahm von ihm Besitz, hatte er doch niemand, mit dem er von ihr sprechen konnte. Charlotte, seiner Schwester Kind, ward erst drei Jahre nach ihrem Dahinscheiden geboren, Ernst vermochte sich der Mutter kaum noch zu erinnern, und er kam auch selten, und die Einzige, die unermüdlich mit ihm sein liebstes Thema erörterte, war nun tot, die hatte Maria gekannt und geliebt und ihre Schönheit bewundert. Stundenlang hatte er oft mit seiner alten Freundin von ihr geplaudert, und jetzt gab es keinen Menschen mehr, der ihn verstand.

Er seufzte tief auf, und dachte an die gute alte Dame, bei der er immer willkommen gewesen. Jener letzte Abend trat vor sein Gedächtnis, an dem er bei ihr gesessen und sie ihm aus der feinen chinesischen Kanne den goldbraunen Tee in die Tasse goss.

Ein Erbeben lief durch seinen Körper, plötzlich strafften sich seine Glieder, ein fester, konzentrierter Wille gab seinen Augen etwas hartes.

Mit schneller Bewegung, gleichsam einem anspornenden inneren Zwange gehorchend, verliess er das Zimmer, nahm auf dem Vorplatz Hut und Stock und ging zum Ausgang.

Charlotte kam ihm entgegen. Sie trug einen Strauss, den sie im Garten gepflückt hatte und auf den Mittagstisch stellen wollte.

„Du gehst aus, Onkelchen?“ fragte sie verwundert.

Sie war es nicht gewöhnt, dass der Professor um diese Zeit einen Spaziergang oder Besorgungen machte.

Er schaute sie an wie einen fremden Menschen, und kühl und flüchtig warf er hin: „Jawohl, sollte ich nicht zurückkehren, bitte, ängstige dich nicht um mich, du wirst es noch früh genug erfahren, wo ich bin.“

Er schritt eilig weiter.

„Onkel!“ schrie sie auf, „was soll das heissen, ich verstehe dich nicht?“

Er antwortete nicht, und mit einem förmlichen Sprung, als fürchte er, gewaltsam zurückgehalten zu werden, rannte er hinaus, die Haustür weit hinter sich offen lassend.

„Onkel!“ Wie ein Hilfeschrei gellte es von Charlottes Lippen, so dass die beiden Dienstmädchen aus der Küche herbeieilten.

Doch auf alle ihre besorgten Fragen schüttelte die junge Dame nur den Kopf, was sollte sie sagen, wusste sie doch selber nicht, was der Onkel mit den rätselhaften Worten gemeint hatte. Gleich einer Ahnung kommenden Unheils lag es auf ihrer Brust. Was sollte sie tun? Der Onkel würde doch keinen Selbstmord begehen?

Wunderbar wäre es ihr eigentlich nicht erschienen, denn sein Wesen ward von Tag zu Tag sonderbarer und verstörter. Bedrückt ging er umher, und sein Gesicht sah scheu und ängstlich aus. — Ob sie auf die Polizei schickte?

Doch vielleicht sah sie Gespenster und hatte harmlose Worte falsch gedeutet. Aber immerhin, dieser Morgenausgang beängstigte sie.

Sonst ging er fast nur des Abends einige Stunden fort, das war ihr nichts Neues, und sie fragte niemals, wo er sich dann aufhielt, da er selbst nie darüber redete. — —

Nachdem der Professor fast fluchtartig das Haus verlassen und Charlotte sich von ihrem ersten Schrecken erholt hatte, war sie ihm instinktiv nachgelaufen, doch so weit ihr Auge die Strasse hinabspähte, weder zur rechten noch zur linken war eine Spur von ihm zu sehen.

Die Minuten schlichen hin und reihten sich wie Perlen auf einer Schnur zu Stunden, und Stunde auf Stunde glitt vorüber, und die grosse Standuhr auf dem Gang zeigte jede einzelne an mit tiefem, vollem Kirchenglockenton.

Mittag war lange vorbei, mehrmals schon hatten die Mädchen ungeduldig nachgefragt, ob immer noch nicht angerichtet werden sollte, und immer wieder vertröstete sie Charlotte: der Herr Professor wird sicher bald kommen!

