Читать книгу Schritte in der Nacht - Anny von Panhuys - Страница 5

2.

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Am nächsten Tage klangen kurz vor drei Uhr laute Hupensignale durch die stille Liliengasse. Die alte Komtesse Wergenheim sass am Fenster und sah das Auto vorfahren. Das musste sie zugeben: hochelegant sah es aus, und sie dachte, so ein vornehmes, teures Auto ist noch niemals durch die Liliengasse gefahren. Gleich darauf klingelte es, und Gisa machte dem Erwarteten auf. Lina war beim Abwaschen und hatte das Klingeln wieder einmal überhört.

Herbert Willmann verneigte sich.

„Gnädigste Komtesse, mein Wagen wartet. Ich hoffe Ihre Tante doch noch zu überreden. Was meinen Sie?“

Gisa erwiderte kurz: „Ich halte es für möglich, obwohl es mir unfassbar ist.“

Er lächelte. „Mir gelingt alles, was ich will. Nehmen Sie sich in acht vor mir, schönste Komtesse, denn ich will Sie.“

Zorniges Rot bedeckte ihre Wangen.

„Ich glaube, Sie vergessen, mit wem Sie sprechen, Herr Willmann.“

Er lächelte ruhig weiter. „Bewahre, wie könnte ich das? Ich hoffe zuversichtlich, ich spreche mit einer jungen Dame, die nicht nein sagt, wenn ich sie bitte, meine Gattin zu werden, weil sie mir besser gefällt als alle jungen Mädchen, die ich bisher kannte. Und da ich zweiunddreissig bin, ist’s bald Zeit für mich, zu heiraten.“

„Sie sind unverschämt!“ warf sie ihm empört entgegen.

„Verzeihung, Komtesse, ich bin nur aufrichtig“, gab er zurück. Er blickte sie fast übermütig an. „Was wollen Sie, Komtesse, es gibt doch nun mal Männer und Frauen in der Welt, und die finden sich zu legitimen und illegitimen Pärchen zusammen. Wären Sie das Dienstmädchen der Komtesse Wergenheim gewesen, wie ich annahm, hätte ich versucht, Sie ohne Priestersegen zu küssen: da Sie aber selbst eine Komtesse Wergenheim sind, finde ich, Sie passen ausgezeichnet zur Herrin von Schloss Wernersruhe.“

Gisa war wie erstarrt. War das, was dieser Mann, den sie kaum kannte, zu ihr sagte, nun eigentlich der Gipfelpunkt der Dreistigkeit oder war es nur Selbstbewusstsein? Und war seine Art die der modernen Männer von heute, die draussen in der grossen Welt lebten, und die sie nicht kannte? Die Herren, die hier ins Haus kamen, waren ohne Ausnahme ältlich oder alt; ihre Liebenswürdigkeit gegen Damen hatte etwas Altfränkisches, Verstaubtes.

Sie gab darauf keine Antwort, sagte nur kühl: „Tante hat Sie vorfahren sehen und wird sich wundern, dass es so lange dauert, bis Sie bei ihr eintreten.“

Er lächelte nur; aber sein Blick hing bewundernd an ihrem feinen, rassigen Gesicht mit den übergrossen Braunaugen und dem leuchtenden seltenen Goldhaar, das in einem Knoten im Nacken aufgesteckt war.

Zu gern hätte sich Gisa längst das Haar kurz schneiden lassen; aber die Tante war ärgerlich geworden, als sie den Wunsch geäussert.

„Ueberlass so verrückte Moden den Neureichen und den Filmdamen oder den dummen Weibsleuten, die nicht wissen, dass der Frauen schönster Schmuck ihr Haar ist“, hatte sie gesagt.

Herbert Willmann folgte ihr über den Flur und flüsterte: „Weshalb tragen Sie keinen Pagenkopf? Die Frisur müsste Sie wundervoll kleiden, Komtesse.“

Sie antwortete ärgerlich: „Ich will ja niemandem gefallen, am allerwenigsten Ihnen.“

Er lachte wieder und zeigte zwei Reihen prachtvoller Zähne.

„Das schillernde Schlänglein hat einen Giftzahn. Soll ich versuchen, ihn auszuziehen?“

„Noch ein Wort“, empörte sie sich, „noch ein einziges Wort dieser Art, und ich erzähle meiner Tante, wie sehr Sie mich belästigen.“

Er biss sich auf die Lippen; dann blickte er sehr ernst.

„Verzeihung, Komtesse“, bat er, „ich habe mit diesem Ton bisher bei den Frauen am meisten Glück gehabt, und bei Ihnen möchte ich Glück haben.“ Seine Stimme hatte mit einem Male den wundervollen zärtlichen Klang, der Gisa gestern nachmittag schon aufgefallen war.