Sie glaubte ja selbst nicht mehr an diesen Trost, mit dem sie ihre eigene Angst zu beschwichtigen suchte, und endlich, da es vier Uhr schlug, machte sie sich auf den Weg, sie musste mit jemand über ihre Besorgnis reden, es erstickte sie sonst. Sie musste irgend einen Menschen um Rat fragen.

Da fiel ihr in ihrer Not die Familie des Geheimrats Drusmann ein, mit dessen Tochter sie im vorigen Jahre bei einer englischen Dame Sprachstudien getrieben. Ein paarmal hatte sie die Frau Geheimrat eingeladen, doch die Beziehungen blieben nur oberflächliche. Charlottes Wesen war zu ernst und zurückhaltend, um schnell Freunde zu erwerben.

Doch heute freute sie sich über den Gedanken, die Familie, zu der sie seit Monaten nicht mehr gegangen, aufzusuchen.

Sie machte sich, ohne einen Bissen genossen zu haben, auf, und am nächsten Droschkenhalteplatz einen Wagen anrufend, nannte sie die Adresse des Geheimrats.

Gemächlich fuhr das von einem müden alten Gaul gezogene Vehikel durch ein paar belebte Strassen, durch eine Anlage, die sich endlos dehnte, um schliesslich nach einer für Charlotte unerträglichen, endlosen Fahrt vor dem eleganten Mietshause zu halten, dessen ersten Stock Geheimrat Drusmann bewohnte.

Der Kutscher konnte auf einen grösseren Geldschein nicht herausgeben, wenigstens behauptete er das kühn. Um weiteren Aufenthalt zu vermeiden, liess ihm das junge Mädchen das ganze Geld, und mit devotem Gruss fuhr der Kutscher davon. Charlotte hatte nicht mehr darauf geachtet. Sie schellte bereits am Torweg, und in fliegender Hast ging sie an dem Pförtner vorbei.

Gott sei Dank, dass Geheimrats wenigstens zu Hause waren und sie den weiten, zeitraubenden Weg nicht umsonst gemacht hatte. Beim Vorfahren hatten ihre Augen die Fenster des ersten Stockwerkes gestreift und dabei zufällig hinter einem zurückgeschobenen Spitzenvorhang das dunkelhaarige, breit frisierte Haupt der Frau Drusmann und auch das ihrer blonden, rosigen Tochter erblickt. Frau Drusmann wusste ja für jedermann einen Rat, sie würde auch für sie einen bereit haben.

Eilig stieg sie die Treppen empor und stand bald vor der Flurtür, auf der eine Metallplatte befestigt war.

Dr. Drusmann,

Geheimrat

war darauf eingraviert. Ein Lesen des Namens fiel für Charlotte fort, sie wusste ja, dass sie recht gegangen. Ein schneller Druck auf die Schelle rief das Mädchen herbei, das Charlotte von früheren Besuchen noch gut kannte.

Doch ehe die junge Dame noch etwas sagen konnte, meinte diese: „Es ist leider niemand zu Hause, die Damen sind mit dem Herrn Geheimrat ausgegangen und kommen erst spät abends wieder.“

„Die Damen sind nicht daheim?“ fragte Charlotte, sie sah ja auf dem Gesicht des gut geschulten Mädchens die Lüge geschrieben.

„Nein, bedaure sehr, gnädiges Fräulein,“ klang es höflich zurück, „soll ich eine Bestellung ausrichten?“ fügte sie hinzu.

„Danke!“ Charlotte wandte sich schroff um und stieg die Treppe wieder hinunter, langsam und schwerfällig.

In ihren Schläfen hämmerte es, sie hätte weinen mögen. Man wollte sie nicht empfangen, das war klar.

Aber warum, warum?

Früher waren diese Menschen stolz gewesen, wenn sie, die Nichte des berühmten Professors, zu ihnen kam, und nun —?

Sie suchte in ihrem Gedächtnis, ohne einen Anhaltspunkt zu finden, sie war sich keines Vergehens, keiner Schuld bewusst.

Ein Auto brachte sie heim, die Sorge um den Onkel gewann allmählich die Oberhand über den beleidigten Stolz. Möglicherweise war der Onkel jetzt wieder angelangt und fragte nach ihr.

Schlecht war ihr zumute. Seit dem Frühstück hatte sie nichts gegessen, und ihre Uhr wies bereits auf sechs.

Abgespannt betrat sie endlich das Haus, das sie vor ungefähr zwei Stunden verlassen, doch der Professor war noch nicht zurückgekehrt.

Das Mädchen, das ihr öffnete, machte ein merkwürdiges Gesicht und sah sie so eigentümlich an, als sie nach dem Onkel fragte, und dann bestellte sie: „Ein Herr war schon zweimal hier, um das gnädige Fräulein zu sprechen, er meinte, er wolle wiederkommen.“

„Hat er seine Karte hiergelassen?“

„Nein,“ entgegnete das Mädchen, „doch es wird wohl einer von der Polizei gewesen sein,“ entfuhr es ihr.

„Von der Polizei?“

„Na, ich weiss ja nicht, ich meinte nur so,“ wollte die kleine, dicke Person den Eindruck ihrer Worte verwischen.

„So reden Sie doch, Sie sehen doch, wie aufgeregt ich durch des Herrn Professors Fernbleiben bin. Wissen Sie etwas, ist dem Onkel etwas zugestossen?“ rief Charlotte und legte ihre Hand unwillkürlich auf die Schulter der vor ihr Stehenden.

Doch mit jähem Ruck schüttelte die ihre Hand ab, und mit einer Gebärde des Entsetzens schrie sie auf: „Rühren Sie mich nicht an, Sie sind ja verwandt mit ihm, sind seine leibhaftige Nichte. O, du gütiger Herrgott, was erlebt man alles! Uebrigens, ich kündige, und morgen ziehe ich, vierzehn Tage halte ich’s hier nicht mehr aus. Die Anna, die Köchin, geht auch und — —“

„Was wollen Sie denn von mir, was ist denn nur los, ich verstehe keine Silbe von Ihren einfältigen Reden,“ schnitt ihr Charlotte das Wort ab und begab sich auf ihr Zimmer.

Der Kopf schwirrte ihr, was hatte sich nur ereignet, dass sich plötzlich alle Menschen so abscheulich zu ihr benahmen? Es musste ein Zusammenhang bestehen zwischen dem frühen Ausgang des Onkels, der Abweisung bei Drusmanns und dem Betragen des Dienstmädchens. Ein Herr hatte nach ihr gefragt, ein Herr von der Polizei. Was mochte nur passiert sein?

Angstvolle Gedanken plagten sie, und mit leisem Stöhnen fiel sie in einen Sessel.

Wer weiss, welche Schreckensnachricht ihrer harrte, und gleich einer Vision sah sie den Onkel, den sie wie einen Vater liebte, vor sich, tot und kalt. Denn es stand wohl fest, er hatte Hand an sich gelegt, und die anderen Menschen wussten es bereits alle: Professor Bürgel war ein Selbstmörder!

Nur sie, sie wusste nichts, gar nichts, und nun wartete sie in qualvoller Spannung auf den Besuch des fremden Herrn.

Sie erhob sich und trank im Esszimmer ein Glas Rotwein, das tat ihr gut, und sie ward ruhiger. Da schrillte die Haustürglocke, und einen Augenblick später brachte ihr das Mädchen eine Karte.

Kurt Stellberg

stand darauf und mit Blei darunter in flüchtigen Schriftzügen: „wünscht Sie dringend in Angelegenheiten des Herrn Professors zu sprechen.“

Charlotte nahm sich zusammen. „Lassen Sie den Herrn in den kleinen Salon eintreten, ich komme sofort.“

Endlich würde sie Gewissheit erhalten.

Bei Charlottes Eintritt erhob sich von einem Ledersessel, auf dem er sich niedergelassen, ein mittelgrosser, sehr magerer Herr. Ein paar ruhige Augen sahen die junge Dame mit einem Blick an, in dem es wie ein tastendes Fragen lag.