„Ich sagte vorhin, bei anderen Frauen habe ich mit dem Ton Glück gehabt“, betonte er, „aber Sie sind eben nicht wie andere Frauen. Sie sind eine Besondere, eine ganz Besondere!“

Gisa öffnete die Salontür, und er musste schweigen; denn am Fenster sass die alte Dame und blickte ihm freundlich entgegen.

„Ihr Wagen ist herrlich“, lobte sie mit ihrer matten, zerbrochenen Stimme. „Wenn ich so jung wäre wie meine Gisa, würde ich bestimmt einmal eine Probefahrt mit Ihnen machen, aber in meinen Jahren ist man ängstlich.“

Herbert Willmann küsste die Hand des Gnomenweibleins.

„Sie sollten es doch versuchen, Frau Gräfin. Sie werden in den Autokissen wie auf einem weichen Sofa sitzen, und das Fahren wird Ihnen vorkommen, als wenn Sie sanft vorwärtsglitten.“

Die alte Dame überlegte. Sie dachte an den Buchenwald, den sie schon so lange nicht mehr gesehen, weil ihre Füsse sie nicht mehr so weit trugen, und sie sich vor den groben Stössen in einer Droschke fürchtete. Sie erwiderte zögernd:

„Ich hätte so gern einmal wieder ein paar Schritte durch den Buchenwald gemacht. Seit beinahe zehn Jahren war ich nicht mehr da.“

Sie dachte dabei, wie seltsam es war, dass da einer vor ihr stand, dessen schlanke, vornehme Gestalt der ihres geliebten Toten glich. Das stimmte ihr ganzes Denken um.

Er wandte sich an Gisa.

„Bitte, Komtesse, sorgen Sie für die Ueberkleider Ihrer Frau Tante, und machen auch Sie sich fertig. Wir fahren in den Buchenwald.“

Gisa wollte scharf erwidern: Tante hat sich ja noch gar nicht entschieden, und ich fahre nicht mit! — Aber da traf ihr Blick den Blick der alten Dame, in dem es wie kindliche Erwartung leuchtete, und nun wagte sie keine Auflehnung und ging, um zu holen, was er angeordnet.

Als sie ihr Zimmer betrat, um den dünnen Staubmantel überzuwerfen, blieb sie flüchtig mitten im Raume stehen und drückte die Hand auf das laut pochende Herz. Was für ein eigentümliches Gefühl war das nur, das sie beherrschte und ihr das Atmen schwer machte? Sie dachte an Herbert Willmann, und der zärtliche Klang seiner Stimme lag ihr im Ohr. Aufreizend und betörend. Sie lachte sich im Spiegel an: Dumme Gisa, was geht dich der Automobilfabrikant Herbert Willmann an? Er wird, trotzdem er es wünscht, bei dir kein Glück haben!

Zehn Minuten später lehnte die alte Komtesse in den weichen Polstern des Autos und neben ihr Gisa. Vor ihnen auf dem Führersitz sass der elegante Herbert Willmann, und der Wagen fuhr sanft wie auf teppichbelegten Wegen durch die Liliengasse.

Das Auto war offen, und die warme Frühlingssonne tat dem Gnomenweibchen gut. Sie hielt sich an Gisa fest, lag halb in ihrem Arm, seufzte wohlig: „Weisst du, Kind, das ist wie eine Himmelfahrt, wie wenn man schwebt, nicht wahr? O, ich freue mich so sehr auf den Buchenwald!“

War es die Freude, den geliebten Buchenwald wiederzusehen, oder hatte das Neue sie so aufgeregt? Am nächsten Tage musste Franziska Wergenheim im Bett bleiben, und der Arzt sagte draussen auf dem Flur zu Gisa:

„Die alte Dame ist müde; das Herz mag nicht mehr mitmachen! Gehen Sie so vorsichtig mit ihr um wie mit einem kostbaren zerbrechlichen Gegenstand.“

Gisa sah ihn mit bang fragenden Augen an; zu sprechen vermochte sie nicht.

Der alte Hausarzt lächelte ernst: „Sie hat das biblische Alter weit überschritten, und der müde Körper sucht Ruhe.“

Er ging, liess Gisa in Verzweiflung zurück. Lina hatte dem Arzt die Worte von den Lippen abgelesen. Sie fuhr sich mit beiden Händen nach dem grauhaarigen Kopf.

„Wenn die alte Gnädige stirbt, ist nur der verdammte neumodische Wagen daran schuld! Was brauchte sich die alte Gnädige noch in so ’nen Deifelskarren zu setzen! Sowas rächt sich.“

Es klingelte. Herbert Willmann stand vor der Tür; er trug einen Strauss rosa Nelken.

„Sie sind an dem Unheil schuld mit Ihrem Deifelskarren“, fuhr Lina auf ihn los.

Er blickte sie verdutzt an; sein fragender Blick glitt zu Gisa, die erklärte:

„Meine Tante ist erkrankt. Der Arzt meint, ihr Herz mag nicht mehr mitmachen, und unsere treue Lina schiebt nun die Schuld auf die Autofahrt. Doch verzeihen Sie, ich muss sofort zur Tante.“

Er reichte ihr den Strauss.

„Bitte, nehmen Sie der Kranken die Blumen mit und meine aufrichtigsten Wünsche, sie möge sich recht bald erholen.“

Gisa nickte und eilte mit den Nelken in das Schlafzimmer der alten Dame. Als Komtesse Franziska die Nelken in Gisas Händen sah, glitt ein heller Schein über ihre verfallenen Züge.

„Sind die Blumen von ihm?“ fragte sie, und Gisa erschrak vor dem eigentümlich fremden Blick der Urgrosstante.

„Die Blumen sind von Herrn Willmann, liebe Tante. Er hat sie für dich gebracht und wünscht dir baldige Besserung.“

Franziska Wergenheims Blick schien nach innen zu gehen.

„Gib mir die Blumen, und sage die Wahrheit. Ich kenne keinen Herrn Willmann; er nannte sich hier nur so, weil niemand wissen soll, er ist mein lieber, alter Schatz, des Herzogs Adjutant. Es ist ja gar nicht wahr, dass er damals starb, es war eine Lüge, sonst hätte er doch nicht wiederkommen können, nicht wahr?“

Ihre umherzuckenden Hände langten nach den Nelken, umkrampften und küssten sie.

„Das ist mein Hochzeitsstrauss. Mit dem fahre ich neben ihm in die Kirche — in seinem neuen Wagen ohne Pferde. Es fährt sich so weich und schön darin.“ Sie flüsterte: „Er soll hereinkommen, ich will’s ihm sagen; ich liebe ihn.“

Gisa war vor Schreck und Angst ganz betäubt; die Tante redete irre; sie verwechselte Herbert Willmann mit jemand, den sie einmal geliebt haben musste, und der gestorben war.

Sie lief zur Tür. Lina sollte gleich nochmals den Arzt rufen.

Lina aber stand draussen auf dem Flur noch immer vor dem Besucher und schalt, er trage die Schuld an der Erkrankung ihrer Herrin.

Gisa winkte: „Lina, der Doktor soll sofort wieder herkommen!“

Ueber ihr Gesicht liefen Tränen. Sie sah Herbert Willmann an.

„Tante redet irre, sie küsst Ihre Nelken und sagt, Sie sollten zu ihr hineinkommen.“

Schon stand der schlanke, grosse Mann an ihrer Seite.

„Verfügen Sie über mich, Komtesse.“

Er betrat mit ihr das altmodische Schlafzimmer, und das winzige alte Menschenkind in den weissen Kissen löste leichtes Unbehagen in ihm aus.

Franziska Wergenheim öffnete mühsam die halbgeschlossenen Augen, und abgerissen zwängte sie hervor:

„Wie gut, dass du gekommen bist, Louis! Jetzt können wir gleich in die Kirche fahren. Wir dürfen uns nicht verspäten, damit der Herzog und die Herzogin nicht zu warten brauchen, sie sind doch unsere Trauzeugen.“ Sie streckte die Rechte aus. „Gib mir deine Hand, Louis!“

Gisa bat: „Nehmen Sie ihre Hand, bitte!“

Er fasste mit seiner nervigen Rechten die dünnen Finger, die sich entsetzlich haltlos in die Männerhand schoben, und sagte mit dem betörend-zärtlichen Klang, der Gisa so beunruhigte: „Wir fahren jetzt in die Kirche. Dort traut man uns, und wir werden sehr, sehr glücklich sein.“

Aber er sah, während er das sagte, unausgesetzt Gisa an.

In diesem Augenblick kam aus dem Mund der alten Komtesse ein Gurgeln und Röcheln, die Blumen rollten von der Decke auf den Fussboden, und dann trat beklemmende, dumpfe Stille ein.

Gisa sah die starren Augen, das wächserne, winzige Altfrauengesicht und schrie laut auf, taumelte und fiel halb bewusstlos in die Arme des Mannes, der eben erst seine Hand aus der Hand einer Toten gelöst.