„Ich bin Charlotte Synitz, die Nichte des Professors Bürgel,“ begann Charlotte und schloss die Tür hinter sich. „Sie haben mich zu sprechen gewünscht, und Ihre Worte auf der Visitenkarte sagten mir, dass Sie mir Kunde von meinem Onkel bringen. O, mein Herr,“ ihre Rede ward schneller, und bittend sah sie den Besucher an, „wer Sie auch sein mögen, wenn Sie etwas von meinem Onkel wissen, sprechen Sie, ich fiebere vor Aufregung, denn seit heute früh zehn Uhr ist er verschwunden.“

Der Herr blickte sie noch immer mit den kühlen, forschenden Augen an, es war, als wüsste er noch nicht recht, wie er sich dem hübschen, aufgeregten Mädchen gegenüber benehmen sollte.

Sie schien augenscheinlich noch keine Ahnung von dem zu haben, was sich zugetragen.

„Ist mein Onkel tot, hat er sich das Leben genommen? Martern Sie mich doch nicht. Sie sollen sehen, ich bin stark genug, das Schlimmste zu ertragen, nur diese Ungewissheit nicht.“ Ihre Stimme vibrierte.

„Gestatten Sie zunächst, dass ich wieder Platz nehme,“ kam es statt einer Antwort zurück, „und auch Sie bitte ich, gnädiges Fräulein, sich zu setzen, denn ich möchte verschiedene wichtige Fragen an Sie richten, und wir werden mindestens ein halbes Stündchen dazu brauchen.“

Er zog ihr einen Stuhl herbei, auf dem sie sich mechanisch niederliess.

Nachdem er ihrem Beispiel gefolgt, sagte er: „Wenn es Sie beruhigt, will ich voranschicken, dass der Herr Professor lebt.“

Ein Freudenschein zog über ihr Gesicht: „Dank, tausend Dank für die gute Nachricht!“

„Danken Sie mir nicht zu früh,“ wehrte er ab, und Charlotte glaubte eine leise Verlegenheit darin mitklingen zu hören.

Was konnte nun noch Schlimmes kommen, der Onkel lebte ja!

„Mein gnädiges Fräulein, ich wollte Sie vorhin nicht erschrecken, und dann sprachen Sie auch gleich so lebhaft auf mich ein, dass ich nicht dazu kam, mich Ihnen richtig vorzustellen. Mein Name, Kurt Stellberg, wird Ihnen nicht viel sagen, ich möchte nun noch hinzufügen: Ich bin Kriminalkommissar und komme zu Ihnen, um, wie ich vorhin schon äusserte, einige wichtige Fragen an Sie zu richten.“

Also doch „ein Herr von der Polizei“, wie das Dienstmädchen vorhin ganz richtig bemerkt hatte.

Wieder stieg die erstickende Angst in Charlotte auf, doch sich mühsam fassend, entgegnete sie: „Fragen Sie nur, bitte.“

„Also zunächst, meine Gnädigste: Ist Ihnen in dem Benehmen Ihres Onkels in letzter Zeit irgend etwas aufgefallen, ich meine, hat er sich in seinem Wesen irgendwie gegen früher verändert?“

Der Kommissar lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

„Ist es nötig, diese Frage zu beantworten? Es ist mir so peinlich, über die kleinen Sonderheiten zu sprechen, die der Onkel in letzter Zeit angenommen hatte,“ entgegnete Charlotte.

„Die Beantwortung dieser Frage ist unbedingt nötig,“ gab er zurück.

„Nun denn, ja, mein Herr. Der Onkel war allerdings von je ein wenig menschenscheu. Früher, zu Lebzeiten seiner Frau, soll er ein vergnügter, lebensfroher Mann gewesen sein. Seit Frau von Scholz, seine mütterliche Freundin, ermordet wurde, mit der er zuweilen von seiner toten Gattin sprechen konnte, ging er fast gar nicht mehr aus, nur manchmal des Abends. Wohin? ich weiss es nicht. Doch während des Tages hielt er sich oft stundenlang vor dem Bilde seiner toten Frau auf und sprach mit ihr wie mit einer Lebenden. Aber verzeihen Sie, wenn der Onkel lebt, warum kommt er nicht? Ist er krank, verwundet, dann will ich zu ihm,“ unterbrach sie sich.

„Der Herr Professor befindet sich im Polizeigefängnis.“

„Allgütiger!“ schrie Charlotte und sprang auf. „Wo ist der Onkel?“ Sie hatte wohl falsch gehört.

„Beruhigen Sie sich, mein Fräulein, die Sache ist nicht ganz so schlimm, wie sie sich anhört, vorausgesetzt, dass mich meine Erfahrung nicht täuscht.“

Auf des Kommissars Zureden nahm das junge Mädchen den innegehabten Platz wieder ein. Und er fuhr fort: „Es ist wohl am besten, ich erzähle Ihnen, was geschehen, dann werden Sie meine Fragen besser begreifen und auch leichter beantworten. Raffen Sie allen Mut zusammen und zeige Sie, dass Frauen stark sein können, was häufig angezweifelt wird, doch nehmen Sie noch vorher die Versicherung, dass ich, sowie meine Vorgesetzten und Kollegen den Herrn Professor für geisteskrank halten.“

Charlotte erschrak bis in die tiefsten Tiefen ihres Herzens: der Onkel geisteskrank? — Wie entsetzlich! Und doch so überraschend kam das nicht, hatte sie nicht selbst an seinem Verstand gezweifelt, wenn sie ihn in lebhaftem Gespräch vor dem Bilde antraf?

Sie wollte etwas sagen, doch der Kommissar fuhr fort: „Ich teile Ihnen diese, vorläufig persönlichen Ansichten mit, damit Sie das Schwerste leichter ertragen; also kurz, Ihr Onkel, der allgemein beliebte Künstler, hat sich heute vormittag der Staatsanwaltschaft gestellt als der Mörder der Frau von Scholz.“

Charlotte starrte den Kommissar an, als rede er hindostanisch oder malayisch.

Es war ja nicht möglich, was er sagte, es konnte, es durfte nicht möglich sein! Unsinn! Der Mensch da vor ihr war ein Verrückter, oder er erlaubte sich einen hässlichen, schlechten Scherz mit ihr.

Der Kommissar erriet, was in ihr vorging. „Sie können meinen Worten unbedingten Glauben schenken, mit solchen Dingen treibt man keinen Scherz.“

Die junge Dame griff sich mit beiden Händen an den Kopf, um sich zu überzeugen, dass kein wüster Traum sie äffe, sie setzte zum Sprechen an, doch nur ein erstickter Laut kam von ihren bleichen Lippen.

„Fassen Sie sich und beantworten Sie, so gut Sie es vermögen, meine Fragen, denn Sie werden viel dazu beitragen können, uns eine Erklärung für die fixe Idee Ihres Onkels zu geben. Denn nur für eine fixe Idee halte ich diese Selbstbezichtigung.“ Er betonte den letzten Satz.

Charlotte nickte, ihre Ruhe kehrte langsam zurück. Nun wusste sie doch endlich, woran sie war, nun verstand sie das Benehmen der geheimrätlichen Damen, sowie des Mädchens. Irgend ein Nachmittagsblatt würde die neueste Sensationsaffäre schon kolportiert haben.

Jetzt galt es, den Kopf klar zu behalten, um den kommenden Tagen entgegenzusehen, Anfeindungen und Kränkungen würden ihr kaum erspart bleiben.

Noch einmal, doch nun eingehender, berichtete sie dem Kommissar über das merkwürdig verstörte, zuweilen geistesabwesende Gebaren des Onkels.

Der Beamte hörte zu und warf nur ab und zu ein Wort ein, das ausdrückte, er fände durch die Erzählung des jungen Mädchens nur seine Vermutungen bestätigt.

Nachdem Charlotte geendet, fragte er: „Entsinnen Sie sich noch jenes Abends, da Ihr Onkel zum letztenmal Frau von Scholz besuchte, und wissen Sie noch, wann er damals heimkehrte?“

„Ja, ganz genau, denn am nächsten Tage hörten wir das Entsetzliche, und der Onkel redete noch oft von diesem letzten Besuch. Es mochte knapp ein halb zehn Uhr sein, als er nach Hause kam.“

„Fiel Ihnen nach seiner Rückkunft etwas an ihm auf,“ fragte er weiter.