Es durchzuckte Herbert Willmann, den Augenblick auszunützen und den Mund der schönen Gisa zu küssen; doch seine Klugheit hielt ihn davon zurück. Er wagte nur, ihr leicht über das Haar zu streichen und zu flüstern:

„Armes Komtesschen! Liebes, armes Komtesschen!“

Langsam machte sie sich aus seinen Armen frei, blickte ihn bestürzt an und barg das Gesicht in den Händen. Ihr wurde erst jetzt klar, sie hatte in Herbert Willmanns Armen gelegen.

Er sagte weich und zärtlich: „Der alten Dame ist wohl. Sie war müde; ihr Lebensweg war lang.“

Gisa machte ein paar Schritte vorwärts, und ihre Hände sanken herab. Vor dem Lager der Toten brach sie in die Knie.

Herbert Willmann nahm die Nelken vom Bettvorleger auf und schob sie der alten Komtesse zwischen die nahe beieinanderliegenden Hände.

Gisa beobachtete seine Bewegungen und sah, wie er der Toten den letzten Liebesdienst erwies und ihr die Augen zudrückte.

Da brach sie zusammen, wusste nicht mehr, was um sie her vorging.

Sie hörte nicht mehr das Eintreten des Arztes, wusste nicht, dass sie von den starken Armen Herbert Willmanns in ihr Zimmer getragen wurde.

Als sie aus ihrer Ohnmacht erwachte, sass Lina an ihrem Bett, und der alte Hausarzt lächelte ihr ernst entgegen:

„Gott sei Dank, dass Sie endlich wieder zu sich kommen, Komtesse! Die Ohnmacht hat beängstigend lange gedauert.“

In Gisa meldete sich die Erinnerung. Sie fragte bebend:

„Ist es wahr, dass Tante tot ist? Oder habe ich das nur geträumt?“

Linas grauhaariger Kopf zuckte, bedrängt von der Frage, nervös hin und her; aber der Arzt erwiderte leise:

„Sie dürfen sich nicht wieder so stark aufregen, Komtesse, ich bitte Sie. Ja, Ihre Tante ist tot, aber sie muss einen wundervoll leichten und schnellen Tod gehabt haben, einen beneidenswerten Tod. Um ihren Mund hat sich ein Lächeln verfangen, das von einem glückseligen Sterben zeugt.“

Gisa erinnerte sich daran; die alte Frau hatte die Schwelle des Lebens mit der Illusion überschritten, dass sie mit dem Mann, den sie einmal in ferner Jugendzeit geliebt, in die Kirche ginge — zum Traualtar, wo die Trauzeugen, der Herzog und die Herzogin, auf sie warteten.

Und Herbert Willmann verdankte sie die Illusion!

Herbert Willmann! Hatte sie selbst nicht minutenlang an seiner Brust geruht? Hatte er nicht sanft über ihr Haar gestrichen und betörend zärtlich geflüstert: Armes Komtesschen! Liebes, armes Komtesschen“

Sie drückte den Kopf tief in die Kissen.

Der alte Hausarzt riet:

„Ruhen Sie nur aus, Komtesse, und stehen Sie noch nicht gleich auf. Was jetzt notwendig ist, wird auch ohne Ihr Zutun geschehen. Herr Willmann hat sich bereiterklärt, alles zu ordnen.“

Gisa horchte auf. Sie sagte hastig:

„Herr Willmann ist uns doch ein ganz Fremder. Tante kannte ihn ja kaum, und ich weiss auch nicht viel von ihm.“

Lina erwachte aus dumpfem Vorsichhingrübeln.

„Das ist es ja gerade, man kennt so einen Menschen gar nicht, und er kommt so mir nichts, dir nichts mit seinem Deifelskarren und mordet die alte Gnädige.“

Der Arzt klopfte sie auf die Schulter.

„So dürfen Sie nicht reden, Lina. Von der Autofahrt ist die Komtesse nicht gestorben. Sie war zweiundneunzig Jahre alt, und ihre Zeit war um.“

„Ohne den Deifelskarren wäre die alte Gnädige hundert Jahre geworden!“ ereiferte sich Lina. „Ich will von dem Menschen, dem reichen Kerl, der das Schloss gekauft hat und jetzt das Kloster verschandeln will, nix wissen, partu gar nix, und wenn Sie auf mich hören, Komtesschen, lassen Sie ihn hier nicht mehr rein, er hat Unglück ins Haus gebracht.“

Der Doktor schüttelte den Kopf. „Sie sind unvernünftig, Lina.“

Gisa aber war, als höre sie eine zärtliche Männerstimme sagen: Armes Komtesschen! Liebes, armes Komtesschen!

Schritte in der Nacht

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