„Nicht das geringste. Er übermittelte mir einen Gruss von Frau von Scholz, wie gewöhnlich.“

„Und wie war er am folgenden Tag, als er von dem Mord vernahm?“

„Furchtbar aufgeregt, er weinte sogar, das traurige Ende der guten alten Dame erschütterte ihn sehr,“ entgegnete sie.

„Hatte Ihr Onkel intime Bekannte?“

„Nein!“

„Und er ging nicht viel fort?“

„Nein, nur, wie ich bereits sagte, manchmal des Abends, wohin weiss ich nicht, doch fiel mir auf, dass er nach solchen Ausgängen stets doppelt sonderbar war. Er ging danach umher wie ein Träumender,“ sagte Charlotte.

„Nun noch eins: Kennen Sie irgendeine Person, die von Ihrem Onkel stark finanziell unterstützt wird?“ Gespannt hingen die Blicke des Beamten an dem Munde des jungen Mädchens.

Charlotte zuckte die Achseln: „Nicht, dass ich wüsste.“

„Hm. Na, da will ich Sie vorläufig nicht länger belästigen,“ er erhob sich, „doch möchte ich Sie bitten, mir einen Blick in die Gemächer des Herrn Professors zu gestatten.“

Wortlos, nur mit einem Neigen des Kopfes ihre Einwilligung gebend, ging Charlotte voran und geleitete den Kommissar in das Wohnzimmer des Onkels.

Der Beamte sah sich ein wenig um und versiegelte dann den Schreibtisch. „Verzeihen Sie gütigst,“ wandte er sich höflich zu Charlotte, „aber ich tue nur meine Pflicht, ich komme morgen mit noch einem Herrn, um die Briefe und Papiere Ihres Herrn Onkels durchzusehen. Jedoch gebe ich Ihnen die Versicherung, dass wir unsere Pflicht so diskret und rücksichtsvoll wie nur möglich üben werden. Denn ich wiederhole Ihnen nochmals, mein gnädiges Fräulein: Niemand von der Polizei glaubt an die Selbstbeschuldigung des Professors Bürgel, sonst würden unsere amtlichen Obliegenheiten in diesem Hause energischer und strenger einsetzen und ich nicht erst sozusagen als Vorreiter geschickt worden sein. Möge Ihnen dies als Beweis für meine Worte dienen und in dieser peinlichen Sache eine Beruhigung sein.“

Charlotte dankte dem Kommissar mit warmen, schlichten Worten für seine Rücksicht und geleitete ihn hinaus.

Unten auf dem Korridor verschwanden eben huschend zwei Gestalten in die Regionen der Küche. Die beiden Mädchen hatten wohl erwartet, Charlotte würde von dem Herrn, der wahrscheinlich „einer von der Polizei“ war, kettenbehangen oder mindestens mit Handschellen abgeführt werden.

Der Kommissar hatte der jungen Dame, ehe er ging, noch ein einseitig bedrucktes Blatt in die Hand gedrückt und dazu erklärend gesagt: „Dieses Schundextrablatt wurde heute gegen zwei Uhr in der ganzen Stadt ausgerufen, und ich erwartete eigentlich, Sie vorbereitet zu finden. Durch irgend eine Hintertür muss die Sache, Sie wissen ja, was ich meine, ihren Weg in die Druckerei gefunden haben. Natürlich ist’s ein entstellter Bericht.“

In ihrem Zimmer angekommen, faltete Charlotte das Blatt auseinander, und ihre Augen überflogen das Papier. Oben darüber stand mit dicken, grossen Lettern: Der Mörder der Frau von Scholz! und der weitere Inhalt erzählte kurz, dass der Mörder der alten Dame, von Gewissensbissen getrieben, sich endlich selbst dem Richter gestellt habe und zwar in der Person des berühmten Malers Professor Bürgel.

Charlottes so lange mühsam bewahrte Fassung brach zusammen, leise weinend sank sie auf das Ruhebett, und ihr Gesicht wühlte sich tief in die Kissen.

Ihre Gedanken flogen zu Ernst, der es nun wohl auch bald erfahren würde. — Armer, armer Ernst.

Die aus dem Hause Villalta

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